Vania Alleva

Kommentar

«Verschlafen» können sich nur die Reichen leisten
29.09.2023 | Vor vier Jahren, im Oktober 2019, veröffentlichte ich in «work» einen Wahlaufruf. Nach dem historischen Frauenstreik vom 14. Juni 2019 und der eindrücklichen Klimademo in Bern mit 100‘000 Teilnehmenden lag ein Richtungswechsel in der Luft. Unsere Forderungen nach Respekt, mehr Lohn und mehr Zeit sowie nach einem ökosozialen Umbau der Gesellschaft, im Interesse der sozial Schwächeren und unserer natürlichen Lebensgrundlagen entsprachen ganz offensichtlich den Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten. Diese Bewegungen waren Zeichen für eine bessere Zukunft und ich gab meinem Stolz darüber Ausdruck, dass die Unia ein wichtiger Teil davon ist.
Die Botschaft dieser Massenbewegungen müsse endlich in den Institutionen ankommen, verlangte ich, «zuallererst in einem fortschrittlicheren Parlament». Die darauffolgenden Wahlen schienen diesen Anspruch zu bekräftigen: Die sozialen und ökologischen Kräfte im Parlament wurden eindeutig gestärkt, die SVP deutlich zurückgebunden. Umso enttäuschender fällt vier Jahre danach die Bilanz der letzten Legislaturperiode aus. Die «Klimawahl» war in Sachen ökosozialer Umbau ein Reinfall. Immerhin schliesst die Legislatur mit dem Versprechen auf Netto-0 bis 2050 gemäss Klimaschutzgesetz – dem müssen nun aber auch Taten folgen.
Generell bekleckerte sich dieses Parlament in Fragen sozialer Gerechtigkeit nicht mit Ruhm. Die bürgerliche Mehrheit trieb nicht nur die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre voran, es beerdigte auch einen zukunftsweisenden Sozialpartnerkompromiss für die berufliche Altersvorsorge und verabschiedete stattdessen eine völlig inakzeptable BVG-Abbauvorlage. Die Hauseigentümerlobby trieb Verschlechterungen beim Mieterschutz voran und die Krankenkassenlobby verhinderte eine sozialere Prämienverbilligung. Und selbst Corona-Schock und inzwischen schon 15‘000 unbesetzte Pflege-Stellen trugen nicht zu einer raschen Umsetzung der Pflege-Initiative, nach dem historischen Abstimmungssieg im Februar 2021, bei. Nur wenige Lichtblicke wie die Annahme der parlamentarischen Initiative «Armut ist kein Verbrechen» von Samira Marti, die Wegweisungen infolge Sozialhilfebezugs begrenzt, hellen das Bild auf. Insgesamt aber nimmt die soziale Ungleichheit in der Schweiz wieder zu – und das immer noch bürgerlich dominierte Parlament trägt dafür eine Mitverantwortung.
Diese schwache Bilanz hat auch mit der Covid-Krise zu tun, die das Parlament für zwei Jahre auf die Zuschauerbank versetzte. Die Parlamentarier:innen kommentierten, kritisierten und forderten – das wirtschaftliche und soziale Sicherheitsnetz, von der Kurzarbeitenschädigung bis hin zu Überbrückungskrediten, knüpften hingegen die Sozialpartner zusammen mit dem Bundesrat. Dann kam der verbrecherische Angriffskrieg gegen die Ukraine hinzu, bei dem sowohl die Exekutive als auch die Legislative eine schwache Figur machen: Während der Finanzplatz immer noch munter mit Oligarchengeldern geschäftet, existiert noch nicht einmal ein Unterstützungspaket für die dringende Wideraufbauhilfe an die Ukraine. Und schliesslich wurde das Parlament auch bei der Bewältigung des Credit-Suisse-Desasters aussen vorgelassen, während der Bundesrat einmal mehr mit Volksvermögen für die Fehler einer inkompetenten und verantwortungslosen Kaste von Finanzmanager:innen garantierte.
Mehr noch als dieses hilflose Krisenmanagement bremst eine fundamentale, antisoziale Voreingenommenheit die soziale Gestaltungskraft der Legislative. Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus haben kürzlich darauf hingewiesen, dass die in seinem offiziellen Selbstporträt aufgestellte Behauptung des Parlaments, es vertrete «die Interessen der Schweizer Bevölkerung», nicht den Tatsachen entspreche. Eine europaweite Studie belegt nämlich, dass Parlamentsbeschlüsse eher die Interessen reicher, wohlhabender Schichten in konkrete, für alle verbindlich geltende Gesetze übersetzen – und diese so den mittleren und den einkommensschwachen Bevölkerungsteilen «aufdrücken».
Dieser Forschungsbefund einer einseitigen Bevorteilung von Menschen mit vollem Portemonnaie ist überaus robust. Er zeigt sich in allen 30 berücksichtigten Ländern, über einen ausgedehnten Untersuchungszeitraum von fast 40 Jahren und unabhängig von den über 3000 analysierten Themen, von Steuerfragen über die Ehe für alle bis hin zu richtungsweisenden energiepolitischen Weichenstellungen wie dem Atomausstieg. Das gilt auch für die Schweiz. Vatter und Freiburghaus sprechen von einem eigentlichen «Reichenbonus». Als Ursache nennen sie, neben dem Einfluss der Wirtschaftsverbände, eine sich «verschätzende, weil privilegierte Elite»: gewählte Politiker:innen vermuten den Wählerwillen in Bezug auf Sachfragen auf der Links-Rechts-Achse systematisch zu weit rechts: Sie «irren sie sich um durchschnittlich 18 Prozentpunkte»!
Was heisst das nun im Hinblick auf die Wahlen 2023? Offensichtlich werden die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen auch in Zukunft eine wichtige, korrektive Rolle spielen müssen, um den konservativen Überschuss im Bundeshaus einzudämmen. Darüber hinaus empfehlen Vatter und Freiburghaus die bewusste Wahl von Vertreter:innen marginalisierter Gruppen. Sie nennen beispielswiese «Handwerkerinnen und Jüngere». Ich möchte dem hinzufügen: Menschen mit Migrationshintergrund, generell Arbeitnehmende und überhaupt Kandidat:innen, die eine Gesetzgebung im Interesse der sozial Schwächeren ganz oben auf ihre Agenda gesetzt haben.
Nur ein weniger elitäres und gleichzeitig diverseres Parlament, das die Sorgen und Nöte der Arbeitnehmenden kennt, wird in der kommenden Legislatur die Weichen für den nötigen sozialen Turnaround stellen. Und diesen braucht es dringend in verschiedenen zentralen Politikbereichen: Bei der Gleichstellung, der Altersvorsorge, den Krankenkassenprämien, dem Mieterschutz, der Umsetzung der Klimaziele, dem Arbeitsgesetz, der Erleichterung des Einbürgerungsverfahrens und nicht zuletzt auch in den Verhandlungen mit der EU-Kommission, bei denen es den Lohnschutz und Service Publique im Interesse der breiten Bevölkerungsschichten zu sichern gilt.
In diesem Sinn gilt am 22. Oktober 2023 mehr denn je: Verschlafen können wir uns schlicht nicht leisten.
Autorin | Vania Alleva ist Präsidentin der Unia.
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