Franziska Ryser

Kommentar

Wie verhindern wir den politischen Stillstand?
23.11.2023 | Nach den eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober 2023 bleibt ein schales Gefühl. Und die Frage, ob wir die gesellschaftlichen Herausforderungen in den nächsten Jahren erfolgreich angehen können.
Was ist passiert? Die Politik war in den letzten vier Jahren stark auf die grossen globalen Krisen fokussiert, wodurch links-grüne Anliegen immer wieder erfolgreich eingebracht werden konnten. Während der Corona-Pandemie wurde die Suffizienz-Debatte (zumindest kurzfristig) neu lanciert und der anhaltende Ukraine-Krieg hat unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte gerückt, was dem Ausbau der Erneuerbaren Schub verlieren hat. Das lag auch daran, dass in der letzten Legislatur eine linke Energie- und Umweltministerin gewirkt hat und dass das Parlament so grün und weiblich, wie nie zuvor in der Geschichte der Schweiz war. Wir hatten uns enorm viel vorgenommen – und vieles davon auch umgesetzt oder aufgegleist: Einen Ausbau der Fördermittel für erneuerbare Energien mit der parlamentarischen Initiative Girod und später mit dem Mantelerlass, ein Solarexpress, ein Windexpress; zwar ein verlorenes CO2-Gesetz, aber auch ein Wiederbeleben der Klimapolitik mit dem Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, nochmal ein neues CO2-Gesetz und eine Vorlage zur Förderung der Kreislaufwirtschaft. Die Versprechen der Klimawahl 2019 wurden angegangen. Dem oft so trägen Politbetrieb wurde Beine gemacht.
Und trotzdem: Die Bevölkerung scheint mit dem Resultat nicht zufrieden. Die starke links-grüne Mobilisierung von vor vier Jahren konnte nicht wiederholt werden. Stattdessen gelang dies rechtspopulistischen Kreisen. Deren Versprechen von Sicherheit und Wohlstand – wenn wir nur den Blick abwenden vom Leid der Menschen in Kriegs- und Krisengebieten und uns der internationalen Verantwortung nach Solidarität, Friedensförderung und Klimaschutz verweigern – scheinen gegriffen zu haben. Der resultierende Rechtsrutsch ist bedenklich.
Einerseits, weil gerade bei den GRÜNEN Persönlichkeiten abgewählt wurden, die in den letzten Jahren zu den konstruktiven Kompromissschmied:innen gehört hatten, wie die Genfer Ständerätin Lisa Mazzone oder der Thurgauer Nationalrat Kurt Egger. Andererseits, weil die Notwendigkeit von sozialem Klimaschutz, von mehr Gleichberechtigung und Diversität sowie von stärkeren demokratischen Strukturen als Antwort auf die rechtspopulistischen Tendenzen in ganz Europa immer virulenter wird.
Aus Sicht der GRÜNEN müssen wir uns fragen: Was lief falsch? Wieso konnte nicht ausreichend mobilisiert werden? Wurden die Kernbotschaften nicht klar genug kommuniziert? Lag es an den Medien, die mehr über Klimakleber:innen als über die Klimakrise berichteten? Oder daran, dass die Vorurteile gegenüber den GRÜNEN gerade bei der ländlich geprägten Bevölkerung nicht nachhaltig genug widerlegt werden konnten? Wohl von allem ein bisschen.
Und trotzdem gab es auch erfreuliche Resultate an diesem Wahlsonntag: In verschiedenen Kantonen wurden Vertreter.innen der GRÜNEN Panaschier-König:innen, ein Zeichen dafür, dass grüne Ideen breite Kreise abholen können. Trotz Wähler:innen-Einbussen konnte der Verlust an Mandaten in Grenzen gehalten werden. Und die jungen Grünen wurden wiederholt zur wählerstärksten Jungpartei der Schweiz, was Hoffnung gibt und Perspektive für die Zukunft.

Der Blick nach vorne

Was bedeutet diese Ausgangslage jetzt aber für die kommende Legislatur? Ein genauerer Blick auf die Verteilung der Sitze zeigt: Im Nationalrat wurde der rechts-konservative Block (FDP, SVP, Lega, MCG und EDU) gestärkt (+ 11, neu 95 Mandate). Die bürgerliche Mitte (Mitte, EVP und glp) wurden unter dem Strich geschwächt (-6, neu 41), genauso wie das links-grüne Lager (-5, neu 64). Für eine Mehrheit reicht es keinem Block.
Somit bleiben auch künftig Allianzen notwendig: Für soziale Fragen etwa werden wir auf die glp und die Mitte-Fraktion angewiesen sein. Um gesellschafts-liberale Reformen durchzubringen, benötigen wir die Unterstützung der FDP und glp. Diese Ausgangslage ist vergleichbar mit der letzten Legislatur. Übrigens auch im Ständerat, wo der rechte Block (-1) sowie der links-grüne Block (-2) zu Gunsten der Mitte-Parteien (+3) etwas reduziert wurden. Es wird mehr Zugeständnisse brauchen und das «Maximum des Möglichen» wird sich noch etwas weiter von unseren eigentlichen Zielen weg verschieben.
Doch die grundsätzlichen Mehrheitsverhältnisse bleiben die Gleichen. Und damit auch unsere Arbeit und die Suche nach breiten Allianzen. Einiges wird dabei einfacher werden, einiges wohl schwieriger. Entscheidend wird auch sein, wer in welcher Kommission Einsitz nehmen wird.
Um in den nächsten Jahren entscheidende Schritte realisieren zu können, müssen wir uns fragen, wie wir die progressiven Kräfte vereinen können.
Regierungszusammensetzung anpassen.
Nach der Wahl ist vor der Wahl – denn Mitte Dezember steht die Gesamterneuerungswahl des Bundesrates an. Die Schweiz ist stolz auf ihre Konkordanz-Regierung, in der alle relevanten Kräfte eingebunden werden. Doch das ist heute mehr denn je eine Mär: Denn 25% der Wähler:innen sind nicht im Bundesrat vertreten – so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte der Schweiz. Dieses Missverhältnis muss korrigiert werden.
Den Druck der Strasse aufrecht halten.
Wieviel Einfluss auf die Politik eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung hat, sahen wir zuletzt bei der Klimabewegung. Diese Energie brauchen wir auch in den kommenden Jahren, um im Bereich der Klima- und Energiepolitik auf Kurs zu kommen (und zu bleiben). Den politischen Auftrag haben wir dank dem Klimaschutzgesetz – doch für effektive Instrumente sowie ein griffiges CO2-Gesetz benötigen wir den Rückenwind einer starken Zivilgesellschaft. Aktivistische Bewegungen sind entscheidend, um die öffentliche Wahrnehmung auf die Arbeit des Parlamentes zu lenken und dort den nötigen Druck aufzubauen.
Blockaden aufbrechen und eine Allianz der Willigen bilden.
Themen rund um die Biodiversität hatten es schwer in den letzten Jahren. Gerade in der Landwirtschaftspolitik wurden die Fronten härter. Der Bauernverband wehrt sich mit einer reflexartigen Abwehrhaltung gegen jegliche Veränderung im Agrarsektor. Diese Blockade muss aufgebrochen werden. Beispielsweise, indem vermehrt freiwillige Unterstützungsmassnahmen für landwirtschaftliche Akteur:innen angeboten werden, die fortschrittlich und ökologisch wirtschaften und zum Erhalt der Biodiversität beitragen.
Ressourcen für die eigene Agenda einsetzen und Debatten lancieren.
Eine Notbremse in Form eines Referendums ist hin und wieder notwendig, das haben wir in der letzten Legislatur bei Steuervorlagen mehrfach gesehen. Von den Kinderabzügen über die Stempelsteuer bis zur Verrechnungssteuer: Linke Ressourcen flossen in – zwar erfolgreiche – Abwehrkämpfe, fehlten dafür aber, um eigene Themen in die öffentliche Diskussion zu tragen. Im Moment steht der Bundeshaushalt unter Druck und die neue Finanzministerin ist zurückhaltender mit unnötigen und unsozialen Steuersenkungsvorlagen. Damit verbleibt mehr Zeit und Geld, um eigene Projekte voranzutreiben, wie etwa den Klimafonds, die 13. AHV-Rente oder die Solarpflicht.
Dort, wo nötig, den Abwehrkampf aufnehmen.
Der gmögige SVP-Energieminister zeigte in seinem ersten Amtsjahr, dass sein politischer Kurs alles andere als gmögig ist. Nicht nur brachte er den Ausbau der Autobahnen auf acht Spuren durch den Bundes- und später den Nationalrat. Er will die öffentlichen Medien finanziell einschränken, noch bevor ein offizieller Gegenvorschlag zur SRG-Halbierungsinitiative überhaupt diskutiert worden ist. Und er unterstütz den Angriff der SVP auf die bilateralen Verträge, indem er die Notwendigkeit eines Stromabkommens mit der EU in Frage stellt. Hier braucht es eine entschiedene Haltung: Wenn das Parlament dem SVP-Kurs des Klimaministers keine klaren Grenzen setzt, muss die Bevölkerung mittels Referenden korrigieren.
Auf den Errungenschaften dieser Legislatur aufbauen.
In verschiedenen Bereichen konnten in dieser Legislatur gute Vorlagen erarbeitet werden, indem die richtigen Akteur:innen an einen Tisch gebracht wurden, beispielsweise beim runden Tisch zur Wasserkraft oder zur Kreislaufwirtschaft. Dieses Rezept gilt es weiter zu verfolgen. Indem die Beziehungen mit den fortschrittlichen Mitte- und den ökologischen FDP-Vertreter:innen gepflegt werden, und wichtige Reformen in kleineren und lösungsorientierteren Subkommissionen erarbeitet werden.
Themen setzen.
In der kommenden Legislatur werden uns die Frage nach einem rechtsstaatlichen Rahmen für KI und selbstlernenden Algorithmen stark beschäftigen. Diese Themen gilt es rasch inhaltlich anzugehen, bevor sie durch ideologische Positionsbezüge blockiert werden.
Mit diesen (und weiteren) Ansätzen sollte auch in der anstehenden Legislatur politischer Fortschritt möglich sein. Denn Herausforderungen gibt es mehr als genügend, und die Zeit läuft uns nicht nur in der Klimapolitik, sondern auch im EU-Dossier, der Anbindung unserer Forschungsplatzes an Europa und in einer entschiedenen humanitären Hilfe für die Zivilbevölkerung in der Ukraine oder im Gaza-Streifen davon.
Eine progressiv-ökologische Politik wird es nicht einfacher haben, aber mit den richtigen Stellschrauben und der Unterstützung der Bevölkerung kann ein politischer Stillstand verhindert werden.
Autorin | Franziska Ryser ist Nationalrätin für die Grünen.
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