Pascal Zwicky

Kommentar

Rechtsrutsch und fehlende Perspektiven
23.10.2023 | Das Resultat der eidgenössischen Wahlen ist zunächst durch eine für das schweizerische Politsystem typische relative Stabilität geprägt. Insgesamt rückt das Schweizer Parlament aber doch deutlich nach rechts. Innerhalb des rot-grünen Blocks konnte die SP zulegen, die Grünen haben erhebliche Verluste eingefahren. Eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive zeichnet sich leider nicht ab.
Wahlsiegerin ist die rechte Schweizerische Volkspartei (SVP). Die seit 1999 stärkste Partei konnte 2.3 Prozent Wähler:innenanteil zulegen (neu: 27.9 Prozent) und ist nun mit 62 der 200 Sitze im Nationalrat vertreten (plus 9 Sitze). Damit konnte sie einen Teil der Verluste der letzten Wahlen wieder gutmachen. Ebenfalls einen Erfolg verzeichnen kann die Sozialdemokratische Partei (SP). Sie kommt neu auf einen Wähler*innenanteil von 18.3 Prozent (plus 1.5 Prozent) und konnte damit im Nationalrat 2 Sitze hinzugewinnen (neu 41 Sitze). Am anderen Ende der Erfolgsskala stehen die Grünen, die mit neu 9.84 Prozent (minus 3.48 Prozent) 5 ihrer bislang 28 Sitze abgeben müssen und damit nach dem grossen Wahlerfolg vor vier Jahren wieder zurückgestuft wurden.
Innerhalb der bürgerlichen Mitte- und Mitte-Rechts-Parteien kam es zu kleineren Verschiebungen: Die Mitte hat leicht zugelegt (plus 0.3 Prozent), FDP (minus 0.8 Prozent) und Grünliberale (minus 0.2 Prozent, aber aufgrund von verlorenen Restmandaten mit 6 Sitzen weniger) haben verloren. Der Mitte dürfte im neu zusammengesetzten Parlament eine noch wichtigere Rolle als Mehrheitsbeschafferin zukommen. Die Frage ist, wie sich die Partei in den konkreten politischen Auseinandersetzungen positionieren wird.
Im Ständerat wird rund ein Drittel der 46 Sitze erst im zweiten Wahlgang vergeben. Es sieht auch in der kleinen Kammer, in der Mitte und FDP traditionell dominieren, nach einem – geringfügigen – Rechtsruck aus. Allerdings dürften die Sitzverluste auf der linken Seite (SP und Grüne) aufgrund von Überraschungserfolgen in einzelnen Kantonen (insbesondere im Kanton Neuenburg) tiefer ausfallen als vor den Wahlen prognostiziert.
Soweit die wichtigsten Resultate. Was steckt aber hinter diesen Veränderungen bei den Wähler:innenanteilen und Parlamentssitzen? Wie lässt sich das Wahlresultat interpretieren und was lässt es für die Zukunft erwarten? Ich versuche im Folgenden, die Wahl in den Kontext der gegenwärtigen Polykrise zu stellen und konzentriere mich dabei in erster Linie auf den Umgang mit der Klimathematik – und auf die SVP.

Klimawandel: der Elefant im Raum

Mit der Zuspitzung der Klimakrise wird absehbar, dass die Situation ausser Kontrolle gerät. Nicht erst in 50 Jahren, sondern vielleicht schon mit den nächsten Hitzesommern und Kippunkten, die schneller als erwartet erreicht werden. Trotzdem blieb der Klimawandel während des Wahlkampfs der Elefant im Raum. Natürlich kam keine Partei darum herum, sich auch klimapolitisch zu positionieren. Abgesehen von den Grünen taten es aber alle eher defensiv – oder abgrenzend: von den Klimakleber:innen oder gar von der allgemeinen «Klimahysterie». Von der Aufbruchstimmung, die rund um die Wahlen 2019 («Klimawahl») entfacht wurde und die zu erheblichen grünen Sitzgewinnen führte, war nichts zu spüren.
Bei der SP genoss das Thema Kaufkraft Priorität, Gleichstellung und Klimaschutz waren die beiden weiteren Schwerpunktthemen. Aufgrund steigender Mieten, Gesundheitskosten und Energiekosten war dieser Fokus auf die soziale Frage wahltaktisch wohl richtig. Die Forderung nach einer Stärkung der Kaufkraft ist aber eben auch eine Forderung aus der «fordistischen» Vergangenheit. Sie impliziert im Kern ein Festhalten an der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft und damit an einem ausser Rand und Band geratenen System. Eine progressive Vision, ein hoffnungsvolles und zumindest in Ansätzen plausibles Zukunftsprojekt auf der Höhe der Zeit ist es nicht.

Faschismus in der Schweiz?

In den letzten Jahren war viel vom besorgniserregenden weltweiten Aufstieg einer «Neuen Rechten», vom Erfolg des Rechtspopulismus die Rede. Folgt man Berthold Franke vom Goethe-Institut, führt dieser analytische Zugang aber zu kurz. In einem Artikel in den «Blättern für deutsche und internationale Politik» plädiert er stattdessen für einen neuen Faschismusbegriff, der auch die gegenwärtigen Bewegungen und Regime, politische Figuren wie Putin, Trump, Erdogan, Le Pen, Modi, Orbán, Meloni, Höcke und wie sie alle heissen, in den Blick bekommt.
Der Faschismus keimt dann auf, wenn der Status quo in der Krise ist und es, so wie heute, an überzeugenden alternativen Zukunftsentwürfen, an Zukunftshoffnung, fehlt. Er ist das «Angebot für die Abgehängten, Enttäuschten, Betrogenen, Frustrierten aller Klassen und Schichten», heisst es bei Franke. Nachgefragt wird dieses Angebot vor allem auch dann, wenn es von Parteien propagandistisch und emotional aufgeladen an die Leute gebracht wird. Spätestens an dieser Stelle kommt auch die SVP ins Spiel. Auf programmatisch-kommunikativer Ebene ist sie seit Jahren Vorreiterin und Vorbild für rechtspopulistische oder eben faschistische Kräfte: Sie machte auch im hinter uns liegenden Wahlkampf insbesondere Stimmung gegen Migrant:innen, aber auch gegen die «Klimadiktatur», Wokeness und die «politische Elite». Und sie geht immer wieder auf Schmusekurs mit autoritären Regimen. Das sind Kernelemente eines zeitgemässen faschistischen Programms. Die SVP verspricht den Schutz einer überkommenen, verklärten und nicht-zukunftsfähigen Lebensweise und setzt gekonnt ein mächtiges Instrument des Faschismus ein: die politische Nostalgie.
Nein, die Schweiz ist kein faschistisches Land. Die SVP als durchwegs faschistische Partei einzuordnen, wäre ebenfalls falsch. Die Lage der Abgehängten und Perspektivenlosen mag in der reichen Schweiz oftmals weniger schlimm sein als andernorts (über die ebenso wichtige gefühlte Lage ist damit allerdings noch nichts gesagt). Das Konkordanzsystem, in dem möglichst alle politischen Kräfte eingebunden werden, ist ein institutioneller Schutz vor einer faschistischen Regierung. Schon wieder ein Sonderfall Schweiz also? Allzu sicher wäre ich mir nicht: Die globalen Krisenentwicklungen betreffen zunehmend auch die Schweiz. Die SVP als stärkste Partei radikalisiert sich zusehends. Regelmässig kommen Kontakte von SVP-Exponent:innen in offen rechtsextrem-faschistische Kreise ans Licht. Und die bürgerlichen Mitteparteien grenzen sich nach wie vor lieber gegen links als gegen rechts ab. Das sind Muster, die man aus der Geschichte kennt.

Handlungsoptionen erhalten und erweitern

Schwarzmalerei lähmt und verhindert Veränderung, heisst es oft. Das mag sein. Eine positive und zugleich realistische Zukunftsperspektive, die einen Ausweg aus der Polykrise bieten könnte, ist aber – auch in der Schweiz – leider nicht erkennbar. Dieses «Zukunftsvakuum» wird aktuell weltweit durch antidemokratische Kräfte gefüllt. Wo also verläuft die Grenze zwischen Alarmismus und Naivität?
Begreift man die eidgenössischen Wahlen als politischen Moment, in dem es – auch – um das breite Werben um konkurrierende Zukunftsentwürfe ginge, dann konnten die Wahlen 2023 die Erwartungen nicht erfüllen. «Gesucht wird die Vision einer lebenswerten, erstrebenswerten Zukunft in einer postkarbonen Welt», schreibt der Politikwissenschaftler und Philosoph Felix Heidenreich im lesenswerten Büchlein «Die Zukunft der Demokratie».
Solche Visionen werden innerhalb der Linken durchaus entwickelt. Im Wahlkampf waren sie aber auch in diesem Jahr nicht präsent. Die bürgerlichen Mitteparteien (inkl. GLP) verweigern sich ihrerseits der Realität und gaukeln den Leuten (und wahrscheinlich auch sich selbst) vor, dass wir durch Technologie und ein ruhiges, unaufgeregtes Verwalten des Status quo schon irgendwie aus dem Schlamassel finden. Und die SVP akzentuiert ihren Zerstörungskurs: Auf ihrem dystopischen Weg lassen wir nicht nur die Chance, die Klimaerwärmung zu drosseln, hinter uns, sondern auch Solidarität und Demokratie. Er führt letztlich in faschistische Verhältnisse. Das passiert nicht von heute auf morgen, aber Schritt für Schritt. Die Wahlen 2023 waren ein solcher Schritt. Die Linke muss alles daransetzen, dass ihm nicht weitere folgen. Jeder gewonnene politische Kampf – innerhalb und ausserhalb des Parlaments – gegen die Zerstörer:innen von rechts kann zukünftige Handlungsoptionen auf einem sich erhitzenden Planeten erhalten, im besten Falle erweitern. Aktuell scheint das die Hoffnung, die uns bleibt.
Autor | Pascal Zwicky ist wissenschaftlicher Sekretär des Denknetz.
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