Regula Rytz

Diskussion

Wir wollen ein gerechtes, kein rechtes Europa!
12.07.2022   |   Regula Rytz blickt in ihrem Diskussionsbeitrag zuerst auf die Geschichte des gescheiterten Rahmenabkommens zurück. Sie gibt ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die progressiven Kräfte wieder mit gestaltender Politik punkten können. Aus Sicht der GRÜNEN brauche es endlich eine breite und ehrliche Grundsatzdebatte über den Platz der Schweiz in Europa. Rytz argumentiert, dass nur ein solidarisches Europa den Menschen eine Perspektive bieten könne. Die Voraussetzungen für echte Fortschritte seien, so Rytz, schon lange nicht mehr so gut gewesen wie heute.
Als der Bundesrat dem EU-Rahmenabkommen im Mai 2021 den Stecker zog, waren die Schuldigen – zumindest in der bürgerlichen Presse – rasch gefunden: Die Gewerkschaften. Vergessen war, dass der heutige FDP-Präsident Thierry Burkart kurz zuvor lauthals den Abbruch der Verhandlungen forderte. Und zwar wegen «Souveränitätsfragen». Vergessen war, dass Mitte-Präsident Gerhard Pfister das Abkommen schon 2020 als «Lebenslüge des Bundesrates» bezeichnete. Und zwar wegen der Unionsbürgerrichtlinie, welche die Schweiz «faktisch in die EU integrieren» würde. Vergessen war, dass NZZ-Chefredaktor Eric Gujer kurz vor Parmelins entscheidender Reise nach Brüssel für einen «Übungsabbruch» plädierte – weil man ein totes Pferd nicht reiten kann.
Immerhin stellte Gujer klar, dass der Bundesrat die volle Verantwortung für das Debakel trägt. Denn die Landesregierung weigerte sich zweieinhalb Jahre lang, zu dem von ihren Diplomat:innen ausgehandelten Vertrag eine inhaltliche Beurteilung abzugeben. Sie schickte ihn unkommentiert in eine Vernehmlassung, in der er geteert und gefedert wurde. Spätestens ab diesem Zeitpunkt verwandelte sich die hochpolitische Debatte über die Zukunft der Schweiz in Europa in ein juristisches Seminar. Und zwar eines mit hundert kontroversen Stimmen. Niemals hätte eine derartige Kakophonie eine Volksabstimmung überstanden. Wenn ein neuer Anlauf für die Modernisierung der Beziehungen zur Europäischen Union gelingen soll, muss von Anfang an ein breiter Konsens erarbeitet werden.

Kampagne gegen die Sozialpartnerschaft

Leider sieht es nicht so aus, als ob der Bundesrat die verhärteten Fronten aufweichen kann und will. Die neuen Verhandlungsvorschläge aus der Schweiz gehen dorthin zurück, wo die EU seit Jahren ein Stoppschild in die Höhe hält: Zu sektorielle Abkommen mit Sonderregelungen für die Schweiz. Dass nun plötzlich akzeptiert sein soll was bisher auf Granit stiess, ist wenig plausibel. Doch offenbar will der Bundesrat mit dieser Taktik verhindern, dass es vor den nationalen Wahlen 2023 eine ernsthafte Debatte über das EU-Dossier geben kann. Damit nimmt er in Kauf, dass sich die Situation für die Universitäten und die Forschung weiter verschlechtert. Er nimmt aber auch in Kauf, dass das Schwarzpeter-Spiel unter Parteien und Verbänden munter weiterdreht. Die Gräben werden grösser statt kleiner. Und mitten in diesen Gräben werden Abrechnungen ausgetragen, die weit über das Rahmenabkommen hinausgehen.
Das bekommen vor allem die Gewerkschaften zu spüren. Sie haben das Projekt eines Rahmenabkommens bis zum fertig verhandelten Entwurf im November 2018 mitgetragen. Erst als sie feststellen mussten, dass die vom Bundesrat zugesicherte «Rote Linie» beim Lohnschutz nicht eingehalten wurde, standen sie auf die Bremse. Und zwar so laut und pointiert, dass sie nach dem Abbruch der Verhandlungen durch den Bundesrat alle Pfeile der enttäuschten Europa-Freund:innen auf sich zogen. Die anderen kritischen Stimmen duckten sich weg. Seither wird die gutschweizerische Sozialpartnerschaft kurz- und kleingeredet. Sei es hinter vorgehaltener Hand im Bundeshaus. Sei es im Blätterwald der Wirtschaftsverbände. Der wirtschaftsliberale Think Tank «Avenir-Suisse» zum Beispiel vergleicht die Gewerkschaften mit einem hinterwäldlerischen Augiasstall, den es auszumisten gilt – Margaret Thatcher könnte es nicht verächtlicher sagen. Der GLP-nahe Politologe Michael Hermann seinerseits will die Flankierenden Massnahmen zum Schutz von geregelten Arbeitsbeziehungen gleich ganz über Bord kippen, um das «unsoziale» Treiben der Gewerkschaften auf Kosten von «armen Konsument/innen» zu stoppen. Damit kommt er nahe an die SVP heran, die 2018 einen offenen Angriff auf den Lohnschutz startete. Wir erinnern uns: Um wirtschaftsliberale Kreise für ihre «Begrenzungs-Initiative» zu gewinnen, wollte Ems-Chefin Martullo-Blocher die Kündigung der Personenfreizügigkeit mit dem Ende der Flankierenden Massnahmen verknüpfen. Die Volksinitiative scheiterte. Aber das Drohbild eines prekären Arbeitsmarktes mit Tieflöhnen und Endlosarbeitszeiten ist seither wie ein Menetekel an die Wand gepinselt. Würde es in die Realität umgesetzt, träfe es nicht nur viele in- und ausländische Arbeitnehmenden, sondern auch binnenwirtschaftlich orientierte KMU brutal.

Von der Abwehr zur Gestaltung des Rahmenvertrages

Dass die Gewerkschaften in diesem Umfeld hart reagieren mussten, ist klar. Die Stärkung der Gesamtarbeitsverträge und die flankierenden Massnahmen für entsandte Arbeit sind das Fundament der breiten Europaallianz, die seit der missglückten EWR-Abstimmung (fast) alle europapolitischen Angriffe der SVP parieren konnte. Man muss nicht Upton Sinclairs Romane aus der Zeit der Frühindustrialisierung lesen, um zu wissen, was die Stärke des (Arbeits-) Rechts vom Recht der Stärkeren unterscheidet. Auch unsere eigene Wirtschaftsgeschichte belegt, dass eine solide Sozialpartnerschaft das Fundament von Stabilität und breit geteiltem Wohlstand ist. Das wird auch in der Europäischen Union grundsätzlich so gesehen. Institutionell bestand jedoch von Anfang an ein Zielkonflikt zwischen den vier Wirtschaftsfreiheiten des europäischen Binnenmarktes und den sozialen Rechten, die nationalstaatlich ausgehandelt werden. Wiederholt haben die EU-Spitze und der europäische Gerichtshof versucht, nationale Arbeitsmarktregulierungen via Dienstleistungsfreiheit und «Herkunftslandprinzip» auszuhebeln. Im Extremfall würde das bedeuten, dass zum Beispiel eine ungarische Gesundheitsunternehmung ungarische Pflegefachkräfte zu ungarischen Löhnen in die Schweiz entsenden kann. Man muss keine Prophetin sein, um heftigsten Widerstand vorauszusagen. Wettbewerb kann nicht Wettbewerb auf Kosten von existenzsichernden Löhnen, Gesundheit und Familienleben sein.
Die Angst vor Lohndumping und Deklassierung beschäftigt nicht nur die Schweiz. Auch in den europäischen Ländern kommt es rund um Marktliberalisierungen, finanzpolitische «Strukturreformen» und die Personenfreizügigkeit immer wieder zu politischen Verwerfungen. Die Kritik an den neoliberalen Rezepten, die im Falle von Griechenland zu einem sozialen Desaster führten, nahm nach der Finanzkrise zu. Ab 2014 fanden unter dem Druck der europäischen Gewerkschaften wichtige Kurskorrekturen statt. Nach vielen Jahren des Binnenmarktvorranges sollen die Wirtschaftsfreiheiten heute sozial besser abgesichert werden. So hat die EU 2017 Grundsätze für eine «europäische Säule sozialer Rechte» beschlossen und darauf aufbauend Richtlinien für Mitbestimmungsrechte, die Durchsetzung der Lohngleichheit oder die Besserstellung von atypischen Arbeitsverhält¬nissen entwickelt. Dieser Paradigmenwechsel ist auch eine grosse Chance für die Schweiz. Denn sie öffnet den Weg für echte Verbesserungen und eine neue, breite Europa-Allianz.
Statt mit Notwehr können die Gewerkschaften nun wieder mit gestaltender Politik punkten. Ich bin froh darüber. Denn die Abwehrrhetorik war bisweilen zu europakritisch. Weder sitzen «in Brüssel oben» heute ausschliesslich «neoliberale Hardliner», welche die Schweiz piesacken wollen. Noch kann man ernsthaft behaupten, dass es auch ohne Institutionelles Abkommen geht. Die Beziehungen Schweiz-EU haben sich nach der Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative» merklich abgekühlt. Die durch Länder wie Polen oder Ungarn herausgeforderte EU-Kommission wird nicht hinter die Kernforderungen eines geregelten Streitschlichtungsmechanismus zurückgehen können. Die Probleme in der Forschungszusammenarbeit und bei den Marktzugängen bleiben deshalb bestehen. Auch Kulturschaffende und Studierende sind betroffen. Ihnen fehlt die Assoziierung an die Kooperationsprogramme Erasmus+ und Creative Europe. Deshalb ist es an der Zeit, wieder an einen Tisch zu sitzen und faire Lösungen zu suchen. Der SGB ist bereits dran. Er hat den Ball des Bundesrates aufgenommen und schlägt die autonome Übernahme von fortschrittlichen sozialpolitische EU-Regelungen vor. Auch Mittepräsident Gerhard Pfister hat eine Deblockierungslösung auf den Tisch gebracht. Er fordert den Ausbau der flankierenden Massnahmen, um das Lohnniveau in der teuren Schweiz zu schützen. Damit zeichnet sich ein mehrheitsfähiges Bündnis ab, das die Europapolitik auf eine progressive Basis stellen kann. Auch die Grünen sind Teil dieser Allianz.

Wo stehen die Grünen – und wohin wollen sie

Die grüne Europapolitik in der Schweiz war viele Jahre lang durch die Zerreissprobe der EWR-Abstimmung von 1992 belastet. Zwar stimmten gemäss VOX-Umfrage 54 Prozent der grünen Basis (darunter auch ich) dem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum zu. Die Mehrheit setzte sich also über die offizielle Parteiparole hinweg. Fast umgekehrt lief es bei der CVP. Trotz Ja-Parole und zwei Bundesräten an der Spitze betrug die Zustimmung auch hier nur 54 Prozent. Eine Erklärung dafür geben die kürzlich veröffentlichen Protokolle der Bundesratssitzungen von 1991. Offenbar war der Bundesrat – wie heute – in der Europafrage heillos zerstritten. CVP-, FDP- und SP-Bundesräte redeten den EWR-Vertrag hinter verschlossener Tür in Grund und Boden. Von «Kolonialstaat mit Autonomiestatut» war die Rede (FDP), vom «tranchenweisen abschlachten» der Schweiz (CVP), von Satellitenstaat (SP). Trotzdem führte man die Verhandlungen fort – und beschloss im Oktober 1991 parallel dazu die Flucht nach vorne, also den Beitritt zu Europäischen Gemeinschaft (EG). Ähnlich wie heute führte der Bundesrat die Schweiz mit Strategielosigkeit in die Sackgasse.
Bei den GRÜNEN dagegen löste das Verdikt von 1992 einer Neujustierung der Europapolitik aus. Das Nein zum EWR war von der damaligen Parteispitze mit fehlender Mitsprache und einseitigen Wirtschaftsinteressen begründet worden. Folgerichtig unterstützten die GRÜNEN die bilateralen Verträge, die mit den flankierenden Massnahmen einen sozialen Ausgleich brachten und dem menschenunwürdigen Saisonnierstatut endlich ein Ende setzten. 2006 gingen die GRÜNEN in die europapolitische Offensive. Die Delegiertenversammlung bekräftigte im «Arbeitspapier Ja zur Europa» das Ziel eines Beitritts der Schweiz zur Europäischen Union: «Letztendlich profitiert auch die Schweiz von Prosperität und Friede auf dem Kontinent.» Allerdings gab es auch Vorbehalte. Dazu gehörten der Erhalt der Volksrechte, die sicherheitspolitische Neutralität, die Verteidigung des Landverkehrsabkommens (Alpeninitiative), der Schutz des Boden- und Immobilienmarktes (Lex Koller), die soziale Kompensation einer Mehrwertsteuererhöhung und vieles mehr.

Mehr Steuerharmonisierung statt weniger Lohnschutz

Der EU-Beitritt steht als mittelfristige Vision für die GRÜNEN zwar weiterhin im Raum. Er ist jedoch keine realistische Option, um aus der aktuellen europapolitischen Sackgasse hinauszufinden. Der Bilaterale Weg – und somit die Lösung der institutionellen Fragen – bleibt weiterhin notwendig. Wir GRÜNE haben uns darum bis zuletzt für eine Verbesserung des Rahmenabkommens und eine Weiterführung der Verhandlungen eingesetzt. Unter dem Stichwort «mehr Steuerharmonisierung statt weniger Lohnschutz» brachten wir gemeinsam mit unseren europäischen Schwesterparteien und den Europäischen Gewerkschaften konkrete Anträge ins Europäische Parlament. Noch im Mai 2021 publizierten GRÜNEN-Präsident Balthasar Glättli und der damalige Europaparlamentarier Sven Giegold (heute Staatssekretär im Wirtschaftsministerium von Robert Habeck) einen Weg für die Lösungsfindung. Wenn die EU den Grundsatz «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» ernst nimmt, muss sie der Schweiz das heutig Schutzniveau zugestehen, sagte Giegold. Und: «Die Schweiz hat der EU einiges anzubieten. Ein Ende des Steuerdumpings und offene Transparenzregister etwa – im Gegenzug für mehr Zugeständnisse bei einem autonomen Lohnschutz.»
Noch bevor die Umsetzung vertieft werden konnte, brach der Bundesrat die Verhandlungen ab. Nun gilt es, die Scherben aus dem Weg zu räumen. Mit der Freigabe des zweiten Kohäsionsbeitrags zur Verringerung der sozialen Ungleichheit in Europa hat das Parlament zumindest ein erstes, atmosphärisches Zeichen gesetzt. Die GRÜNEN wollen diesen Beitrag verstetigen und gleichzeitig die Zusammenarbeit punktuell verbessern. In der vergangenen Sommersession haben wir unter anderem vorgeschlagen, dass sich die Schweiz an der Europäischen Solarallianz, an der europäischen Wiederaufbauplattform für die Ukraine und an der Europäischen Arbeitsbehörde beteiligt. Im Gegenzug soll die Vollassoziierung beim Forschungsrahmenabkommen «Horizont Europe» beschlosssen werden. Parallel dazu muss der Bundesrat endlich dazu bewegt werden, einen innenpolitischen Kompromiss für die Lösung der institutionellen Fragen zu zimmern. Der Ständerat hat es in der Herbstsession in der Hand, den Startschuss für die Erarbeitung eines Europagesetzes zu geben. Der Nationalrat ist hier schon ein Schritt voraus. Im Wissen darum, dass so rasch als möglich eine Lösung für einen fairen Streitschlichtungsmechanismus gefunden werden muss. So wie auf jedem guten Fussballplatz.

Es braucht eine breite Diskussion über die Chancen der Zusammenarbeit

Wichtig ist aus Sicht der GRÜNEN auch, dass die EU-Debatte nicht länger in kleinen Zirkeln geführt wird. Die Schweiz braucht endlich eine breite, ehrliche Grundsatzdiskussion über ihren Platz in Europa. Auch aus diesem Grund bereitet die Parteileitung der GRÜNEN zusammen mit anderen Organisationen eine Volksinitiative zur europäischen Integration vor. Dies in der Überzeuung, dass die Zukunft der Schweiz auf eine gedeihliche Entwicklung der europäischen Nachbarländer angewiesen ist. Die Herausforderungen in der Klima- und Energiepolitik, bei der Versorgungssicherheit mit existenziellen Gütern oder bei der Durchsetzung von Sicherheit und Menschenrechten lassen sich nur gemeinsam lösen. In dieser Zeit der globalen Krisen können nationalstaatliche Alleingänge keine Perspektiven bringen. Das hat die russische Invasion in der Ukraine in aller Deutlichkeit gezeigt.
Die Europa-Debatte wurde nun 30 Jahre lang von der SVP bis weit in die Mitte hinein vergiftet. Ziel der nationalistischen Kräfte, welche diese Gefühle seit 30 Jahren bewirtschaften, ist nicht das Wohl der Bevölkerung, sondern der Wunsch nach einer uneingeschränkten wirtschaftlichen Globalisierung, ohne politische Mitsprache und ohne Respektierung der Umwelt- und sozialen Rechte. Gemeinsam mit den progressiven Kräften in Europa wollen wir einen anderen Weg einschlagen und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, den sozialen Ausgleichs und die demokratischen Spielregeln stärken. Die Voraussetzungen für echte Fortschritte waren schon lange nicht mehr so gut wie heute. An uns liegt es, dass Europa gerechter und grüner wird!
Zur Person: Regula Rytz, Historikerin, Delegierte bei den European Greens, frühere Nationalrätin und Parteipräsidentin der Grünen Schweiz.
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