Überwinden – oder gefressen werden
12.05.2023 | Wenn überall Krise ist, dann ist guter Rat teuer. Wie lässt sich das Krisenszenario richtig deuten? Gibt es eine gemeinsame Ursache für auf den ersten Blick so Unterschiedliches wie die Klimaerhitzung, prekäre Arbeitsverhältnisse, rassistische Gewalt, erschöpfte Familienmanager*innen oder die Aushöhlung der Demokratie? Folgt man Nancy Fraser, dann ist die Antwort ein klares Ja. Sie identifiziert den «kannibalischen Kapitalismus» als die strukturelle Kraft, die hinter der heutigen Ballung der Krisen steht und das Leben auf dem Planeten existenziell gefährdet. In ihrem neuen Werk beleuchtet Fraser diese Mechanismen und sie macht deutlich, dass eine angemessene Krisenbearbeitung über den Kapitalismus hinaus zielen muss.
In den letzten Jahren hat die Kapitalismus- und Sozialismusdebatte wieder an Fahrt aufgenommen. So haben etwa Bini Adamczak (2017), Klaus Dörre (2021), Thomas Piketty (2023), Erik Olin Wright (2017) oder Raul Zelik (2020) wichtige Beiträge dazu verfasst. Gemeinsam ist allen, dass sie sich emanzipatorisch von Erfahrungen der realexistierenden Sozialismen der Geschichte ab-, und sich für einen offenen, demokratischen Sozialismus einsetzen. Eine wichtige Stimme in dieser Diskussion ist seit langem auch die US-amerikanische feministische Philosophin Nancy Fraser (2023). In ihrem aktuellen Buch «Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt», die englische Originalversion erschien 2022, bringt sie Texte, die über Jahre im Austausch mit Mitstreiter*innen entstanden und auch schon in Zeitschriften und Sammelbändern publiziert wurden, in einen schlüssigen Gesamtzusammenhang.
Frasers Schwerpunkt liegt dabei auf der Kapitalismusanalyse. Eine gründliche Analyse ist wichtig, weil sich daraus Alternativen und ein angemessenes, wirksames Handeln ableiten lassen. Die Frage lautet also zunächst: Was ist überhaupt unter Kapitalismus zu verstehen? Der Kern des Kapitalismus ist der strukturelle Zwang zur Profitmaximierung, zur fortwährenden Kapitalvermehrung. Kapitalismus, das sind nicht nur die globaen Finanzmärkte. Auch nicht nur das, was wir gesamthaft als Wirtschaft bezeichnen; nicht nur Unternehmen, Lohnarbeit und Konsum. Kapitalismus ist gemäss Fraser (ebd.) eine umfassende Gesellschaftsordnung,
«die eine profitorientierte Wirtschaft dazu befähigt, die ausserökonomischen Stützen, die sie zum Funktionieren braucht, auszuplündern: Reichtum, der Natur und unterworfenen Bevölkerungen entzogen wird; vielfältige Formen von Care-Arbeit, die chronisch unterbewertet, wenn nicht gar völlig verleugnet werden; öffentliche Güter und staatliche Befugnisse, die das Kapital sowohl benötigt als auch zu beschneiden versucht; die Energie und Kreativität der arbeitenden Menschen» (S. 11).
Diese Ausplünderungen sind Voraussetzung für die Profite, die von Unternehmen, von «der Wirtschaft», erzielt werden. Und sie sind gleichzeitig auch der Grund für die gegenwärtige Krise, die von Fraser (ebd.) als «allgemeine Krise der gesamten Gesellschaftsordnung» (S. 13) verstanden wird. Das Cover von Frasers Buch ziert ein Bild eines Ouroboros, einer sich in den eigenen Schwanz beissenden Schlange. Dementsprechend beschreibt sie den Kapitalismus sehr treffend und prägnant als Kannibalismus. Der Kapitalismus ist ein System, das in seiner unersättlichen (Profit-)Gier nicht einfach punktuell ausbeutet, enteignet und zerstört, sondern letztlich seine eigenen Grundlagen auffrisst. Und die Grundlagen des Systems sind das menschliche und nicht-menschliche Leben auf dem Planeten Erde.
Ausbeutung und Enteignung
Frasers Konzept des kannibalischen Kapitalismus baut auf Karl Marx auf, blickt dann aber vor allem hinter die Kulissen dessen, was bei Marx im Vordergrund stand: die Ausbeutung der Lohnarbeit. Fraser interessiert sich für die «Hintergrundgeschichte» des Kapitalismus, für das, was hinter der mittlerweile breit bekannten und – mehr oder weniger – gut ausgeleuchteten Bühne der kapitalistischen Ausbeutung von Lohnarbeit passiert. Ihre Argumentation basiert wesentlich auf der Unterscheidung zwischen Ausbeutung (Exploitation) und Enteignung (Expropriation). In der Literatur ist letztere als «ursprüngliche Akkumulation» bezeichnet worden. «Kapital» wurde zu wesentlichen Teilen erst durch die äusserst gewalttätige Aneignung von Land, Bodenschätzen und menschlicher Arbeitskraft geschaffen – Sklaverei und Kolonialismus stehen dafür. Solche explizit nicht-marktförmig organsierten Enteignungsprozesse sind aber, betont Fraser, kein historisches Phänomen, sondern ein dauerhaftes Merkmal des Kapitalismus. Bis heute garantieren sie, wenn auch in teilweise angepasster Form, quasi die Blutzufuhr für die krisenanfällige offizielle kapitalistische Wirtschaft. Neo-imperiale Rohstoffextraktion, Giftmülldeponien und sklavenähnliche Arbeits- und Lebensbedingungen prägen die Welt nach wie vor und sie orientieren sich noch immer an der globalen Color Line: Länder des globalen Südens und People of Color sind weitaus stärker davon betroffen. Daraus schliesst Fraser auch, dass Kapitalismus strukturell rassistisch ist.
Eine gewisse Veränderung der Situation findet ihr zufolge mit dem Aufkommen des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus statt. Er führt zu zunehmend prekären Verhältnissen (Arbeitsverhältnisse, Verschuldung, Abbau öffentlicher Dienste etc.) auch für vormals durch Gewerkschaften und Staat geschützte Bevölkerungsteile und damit zu einer Aufweichung der ehemals scharfen Trennung zwischen Ausbeutung und Enteignung. Der Neoliberalismus macht insofern «gleicher», als heute grundsätzlich alle, unabhängig(er) von ihrer Hautfarbe, verletzlicher werden und damit Opfer von Enteignungen werden können. Das heisst aber nicht, dass Rassismus in einer neoliberal durchdrungenen Gesellschaft verschwindet und wir davon ausgehen können, dass sich eine geeinte universelle Klasse der Prekarisierten herausbildet. Bei Fraser (ebd.) heisst es dazu: «Wenn jahrhundertelange rassistisch motivierte Stigmatisierung und Übergriffe auf das unersättliche Bedürfnis des Kapitals nach Subjekten, die sich ausbeuten und enteignen lassen, treffen, führt das zu enormer Unsicherheit und Paranoia, damit aber auch zu einem verzweifelten Wettlauf um Sicherheit – was den Rassismus noch verschärft» (S. 92). Nicht nur in den USA lässt sich das beobachten.
Krise der sozialen Reproduktion
Ein zweiter entscheidender Aspekt ist die soziale Reproduktion. Fraser zeichnet nach, wie die Grenzziehungen zwischen als produktiv geltender Lohnarbeit und als nicht-produktiv geltender Care-Arbeit, zwischen Produktion und Reproduktion, historisch kontingent und immer umkämpft waren und damit auch konkrete Herrschaftsverhältnisse verbunden sind. Unbestritten ist, dass alle Gesellschaften, kapitalistische oder nicht, konstitutiv auf soziale Reproduktionsarbeit angewiesen sind. Der Kapitalismus nutzt die riesige Menge an Sorgearbeit, die rund um die Uhr und zu grossen Teilen unentgeltlich geleistet wird, als Trittbrettfahrer und baut eine profitorientierte Wirtschaft darauf auf. Dadurch entstehen allerdings keine stabilen und nachhaltigen Verhältnisse. Der unendliche Profitdrang des Kapitalismus führt zu einem strukturellen Widerspruch, der sich heute als umfassende Sorge-Krise, als «Care-Notstand» (Erschöpfung, Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich, Care-Migration, Freiwilligenarbeit etc.), manifestiert: «Einerseits ist die soziale Reproduktion eine notwendige Hintergrundbedingung für eine nachhaltige Kapitalakkumulation; andererseits führt das Streben des Kapitalismus nach unbegrenzter Akkumulation dazu, dass er genau die sozial-reproduktiven Aktivitäten kannibalisiert, auf die er angewiesen ist» (ebd., S. 99).
Weil der Bereich der sozialen Reproduktion für das individuelle und kollektive (Über-)Leben derart fundamental ist, stellt sich die vielfältige Care-Krise in modernen Gesellschaften für viele als eine der wesentlichen lebensweltlichen Herausforderungen dar. Nicht zuletzt während der Corona-Pandemie wurden die diversen Facetten der Care-Versorgungs-Krise schonungslos aufgedeckt. Die Stellung und der Stellenwert der sozialen Reproduktion steht in direktem – wechselseitigen – Zusammenhang mit Geschlechterhierarchien und Rollenbildern ebenso wie mit neo-imperialen Ausbeutungs- resp. Enteignungsverhältnissen sowie rassifizierter Diskriminierung und Unterdrückung. Die Organisation der sozialen Reproduktion steht schliesslich auch in einer wechselseitigen Beziehung zur nicht-menschlichen Natur: Der Zwang zur Lohnarbeit zu Beginn der kapitalistischen Ära läutete das Ende der Subsistenzwirtschaft ein bzw. die Ausweitung der industriellen Landwirtschaft. Oder wenn heute die Folgen der Klimaerwärmung zu mehr extremen Wetterereignissen oder Trinkwasserverlust führen, wirkt sich vielerorts das direkt auch auf die Möglichkeiten, die Bedingungen sozialer Reproduktion aus.
Gestörtes Verhältnis zur Natur
Kapitalismus ist in seiner Geschichte immer auf die stetige Zufuhr billiger natürlicher Ressourcen und Energie angewiesen gewesen. Fossile Energieträger und Naturzerstörung lagen der rasanten Expansion des Systems im 19. und 20. Jahrhundert zugrunde. Dieser Umgang mit der nicht-menschlichen Natur war und ist es aber auch, das wissen wir heute, die zu ökologischen Krisen und insbesondere zur Klimaerhitzung führt(e). Der systemische Zwang zur Kapitalakkumulation, zu immerwährendem Profit und Wachstum, treibt die Ausbeutung und Umgestaltung der Natur an. Kapitalismus kannibalisiert seine – oder besser: unsere – planetaren Lebensgrundlagen. Dieser Nexus ist für Fraser ebenfalls strukturell bedingt. Auch in anderen Gesellschaftsformen, vor- oder postkapitalistischen, kam und kommt es zu ökologischen Problemen. Diese lassen sich gemäss Fraser aber durch falsche Entscheidungen, Systemkonkurrenz oder fehlendes Wissen erklären. So hätten realexistierende Sozialismen «im Prinzip nachhaltige Muster der Interaktion mit der nichtmenschlichen Natur entwickeln können» (ebd., S. 138). Wie wir gesehen haben, basiert Kapitalismus im Gegenteil dazu ganz zentral darauf, «die ausserökonomischen Stützen», die die «Wirtschaft» zum Funktionieren braucht, auszuplündern. «Die kapitalistische Wirtschaft ist systemisch darauf ausgerichtet, von einer Natur zu profitieren, die sich nicht wirklich unbegrenzt selbst erneuern kann, und steht deshalb immer kurz davor, ihre eigenen ökologischen Bedingungen der Möglichkeit zu destabilisieren» (ebd., S. 142). Ökologische Politik muss deshalb antikapitalistisch sein.
Im kapitalistischen Weltbild ist die künstliche resp. «cartesianische» Trennung zwischen (nicht-menschlicher) Natur und Mensch/Gesellschaft fest verankert. Die Vorstellung der Natur als einem unbegrenzt ausbeutbarem Äusseren liegt der instrumentellen Naturbeherrschung zugrunde und führt im Kapitalismus zur konsequenten Unterordnung von Natur unter Profit und materiellen Wohlstand. Die immensen ökologischen Herausforderungen meistern wir nur dann, wenn wir als Menschheit das vorherrschende Verständnis von und Verhältnis zur Natur hinter uns lassen. Menschliche und nicht-menschliche Natur sind de facto untrennbar und wechselseitig miteinander verknüpft. Natur wird durch menschliches und gesellschaftliches Verhalten geprägt – und umgekehrt: Anthropozän, Kapitalozän oder «gesellschaftliche Naturverhältnisse» sind Begriffe, die dafür stehen. Erst mit diesem Bewusstsein lässt sich auch ein zukunftsfähiges Ziel formulieren: Gerechte und nachhaltige sozio-ökologische Beziehungsweisen, demokratisch gestaltet.
Demokratiekrise – «Reclaim Democracy»
Demokratie bedeutet, das Gemeinsame auch gemeinsam bestimmen und gestalten zu können. In wesentlichen Bereichen, etwa hinsichtlich des Mensch-Natur-Verhältnisses, ist dies aber nicht möglich. Und auch das hat strukturell mit Kapitalismus zu tun. Kapitalismus ist fundamental auf öffentliche Infrastrukturen und rechtstaatliche Verbindlichkeiten (u.a. Garantie der Eigentumsrechte, stabile Handelsbeziehungen, Too-big-to-fail) angewiesen. Das sind wiederum Hintergrundbedingungen, die die Profite der kapitalistischen Wirtschaft sichern. Gleichzeitig untergräbt der Kapitalismus die Demokratie aber fortlaufend und entzieht uns wichtige demokratische Gestaltungsräume. Erneut zeigt sich das kannibalische Muster. Fraser (ebd.) formuliert den Widerspruch wie folgt: «Eine legitime, wirksame öffentliche Macht ist eine Bedingung der Möglichkeit nachhaltiger Kapitalakkumulation; doch das Streben des Kapitals nach unablässiger Akkumulation tendiert mit der Zeit dazu, genau die öffentliche Macht zu destabilisieren, von der es abhängt» (S. 193-194). Das Kernproblem der Demokratie im Kapitalismus resp. der liberalen Demokratie ist, dass die wirtschaftliche Sphäre von der demokratischen Idee ausgenommen ist, wirtschaftliche und politische Macht im «Normalfall» weitgehend voneinander getrennt sind. Und wenn sie etwa in Krisensituationen, siehe das CS-Debakel, zusammenfallen, dann meist auf ziemlich undemokratische und intransparente Art und Weise. Weil hier, so glaube ich, ein Schlüssel für eine zeitgemässe linke Politik liegt, soll Fraser (ebd.) nochmals ausführlich zitiert werden:
«Indem weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Herrschaft des »Marktes« (in Wirklichkeit der Grosskonzerne) unterstellt werden, werden sie für demokratische Entscheidungsfindung, kollektives Handeln und öffentliche Kontrolle unzugänglich gemacht. Diese Regelung beraubt uns der Möglichkeit, gemeinsam zu entscheiden, was und wie viel wir auf welcher Energiebasis und im Rahmen welcher sozialen Beziehungen herstellen wollen. Sie beraubt uns auch der Fähigkeit zu entscheiden, wie wir den gesellschaftlichen Mehrwert, den wir kollektiv produzieren, verwenden wollen; wie wir uns zur Natur und zu künftigen Generationen verhalten wollen; wie wir die Arbeit der sozialen Reproduktion und ihr Verhältnis zur Produktion organisieren wollen. Wegen der ihm eigenen Struktur ist der Kapitalismus also von Grund auf antidemokratisch. Selbst im besten Fall ist die Demokratie in einer kapitalistischen Gesellschaft zwangsläufig begrenzt und schwach» (S. 197-198).
Gerade auch für die Schweiz, das vermeintliche demokratische Vorzeigeland, ist diese kritische Analyse realexistierender Demokratie von Bedeutung. «Reclaim Democracy» heisst, die Demokratie und die mit ihr verbundenen Menschenrechte gegen den Kapitalismus zu verteidigen und demokratische Gestaltungräume auszuweiten. Geschieht das nicht, verliert die «unvollendete» Demokratie, die trotz ihrer Mängel, die wohl mit grösste gesellschaftliche Errungenschaft darstellt, an Legitimation, die Menschen wenden sich von ihr ab und autoritäre Populist:innen gewinnen an Zuspruch. Anschauungsunterricht dafür gibt es weltweit mehr als genug.
Etwas, das von Fraser nicht speziell behandelt wird, mir im Kontext der demokratischen bzw. politischen Krise allerdings wichtig erscheint, ist der Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI). Der populäre Historiker Yuval Harari erachtet die KI etwa als die grössere Gefahr für die Zivilisation als die Klimaerwärmung. Unbestritten ist, dass KI ein grosses Potenzial hat – allerdings für Gutes ebenso wie für Schlechtes. Die demokratische Öffentlichkeit, auf die moderne Gesellschaften zwingend angewiesen sind, wird durch die Digitalisierung und die neoliberalen Geschäftsstrategien der übrig gebliebenen Medienkonzerne seit längerem grundlegend umstrukturiert und in vielerlei Hinsicht geschwächt. Individualisierung des Medienkonsums, Filter-Bubbles oder Fake-News sind Stichworte dazu. Mit den sich rasant entwickelnden Möglichkeiten der KI werden entsprechende Gefahren aber potenziert. Nicht nur private Medienunternehmen, sondern auch autoritäre Regime können die demokratische Debatte und Meinungsbildung mithilfe von KI beeinflussen, manipulieren und letztlich zerstören. Auch das passiert heute bereits, jeder weitere Schritt ist ein Schritt in bislang unbekannte Gefilde. Die Devise «Reclaim Democracy» gilt auch hier: demokratische Regulierung von Tech-Giganten (die EU ist diesbezüglich Vorreiterin); öffentliche KI-Codes; globale Regeln für den Einsatz von KI; demokratische KI-Governance in der Verantwortung der UNO. Aber auch eine ausgebaute öffentliche und gleichzeitig staatsferne Förderung und Institutionalisierung des professionellen Journalismus, um zumindest ein Mindestmass an demokratiegerechter Information zu sichern. An Handlungsbedarf und -optionen mangelt es nicht.
Ein neuer Sozialismus
Fraser (ebd.) interpretiert die heutige Krisensituation als eine «ausgewachsene Hegemoniekrise», in deren Zentrum «ein offener Streit über die gegenwärtige Grenze zwischen Ökonomie und Gemeinwesen [steht]» (S. 215). Diese Grenzkämpfe sind letztlich Kämpfe gegen die Macht des Kapitals, Kämpfe um die Überwindung des Kapitalismus und gleichzeitig Kämpfe um die Zukunft der Menschheit und des Planeten. Entscheidend wird sein, ob und wie sich die Kräfte, die für das Gemeinwesen (und gegen das Kapital) einstehen, verbinden und den nötigen Schub entwickeln können. Was Frasers Werk gut zeigt, ist, dass das kapitalistische System Ursache nicht nur für die Ausbeutung der Lohnarbeit, sondern auch für die Krise der sozialen Reproduktion, vielfältige rassistische Diskriminierung und Unterdrückung, ökologische Krisen und die Krise der Demokratie ist. Und sie zeigt, dass all das zusammenhängt. Gründe für einen gemeinsamen antikapitalistischen Kampf gibt es also genügend. Und es gibt auch aktuelle Themen, die sich für eine intersektionale Mobilisierung anbieten: das Thema der Erwerbsarbeitszeitreduktion, Enteignung und Vergesellschaftung oder diverse Forderungen aus der Klimagerechtigkeitsbewegung.
Die Frage ist, ob sich der breite Widerstand gegen den zerstörerischen Status quo bündeln und produktiv auf eine zukunftsfähige Alternative ausrichten lässt. Und wäre ein neuer, ein wiederentdeckter, ein demokratischer Ökosozialismus eine solche Alternative? Für Fraser (ebd.) besteht die Aufgabe des Sozialismus darin, «die Dinge in den Vordergrund zu stellen, die das Kapital in den verleugneten Hintergrund drängt» (S. 243). Es geht darum, die Verhältnisse neu zu denken (etwa dasjenige zwischen Markt und Planung), institutionelle Grenzen zu verschieben (etwa zwischen Produktion und Reproduktion) und ihren Charakter zu verändern (in Richtung Kooperation statt Konkurrenz). Der Weg zum Sozialismus – oder wie man eine postkapitalistische Gesellschaft sonst benennen möchte – ist die Demokratisierung der Gesellschaft.
Sozialismus ist, das war er schon immer, die Antithese zum Kapitalismus. Aus Frasers breiter Kapitalismusanalyse lassen sich Konturen eines attraktiven, lebendigen, demokratischen und nachhaltigen Sozialismus für das 21. Jahrhundert ableiten. Es wäre ein neuer Sozialismus, für den es sich zu kämpfen lohnt.
Autor | Pascal Zwicky ist wissenschaftlicher Sekretär des Denknetz
Literatur
Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp.
Dörre, Klaus (2021): Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Berlin: Matthes & Seitz.
Fraser, Nancy (2023): Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Berlin: edition Suhrkamp.
Piketty, Thomas (2023): Der Sozialismus der Zukunft. München: C.H. Beck.
Wright, Erik Olin (2017): Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp.
Zelik, Raul (2020): Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus. Berlin: Suhrkamp.