Nadja Mosimann
Pascal Zwicky

Kommentar

Die Zukunft gerecht und nachhaltig gestalten
28.06.2023 | Es sind bewegte und unübersichtliche Zeiten, die wir gegenwärtig erleben. Weltweit finden vielfältige Auseinandersetzungen um einen weitreichenden gesellschaftlichen Wandel statt. Die eidgenössischen Wahlen im Herbst entscheiden mit darüber, wie wir diesen Wandel künftig hierzulande gestalten. Sicher ist: Die bisherige „Normalität“ der bürgerlichen Wohlstandsinsel Schweiz ist kein zukunftsfähiges Modell.
Wo anfangen bei all den Herausforderungen, die sich vor uns auftürmen? Vielleicht beim globalen Megathema. Über allem thront die – mit allem verbundene – Klimakrise. Die Weltgemeinschaft ist sich heute darüber im Klaren, dass die Klimaerwärmung die existenzielle Krise für die Menschheit und anderes Leben auf dem Planeten darstellt. Es wird durchaus politisch darauf reagiert: mit Regulierungen und Investitionen im grossen Stil. Und doch passiert viel zu wenig und viel zu oft das Falsche. Es ist immer unrealistischer, dass die Ziele des Pariser Klimaabkommens und insbesondere das Ziel, die Erderwärmung auf 1.5 Grad zu begrenzen, erreicht werden können. Daran ändern leider auch gute Nachrichten wie das deutliche Ja zum Klimaschutzgesetz am 18. Juni nichts.
Ein sich erhitzender Planet befördert, so muss befürchtet werden, geopolitische Kriege, wachsende Ungleichheiten und unsägliches Leid. Diese düsteren Aussichten lassen Teile der Klimabewegung, etwa die „letzte Generation“, radikaler werden. Gleichzeitig kriminalisiert der Rechtsstaat Klimaaktivismus zunehmend und setzt, so in Deutschland oder Italien, teils massive Repression ein. Während grosse Klimaverschmutzer:innen, allen voran globale Konzerne und Superreiche, bislang weitgehend unbehelligt mit der Zerstörung des Planeten weitermachen können, wird ziviler Ungehorsam sanktioniert und das Demonstrationsrecht eingeschränkt. Auch in der Schweiz wird der Ton gegenüber der Klimabewegung von Seiten der bürgerlichen Politik und der Medien schärfer.
Wie soll die Linke damit umgehen, dass der fortschreitende Klimawandel künftig wohl vermehrt radikalen Klimaaktivismus hervorbringt? Also Aktivismus, welcher der Sache zum einen dient, indem er Aufmerksamkeit generieren kann, und zum anderen schadet, indem er öffentliche Unterstützung mindern kann? Bestehende Forschung deutet darauf hin, dass der Einsatz von taktischer Vielfalt der Klimabewegung Erfolge bescheren kann und deren Unterstützung für die Linke nicht nur ideologisch, sondern auch wahlstrategisch sinnvoll ist.
Eine Literaturübersicht von Sam Glover und James Ozden für das britische Social Change Lab hält beispielsweise fest, dass eine gewaltfreie radikale Flanke die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass eine soziale Bewegung wie die Klimabewegung:insgesamt politische Erfolge erzielt. Und Dylan Bugden findet in einem Experiment, dass selbst radikaler Klimaaktivismus die Unterstützung für die Klimabewegung unter denjenigen, die bereits mit der Sache sympathisieren, nicht mindert. Gleichzeitig beobachtet er auch den befürchteten „Backfire“-Effekt nicht: Weder moderate noch radikale Protestformen verstärken die ablehnende Haltung gegenüber der Klimabewegung in der Wählerschaft der Rechten (Budgen forscht in den USA).
Für die institutionelle Linke ist und bleibt es auch deshalb wichtig, das Ziel des sozialen und ökologischen Umbaus der Gesellschaft solidarisch mit der Klimabewegung zu verfolgen. Linke Klimapolitik bewegt sich dabei permanent in einem Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite das Bewusstsein, dass der notwendige Wandel nur gegen die Profitlogik möglich und deshalb als eine im Kern antikapitalistische (Klima-)Politik zu konzipieren und voranzutreiben ist. Auf der anderen Seite das Wissen darum, dass es heute und nicht morgen konkrete Massnahmen braucht, dass die Zeit drängt und jedes Zehntelgrad weniger Klimaerwärmung zählt.

Mehr Service public und Gemeingüter

Knapp 15 Jahre nach der globalen Finanzkrise von 2008 musste die CS in einer Notfallübung «gerettet» werden, weil sie sonst, so die Befürchtung, das globale Finanzsystem in den Abgrund hätte reissen können. Der Bundesrat, unter dem Lead von Karin Keller-Sutter, ermöglicht der UBS einen Jahrhundertdeal inkl. grosszügiger staatlicher Garantien. Too-big-to-fail – auch 15 Jahre später ist das Problem nicht gelöst. Und jetzt haben wir eine Bank, die noch „bigger“ ist… Immerhin soll nun eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) Licht ins undemokratische Dunkel bringen. Zu hoffen ist, dass die die PUK ihren Blick nicht primär auf „gierige Banker:innen“ und die vielzitierte „Unternehmenskultur“ richtet. Die Probleme des Schweizer Finanzplatzes sind systemischer, struktureller Natur. Da gilt es anzusetzen.
Apropos: Die profitgetriebene Inflation frisst den Leuten bis weit in den Mittelstand das Geld weg. Gesundheits-, Wohn- und Energiekosten steigen: Überall dort, wo das Profitdenken dominiert, kommt die breite Bevölkerung unter die Räder. Die Schweiz würde die Alternativen dazu gut kennen: Sie heissen Service public und Gemeingüter. Ihnen liegt eine demokratische Logik zugrunde und sie ermöglichen ein gutes Leben für alle. Es ist eine Kernaufgabe einer zukunftsfähigen linken Politik, diese Logik inner- und ausserhalb des Parlaments zu verteidigen (etwa im Kampf gegen die medienpolitische Halbierungs- resp. „No Billag 2“-Initiative), zu stärken und auf weitere Bereiche auszuweiten: vom Wohnen über die Kinder- und Altenbetreuung bis hin zu systemrelevanten Finanzdienstleistungen und zur Pharmaindustrie.

Die Rolle der Schweiz in der Welt

In der Ukraine wird ein ebenso grausamer wie sinnloser Krieg geführt (und vergessen wir die kriegerischen Auseinandersetzungen in Darfur, Jemen, Syrien und anderswo nicht). In der Schweiz hat der Krieg eine überfälligen Debatte um den Neutralitätsbegriff ausgelöst. Die Schweiz tut sich aber nach wie vor schwer damit, solidarisch zu sein und Verantwortung wahrzunehmen. So trägt sie international beschlossene Sanktionen gegen Russland nur halbherzig mit. Und für die reaktionären Kräfte rund um die SVP ist halbherzig bereits zu viel: Alles was den Profiten von Konzernen schaden könnte, wird bekämpft. Ein ähnliches Muster zeigt sich auch in Bezug auf das Verhältnis zu anderen autoritären Regimen, beispielsweise dem chinesischen. Die Auseinandersetzungen um die Rolle der Schweiz in der Welt laufen auf Hochtouren – und das Parlament ist hier ein wichtiger Schauplatz.
Die Beziehungen der Schweiz zu Europa sind nach wie vor ungeklärt. Ein EU-Beitritt der Schweiz, der demokratische Mitsprache ermöglichen würde, scheint momentan keine realistische Option zu sein. Kurz- resp. mittelfristig braucht es ein Rahmenabkommen, das für stabile Verhältnisse sorgt. Eine starke Linke im Parlament muss sich für eine proeuropäische Lösung einsetzen, die gleichzeitig die Löhne und den Service public der Schweiz schützt.
Die wesentlichen heutigen Herausforderungen sind supranationale, oftmals globale Herausforderungen. Die EU ist derjenige regionale Akteur, der sich diesen Herausforderungen stellt und sie im Rahmen einer Global Governance bearbeitet. Was dabei rauskommt, ist aus linker Sicht manchmal besser (z.B. bei der Regulierung von Tech-Konzernen), manchmal schlechter (z.B. im Bereich der Migrationspolitik). Unbestritten ist die Politik der EU aber gerade auch für die Schweiz relevant. Sie tut deshalb auch im eigenen Interesse gut daran, sich aktiv und als verlässliche sowie solidarische Partnerin auf europäischer Ebene einzubringen.

SVP: Eine Gefahr für die Demokratie

Die Schweiz hat sich an die rechtspopulistische SVP und ihre reaktionären Ausfälligkeiten gewöhnt. Irgendwie gehört sie zum Inventar, fast schon wie Willhelm Tell, obwohl sie europaweit sowohl wirtschafts- als auch gesellschaftspolitisch am weitesten rechts aussen positioniert ist. Gerade zeigt sich in den medialen Reaktionen auf den Erfolg der deutschen AfD wieder, wie stark die extremen Positionen der SVP in der Schweiz in den letzten 30 Jahren normalisiert wurden: Letztere wird von Expert:innen nämlich konsequent als rechter und reaktionärer eingestuft als erstere.
Nun versucht die wählerstärkste Partei der Schweiz in diesem Wahlzyklus zunehmend, die sich entwickelnden Geschlechternormen zu skandalisieren, mit Nationalrat Andreas Glarner als skrupellosem Brandstifter. Bald-Ex-Nationalrat Roger Köppel gibt den zündelnden Putinversteher, die Junge SVP geht auf Kuschelkurs mit den Neonazis der Jungen Tat und im Hintergrund versucht der milliardenschwere Patron Christoph Blocher noch immer die Fäden zu ziehen. Die SVP legt dem Rechtsextremismus den roten Teppich aus und macht ihn bis weit in die bürgerliche Mitte salonfähig. Wie ihre Schwesterparteien anderswo auf der Welt, ist die SVP eine Gefahr für die liberale Demokratie.
Die Corona-Pandemie ist zwar vorbei, ihre gesellschaftlichen Folgen sind aber noch nicht verarbeitet. Mit seinen notwendigen und erfolgreichen Interventionen während der Pandemie hat sich der Staat nicht nur Freunde gemacht. Er hat auch Gruppierungen wie die «Reichsbürger» in Deutschland oder die «Staatsverweigerer» in der Schweiz gestärkt (auch in den USA, Brasilien und anderswo gibt es bekannterweise solche Gruppen). Es sind Ansammlungen von Menschen, die sich maximal von der demokratischen Politik und dem Staat entfremdet und abgewendet haben. Menschen, die sich politisch nicht vertreten fühlen und die staatliche Regeln nicht anerkennen. Mit diesen Menschen scheint ein demokratisches Gemeinwesen kaum mehr möglich. Die Linke muss hier nicht nur klar Kante zeigen, sondern sich auch überlegen, wie die öffentliche Meinung in post-faktischen Zeiten geprägt von Emotionen und Geschichten gewonnen und politische Ziele erreicht werden können.

Ambivalente Entwicklungen

Diverse Entwicklungen sind auch als ambivalent zu beurteilen. In der Schweiz steht die postmigrantische Bewegung selbstbewusst wie nie für ihre Rechte und ein adäquates Schweiz-Bild ein, zudem ist die Volksinitiative der Aktion Vierviertel erfolgreich lanciert worden. Queere Menschen nehmen sich ihren Platz im öffentlichen Raum und drängen ins öffentliche Bewusstsein. Die Schweiz lernt, mit ihrer Vielfalt umzugehen. Das alles läuft – wenig überraschend, aber trotzdem bedauerlicherweise – keineswegs konfliktfrei ab. Privilegierte scheinen in der pluralen Schweiz ihren Status bedroht zu sehen. Und auch weniger Privilegierte, denen selbst immer weniger zum Leben bleibt, treten oftmals lieber nach unten statt nach oben. Noch problematischer wird das alles, wenn diese Auseinandersetzungen in rassistische, sexistische und queer-feindliche Gewalt umschlagen. Und wenn die politische Rechte sich auf «Woke-Wahnsinn» und «Gender-Gaga» einschiesst, um damit ganz gezielt die Bevölkerung zu spalten, den ungerechten sozioökonomischen Status quo zu schützen und vor allem die eigene Basis zu mobilisieren, dann ist es Aufgabe der Linken, dezidiert progressiv, inklusiv und redistributiv zu bleiben. Die immer wieder ertönenden Sirenengesänge einer links-nationalistischen Ausrichtung, sollten in der Linken auch künftig ungehört verhallen, weil ihre potentiellen Wähler:innen aus allen Schichten und Kohorten ein solches Programm schlicht nicht goutieren würden.
Die feministische Bewegung hat mit den Frauenstreiks von 2019 und 2023 äusserst starke Zeichen gesetzt. Seither spricht das Land anders über Gleichberechtigung, gewisse politische Erfolge konnten gefeiert werden und der reaktionären Rechten ist es nicht gelungen, Initiativen zur Unterminierung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch zum Fliegen zu bringen. Die Leute sind sich – auch durch die Erfahrungen während der Pandemie – der Bedeutung der Care-Arbeit bewusst(er) geworden. Aber auch hier gibt es Rückschläge und das Patriarchat verschwindet nicht widerstandslos.
Auch die (Lohn-)Arbeitswelt unterliegt vielfältigen Veränderungen. Immer mehr Personen, und nicht nur gering Qualifizierte, sind unmittelbar von einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse betroffen. Löhne, die nicht zum Leben reichen, sind auch in der reichen Schweiz verbreitet – gerade auch unter Alleinerziehenden. Deshalb sind die erfolgreichen kantonalen und städtischen Mindestlohninitiativen, die von den Bürgerlichen mit allen Mitteln bekämpft werden, und eine progressive Familienpolitik so wichtig. In Unternehmen werden heute partizipative Organisationsmodelle oder die 4-Tages-Woche ausprobiert, der Generation Z scheint die Karriere nicht mehr ganz so wichtig zu sein, Homeoffice kann Autonomie fördern und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben resp. Care-Arbeit verbessern. Aufgabe einer progressiven Politik ist es, diese Impulse „von unten“ aufzunehmen und – gerade auch auf parlamentarischem Weg – sicherzustellen, dass sie nicht, wie das in der Vergangenheit so oft der Fall war, im Interesse der Kapitalverwertung umgeformt werden.

Nur gemeinsam sind wir stark

Wie die oben aufgeführten Beispiele – und es gäbe noch viel mehr –, deutlich machen, findet die Parlamentswahl im Oktober vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden und krisenbehafteten gesellschaftlichen Wandels statt. Es ist ein vielschichtiger Wandel, der die Säulen dessen, was wir in der Schweiz (und generell im globalen Norden) jahrzehnte-, teils jahrhundertelang als normal erachtet haben, ins Wanken bringt. Wohin der Wandel führt, ist heute weitgehend offen. Faschismus und Krieg auf einem brennenden Planeten – das ist leider kein völlig abwegiges Szenario.
Nancy Fraser bezeichnet den Kapitalismus in ihrem neuesten Buch als kannibalisches System. Kapitalismus bedeutet nicht nur Ausbeutung von Lohnarbeit und Finanzmärkte. Quasi im Hintergrund kannibalisiert der Kapitalismus den ganzen Bereich der sehr oft von Frauen verrichteten Sorgearbeit. Er frisst und zerstört die natürlichen Grundlagen des Lebens auf dem Planeten. Er enteignet weltweit und im grossen Stil, auch mit Gewalt und gerade auch rassistisch motiviert. Und er untergräbt die Demokratien, indem er ihnen wesentliche Gestaltungsspielräume entzieht. Das nimmersatte Kapital trägt strukturell zur heutigen Polykrise bei, treibt sie an.
Linke Politik hat zum Ziel, diesen Zwang zur Profitmaximierung, der unsere Gesellschaften durchdringt, einzudämmen, ihn wenn immer möglich zu überwinden. Dafür gilt es, in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen konkrete Lösungen zu finden. Der Horizont einer zukunftsfähigen linken Politik bleibt zweifelsohne nicht auf eine antikapitalistische Programmatik beschränkt. Der gemeinsame Kampf für eine postkapitalistische, für eine demokratische, soziale, inklusive und nachhaltige Gesellschaft kann aber, das macht nicht nur Nancy Fraser deutlich, eine verbindende Klammer für rot-grüne Parteien und progressive soziale Bewegungen sein.
In der Schweiz funktionieren die Bündnisse von SP, Grünen und Gewerkschaften, aber auch mit der feministischen, der postmigrantischen Bewegung und der Klimabewegung vergleichsweise gut. Diese solidarischen und vertrauensvollen Kooperationen gilt es unbedingt am Leben zu halten und weiter zu vertiefen. Den Parteien kommt unserer Meinung nach dabei eine besondere Bedeutung und Verantwortung zu. Sie haben zumindest auf diejenigen Entscheidungen Einfluss, die im Rahmen der liberalen Demokratie tatsächlich gefällt werden können. Sie sind breit vernetzt und verfügen über Zugang zu den Medien. Sie sind Knotenpunkte der linken Bewegung der Schweiz – sie setzen die Agenda und nehmen gleichzeitig die Anregungen von Aktivist:innen und Partnernorganisationen auf.
Massive Verschiebungen sind bei den Wahlen im Herbst nicht zu erwarten. Für die Schweizer Linke und die zukünftige Entwicklung des Landes ist aber jeder einzelne rot-grüne Sitz im Parlament von Bedeutung. Weil alle der oben erwähnten Herausforderungen auch im Parlament behandelt werden. Und gleichzeitig auch, weil mit jedem rot-grünen Sitz mehr als nur die parlamentarische Arbeit gestärkt wird.
Jede rot-grüne Stimme am 22. Oktober bedeutet Hoffnung auf eine gerechte und nachhaltige Zukunft.
Autor:innen | Nadja Mosimann ist Geschäftsführerin des Denknetz und Pascal Zwicky ist wissenschaftlicher Sekretär des Denknetz.
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