Fabian Molina

Kommentar

Der Anfang einer Trendwende in der Schweizer Politik?
24.11.2023 | Seit dem 19. November 2023, dem Tag, an dem die Urnen für die zweiten Wahlgänge der Ständeratswahlen in fünf Kantonen geschlossen wurden, ist klar, wie die politischen Kräfteverhältnisse im Schweizer Parlament für die nächsten vier Jahre aussehen. Ja, aber wie denn? Auf den ersten Blick scheint es keinen klaren Trend zu geben. Der Versuch einer Bestandesaufnahme und eines Ausblicks aus linker Sicht.
Die nationalen Wahlen 2019 waren für Schweizer Verhältnisse in vielerlei Hinsicht aussergewöhnlich. Die dominierenden Themen Klimaschutz und Feminismus sowie die damit einhergehende Beteiligung neuer Bevölkerungsschichten führten zu grösseren Verschiebungen. Angetrieben durch grosse Proteste der Klima-Bewegung und die damit ausgelöste Diskursverschiebung legten die Grünen und die Grünliberalen massiv zu und kamen auf einen Wähler:innen-Anteil von 13,2% (+6,1%) bzw. 7,8% (+3,2%). Gleichzeitig wurden – im Zuge des grössten Frauenstreik seit 1991 mit über 500’000 Teilnehmer:innen schweizweit – so viele Frauen wie noch nie in National- (42%) und Ständerat (26%) gewählt. Die rechtsnationale SVP, die seit 1995 (mit Ausnahme von leichten Verlusten 2011) bei allen nationalen Wahlen stets zugelegt hatte und zuletzt auf 29,4% (2015) gekommen war, verlor deutlich (-3,8%). Dramatisch waren die Wahlen 2019 für die Sozialdemokratie. Die SP verlor 2% und fuhr mit 16,8% das schlechteste Ergebnis seit der Einführung des Proporzwahlrechts 100 Jahre zuvor ein. Dennoch wurde das linke Lager unter dem Strich gestärkt: SP und Grüne kamen mit linken Kleinparteien auf 69 Stimmen im Nationalrat. So stark war die vereinigte Linke seit 2003 nie mehr gewesen. SP und Grüne vereinigten 30% der Stimmen auf sich – das beste Ergebnis seit 16 Jahren.
Diese historische Tendenz muss im Kopf haben, wer die Wahlen 2023 analysiert. Auch wenn in den Medien in den letzten Wochen viel über die Niederlage der Grünen und den Sieg der SVP geschrieben wurde, Fakt ist: Die Grünen haben das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren. Und die SVP hat «nur» gut die Hälfte der Verluste von vor vier Jahren kompensiert. Das linke Lager kommt dank dem Sieg der SP (+1,5%) auf 28.1% und 64 Sitze im Nationalrat. Im 46-köpfigen Ständerat konnte die SP neun Sitze halten und trotz vieler Rücktritte in «Swing States» einen Generationenwechsel vollziehen. Der Frauenanteil sank im Nationalrat zwar leicht (38,5%), stieg im Ständerat aber auf den höchsten Wert aller Zeiten (28,3%). Unter dem Strich wurden die Ergebnisse von vor vier Jahren zwar leicht korrigiert. Aber in der längeren Betrachtung war 2023 aus linker Sicht eher eine Bestätigungswahl als eine Trendumkehr.
Auf der rechten Seite konnte die SVP ihre Dominanz bestätigen. Und dennoch verliert die Rechte. Im Schnitt hat die SVP über die letzten fünf Wahlen seit 2003, als sie sich als grösste Partei etablierte, 27,5% erreicht. Im selben Zeitraum ist die einst dominierende FDP aber von 19,5% auf 14,3% geschrumpft. Oder anders ausgedrückt: Kamen SVP und FDP 2003 noch auf 46.3%, so erreichen sie heute noch 39.9%.
Das dritte politische Lager, die Zentrumsparteien CVP und BDP, heute Die Mitte, zusammen mit der GLP, baute seinen Wähler:innen-Anteil im selben Zeitraum von 14,4% auf 22,7% aus.
Die SVP Blocher’scher Prägung dominiert das rechte Lager also weiterhin. Gleichzeitig verliert die FDP ungebremst und der einst stolze Freisinn ist definitiv zur Juniorpartnerin der SVP verkommen – sowohl programmatisch als auch was die Machtoptionen anbelangt. Insgesamt ist das rechte Lager geschwächt. Die Zentrumsparteien sind in den letzten 20 Jahren leicht stärker geworden und positionieren sich zunehmend eigenständig. Ideologisch grenzen sie sich vor allem gesellschafts- und aussenpolitisch gegen Rechts ab. Auch wenn die Verbindungen zur helvetischen Wirtschaft eng geblieben sind, so existiert der alte «Bürgerblock» doch nicht mehr. Gleichzeitig hat sich die Linke erholt und erneuert.

Eine erneuerte Linke

Der Frauenanteil in der Schweizer Politik steigt in der mehrjährigen Betrachtung, was sich nicht nur in der Anzahl gewählter Parlamentarierinnen, sondern insbesondere im steigenden Anteil (junger) Frauen zeigt, welche (die Linke) wählen. Und: Die Linke hat ihre Baisse der 2000er-ahre überwunden, als sie zeitweise nur auf 25.9% kam.
Die neue Stärke der Linken fusst vor allem auf ihrem Stimmenanteil in urbanen Gebieten und der Westschweiz. Bereits bei den Wahlen 2019 vertiefte sich der Stadt-Land-Graben, nun akzentuierte er sich bei den Wahlen 2023 zusätzlich. Waren in den 90er-Jahren die Parteistärken über die verschiedenen geographischen Regionen und Räume noch einigermassen gleichmässig verteilt, dominieren SP und Grüne heute in den Städten deutlich, während in den ländlichen Gebieten die SVP das Sagen hat. Auch in Bezug auf die Altersverteilung gibt es einen anhaltenden, wenn auch schwächeren Trend: Die Wähler:innenstärke der Linken ist in der jüngsten Kohorte grösser als in der ältesten.
Vereinfacht lässt sich also sagen: Die Wähler:innen-Basis der Linken wird tendenziell weiblicher, urbaner (und frankophoner) sowie jünger. Dies wirkt sich auch auf die politischen Prioritäten linker Wähler:innen aus. Gemäss Silja Häusermann et al. (Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz) besteht in der potentiellen Wähler:innenschaft der Sozialdemokratie grosse Einigkeit darüber, dass die Schweiz sozial gerechter, geschlechtergerechter, weltoffener und ökologischer werden muss. Eine Differenz zwischen «altlinken» und «woken» Themen, wie sie zahlreiche Kommentator:innen herbeizuschreiben versuchen, existiert empirisch nicht.

Ein langsamer Aufbruch

Am deutlichsten werden sich die Veränderungen zwischen den Blöcken in absehbarer Zeit auf die Bundesratszusammensetzung auswirken. Auch wenn der Mitte der Mut fehlt, bei den Bundesratswahlen am 13. Dezember die FDP anzugreifen, so ist eine Veränderung doch unausweichlich. Es wird nicht lange gehen, bis die Mitte als drittstärkste Kraft unter der Bundeshauskuppel ihren Machtanspruch verwirklichen und damit eine überfällige Korrektur des Rechtsrutsches im Bundesrat von 2003 durchsetzen wird. Nach 20 Jahren SVP-FDP-Mehrheit in der Regierung wäre es dann zumindest wieder möglich, sozial- und wirtschaftspolitisch Fortschritte real in Angriff zu nehmen. Die grössten Hindernisse für eine soziale und ökologische Schweiz könnten dann endlich angegangen werden. Etwa die Schuldenbremse und die damit verbundene Blockade sämtlicher Zukunftsinvestitionen sowie die Verhinderung eines handlungsfähigen Staates, die Rolle der Schweiz in Europa und der Welt und umfassende Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter.
Die veränderte Basis der Linken, die multiplen Krisen und die damit verbundenen neuen Themen zwingen aber auch SP und Grüne zu Korrekturen. Die Linke als Ganzes kann nur als klarer Gegenpol zur SVP zulegen. Sozial- und gesellschaftspolitisch ist ihr das weitgehend gelungen. Die Verbindungen in die sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften sind stark; Postulate der feministischen und der Klimagerechtigkeitsbewegung finden Eingang in erfolgreiche linke Realpolitik. Diese Stärken müssen gepflegt werden. Ein Schlüssel für die Hegemonie von links der Mitte ist aber die Migrations- sowie die Aussen- und insbesondere die Europa-Politik. Wenn die Linke die Deutungsmacht über die Identität der Schweiz erlangen will – und das muss sie, um zu gewinnen –, muss sie glaubwürdige Antworten auf die Fragen «Wer gehört zur Schweiz?» und «Was ist der Platz der Schweiz in der Welt?» geben.
Schliesslich müssen SP und Grüne ihre Rollenverteilung klären. Die SP hat ihren Weg in den letzten Jahren unter einer neuen Führung klar definiert und konsequent verfolgt. Den Grünen stehen nach den verlorenen Wahlen ein Präsidiumswechsel und schmerzhafte Grundsatzdiskussionen bevor. Es ist nicht an mir, ihnen Ratschläge zu erteilen. Aber mein Wunsch wäre, dass sie ihren Weg komplementär zur Sozialdemokratie beschreiten, so dass die Linke ihr volles Potential ausschöpfen kann.
Die Parlamentswahlen 2023 werden nicht als aussergewöhnliches Ereignis in die Geschichte eingehen. Aber Politik ist ein Mehrgenerationenprojekt und braucht Zeit. 2023 wird vielleicht eines Tages den Beginn eines neuen Aufbruchs markieren.
Autor | Fabian Molina ist Nationalrat für die SP.
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