Wie weiter mit Migration, Vielfalt und Antirassismus?
Die Schweiz hat sich aufgrund von Einwanderung und Globalisierung tiefgreifend verändert. Etablierte Vorstellungen davon, wer die Schweiz ist, wer dazugehört und wer nicht, passen nicht mehr zu einer sozialen Realität, in der rund 40% einen Migrationshintergrund haben, und werden zurecht herausgefordert. Doch wie können wir migrationspolitische, diversitätsorientierte und rassismuskritische Ansätze zusammendenken, um die notwendige Demokratisierung der Schweizer Demokratie zu leisten?
Der Sommer 2020 stand in der Schweiz nicht nur im Zeichen von Covid-19, sondern auch von breiten antirassistischen Protesten. Dass die Black Lives Matter–Bewegung gleichzeitig zum 50. Jahrestag der Abstimmung zur sogenannten Schwarzenbach-Initiative mobilisierte, war Zufall. Das Zusammentreffen der Ereignisse könnte jedoch den Auftakt einer neuen Phase von politischen Auseinandersetzungen um Migration, Vielfalt und Rassismus in der Schweiz bedeuten. Um so wichtiger ist es, sich darüber auszutauschen, wie diese Themen zusammenhängen. Wo gibt es Unterschiede, wo Verbindungen, wo Spannungen und wo Resonanzen? Und vor allem: Ist es möglich, ein gesellschaftspolitisches Projekt zu entwickeln, das in der Lage ist, verschiedene migrationspolitische, diversitätsorientierte und antirassistische Perspektiven in einen produktiven Austausch zu bringen und eine breite solidarische Dynamik zu entwickeln, die die Demokratisierung der Schweizer Demokratie vorantreibt?
Die Schweiz hat sich aufgrund von Einwanderung, Globalisierung und dem gesellschaftlichen Umgang damit tiefgreifend verändert. Etablierte Vorstellungen, Bilder und Geschichten davon, wer die Schweiz ist, wer dazugehört und wer nicht, passen nicht mehr zu einer gesellschaftlichen Realität, in der rund 40% einen Migrationshintergrund haben, und werden zurecht zunehmend herausgefordert. Ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz hat heute kein hiesiges Bürgerrecht – Tendenz steigend. Allein diese Zahlen verdeutlichen, dass es eine neue Debatte zur Frage braucht: Wer ist die Schweiz? Ein Wandel im Selbstbild der Schweiz ist Voraussetzung, um diejenigen Strukturen zu ändern, die über Zugehörigkeit und gesellschaftliche Teilhabe entscheiden. Damit ist nicht nur eine grundlegende Reform des Schweizer Einbürgerungsrechts gemeint, das europaweit mit am restriktivsten ist, sondern eine Transformation der gesamten Kette von Entscheiden und Weichenstellungen, die eingewanderte Menschen und ihre Nachkommen zur Teilhabe ermächtigt: von der Frage des legalen Aufenthaltsstatus und Niederlassung über die Einbürgerung bis hin zum Umgang mit denjenigen, die zwar eine Schweizer Nationalität haben, aber weiterhin als fremd wahrgenommen werden. Was sind die Herausforderungen und Potenziale einer solchen Demokratisierungsbewegung in Hinblick auf Migration, Vielfalt und Antirassismus?
Wer soll sich integrieren im Migrationsland Schweiz?
Im Mai 1968 startete die Unterschriftensammlung zur Schwarzenbach-Initiative gegen «Überfremdung von Volk und Heimat«. Nur einen Monat später fand nahe Zürich die erste grosse Tagung statt, die der Frage nachging: «Ist die Schweiz ein Einwanderungsland?«. Seit über einem halben Jahrhundert ist die Antwort auf diese Frage gesellschaftlich umstritten und die Debatte um Migration bewegt sich zwischen zwei Polen: Überfremdung oder Integration.
Mit dem Inkrafttreten des Ausländer- und Integrationsgesetzes 2019 ist ein Zyklus von migrationspolitischen Kämpfen zum Abschluss gekommen, der in der Ära der «Gastarbeit« in den 1960er Jahren einsetzte und unsere Vorstellungen bis heute prägt. In diesem Kontext entstand in den 1970er Jahren die erste breite solidarische Bewegung, in der sich Schweizer*innen und Ausländer*innen mitenand gegen Diskriminierung und für gleichberechtige Integration (anstatt einseitige Assimilation) einsetzten. Die Aufnahmegesellschaft sollte aktive Massnahmen ergreifen, damit eingewanderte Menschen besseren Zugang zu Sprache, Arbeitsmarkt, Bildung und Wohnraum haben. So ambivalent der Begriff Integration heute ist, dürfen wir nicht vergessen, dass es sich hier lange um ein emanzipatorisches Programm handelte, das bis in die 1980er und 1990er Jahre viele Räume und Möglichkeiten eröffnet hat. Die Wirkung dieser Bewegung auf soziale Aufstiegsmöglichkeiten für Eingewanderte, Bildungswesen, Politik, Arbeitsmarkt, Kultur, Medien oder Alltag etc. ist nicht zu unterschätzen, auch wenn eine grundlegende Reform des Einbürgerungsrechts trotz mehrerer Anläufe bezeichnenderweise nicht durchgesetzt werden konnte.
Gerade auch weil der Begriff der Integration so erfolgreich war, wurde er ab den 1990er Jahren für eine Neuauflage rechtspopulistischer Überfremdungs- und Assimilationsdebatten in Beschlag genommen. Parallel schrieben sich neoliberale Vorstellungen vom «aktivierenden Staat« in die Integrationsdebatte ein, mit der disziplinierenden Maxime «Fördern und Fordern«. Integrationsbereitschaft und Integrationsgrad sind daher heute zentrale Entscheidungskriterien bei der ganzen Kette von Härtefall-, Aufenthalts-, Niederlassungs-, Einbürgerungs- und Ausschaffungsentscheiden und wiederkehrende Motive in überhitzten medialen Debatten um Migration. Die darin angelegte Logik des Verdachts öffnet Tür und Tor für soziale Selektion (Sozialhilfe, Schulden, Betreibungen als Ausschlussgrund) und implizite Diskriminierung nach Herkunft. Dieser strukturelle Ausschluss, der mit einem solchen Integrationsverständnis mitproduziert wird, untergräbt Grundprinzipien der Schweizer Demokratie und gefährdet damit deren Zukunft.
Das Projekt Integration entstand in der Schweiz im Geist der 1960er und ist heute in die Jahre gekommen. So basiert es auch auf der Vorstellung, dass sich aufgrund von Einwanderung zwei Gruppen gegenüberstehen «Schweizer« und «Ausländer« und es darum ginge, letztere einzugliedern. Aufgrund der demografischen Entwicklung ist diese Vorstellung zweier gegenüberstehender Gruppen längst obsolet geworden. In Anbetracht von heute rund 40% Schweizer*innen mit Migrationshintergrund, Mehrfachzugehörigkeiten und transnationalen Lebenswelten stellt sich die Frage der Integration nicht mehr in derselben Weise wie noch vor einem halben Jahrhundert. Zudem ist die Einwanderung seit den 1980er Jahren globaler geworden, Formen und Hintergründe der Migration wurden vielfältiger. Die Second@s-Bewegung der 1990er und 2000er Jahre verkörperte diesen Wandel erstmals. Postmigrantische Stimmen, die sich in den letzten Jahren auch in der Schweiz Gehör verschafften, brachten mit dem Slogan «Demokratie statt Integration« einen grundlegenden Perspektivenwechsel auf den Punkt. Integration ist für die neuen Generationen kein emanzipatorischer Kampfbegriff mehr, sondern klingt wie eine Zumutung. Die Herausforderung besteht heute darin, wie man dieser veränderten Situation Rechnung tragen kann und zugleich die integrationspolitischen Errungenschaften der früheren Generationen nicht aus dem Blick verliert. Denn diese haben den Raum für postmigrantische Stimmen heute überhaupt erst geöffnet, etwa durch Förderung sozialen Aufstiegs, und bleiben daher für neu eingewanderte Menschen weiter wichtig. Ein Weg bestünde darin, die Frage der Integration nicht einfach abzuschreiben, sondern auf die Gesamtgesellschaft zu übertragen und zu fragen: Was für Anstrengungen müsste gemacht werden, um die Einwanderungsgesellschaft Schweiz als Ganze «in sich« neu zu integrieren, in demokratischer, freiheitlicher, solidarischer und sozial gerechter Weise? Welches gesellschaftliche Selbstbild und welche Strukturen bräuchte es, um einen neuen Gemeinsinn für eine pluralere Demokratie zu stiften?
Vielfalt oder Einfalt?
Parallel zur Frage der Integration, entwickelte sich in der Schweiz ein Diskurs um migrationsbedingte Vielfalt: Die ersten Ansätze zu einer multikulturellen Einwanderungspolitik reichen in der Schweiz bis in die 1970er Jahre zurück. Im Windschatten der Vorstellung von Integration als strukturelle Öffnung der Aufnahmegesellschaft (und nicht als Anpassung der Eingewanderten) setzten sich Ausländer*innen und Schweizer*innen zusammen für das Recht von Minderheiten ein, die eigene kulturelle Identität auch im Einwanderungsland wahren zu können. Doch erst als die Einwanderung ab den 1980er Jahren globaler und diverser wurde, entwickelte sich ein zunehmendes Bewusstsein für eine neue dauerhafte ethnische Vielfalt im Land, vor allem in den Städten. Für viele Eingewanderte eröffnete dies neue Möglichkeiten nicht nur der kulturellen Anerkennung, sondern auch der ökonomischen Teilhabe und des sozialen Aufstiegs, im Bildungswesen, als Unternehmer*innen etc.
Auch angeregt von Debatten in anderen Ländern, vor allem in Deutschland, entbrannten in den frühen 1990er Jahren erstmals öffentliche Auseinandersetzungen um die Frage, ob die Schweiz eine «multikulturelle Gesellschaft« sei. Leitend waren schon hier die Frage nach den Grenzen der Vielfalt, am Beispiel religiöser Fundamentalismen. In dieser Zeit wurde ein Diskussionsrahmen etabliert, der bis heute die politische Wahrnehmung prägt und polarisiert: Vielfalt wird entweder als Bedrohung der Gesellschaft verstanden oder als Bereicherung. Die Abwehr migrationsbedingter ethnischer Pluralisierung wurde zum Zugpferd einer neuen Rechten, die zunehmend auch Wähler*innen mobilisieren konnte, die sich sozial abgehängt fühlen. Auf der anderen Seite wurde das Zelebrieren und Konsumieren von kultureller Vielfalt zum Life-Style urbaner kosmopolitischer Milieus. Diese Entwicklung hängt auch mit den Veränderungen des globalen Kapitalismus nach der Krise Mitte der 1970er zusammen, die auch den Alltag in der Schweiz grundlegend verändert haben: Globalisierung von Produktionsketten, Märkten und Kundensegmenten einerseits; Individualisierung und Diversifizierung von Produktpaletten, Konsumangeboten und Zielgruppen andererseits. Städte wie Zürich wurden ab den 1990ern zu global cities. Spätestens im Zeitalter sozialer Medien erweisen sich Konzepte wie Diversität, und damit verbunden Identität, auch als Jungbrunnen globalisierter ökonomischer Wertschöpfung.
Das Thema migrationsbedingte Vielfalt polarisiert. Diese Konfrontation ist auch deswegen so hartnäckig, weil die zugrundeliegende Spannung zwischen gesellschaftlicher Vielfalt und Einheit in Nationalstaaten angelegt ist und sich nicht einfach auflösen lässt. Auf beiden Extremen produziert sie blinde Flecken. Wer ethnische Homogenisierung fordert, muss darlegen, was mit realexistierender ethnischer Vielfalt passieren soll, ohne zu diskriminieren und demokratische Grundwerte zu gefährden. Wer hingegen Vielfalt begrüsst, muss darlegen, wie ein neuer Gemeinsinn gestiftet werden kann, der die Schweizer Gesellschaft in Zeiten von Migration und Globalisierung zusammenhält und was dessen Grenzen sind. Das gilt umso mehr, als dass die Frage, was eigentlich migrationsbedingte Vielfalt heisst, zwar viele Bilder und Klischees hervorruft, aber letztlich nicht so leicht zu beantworten ist: Handelt es sich um ein Nebeneinander von abgegrenzten soziokulturellen communities mit klar definierten Identitäten, wie im angloamerikanischen Raum eher angenommen wird? Wenn ja, wer definiert und repräsentiert diese? Wie vermeidet man, dass da im Namen der Vielfalt essenzialisierende Vorurteile über «Fremde« und auch «Einheimische« reproduziert werden, die uns wieder in Schubladen stecken? Was machen wir, wenn sich soziale Zusammenhänge im Austausch tatsächlich fortlaufend verändern, vermischen, hybridisieren? Wie lassen sich die postmigrantische Vielfalt und die eidgenössische Vielfalt der Sprachregionen und Dialekte zusammendenken? Wie kann dabei der Graben zwischen Stadt und Land überwunden werden? Eine Möglichkeit diese Ausgangslage für die Zukunft produktiv zu machen, bestünde darin, von einer ergebnisoffenen Frage auszugehen: Migrationsbedingte Pluralisierung hiesse so gesehen, ein verbindliches gesellschaftliches Gespräch darüber zu lancieren, was Vielfalt in einer demokratischen Gesellschaft bedeuten kann und welches Selbstbild bzw. welche Strukturen der Teilhabe eine plurale Demokratie im Zeitalter von Migration und Globalisierung braucht. Es geht um einen transformativen Aushandlungsprozess, der dazu beiträgt, Brücken zu bauen und gleichzeitig Fremdenfeindlichkeit und Rassismus abzubauen.
(Anti-)Rassismus und postkoloniale Perspektiven
Rassismus hat in der Schweiz eine lange Geschichte und viele Gesichter. In der Zeit des europäischen Kolonialismus, in den die Schweiz auch ohne eigene Kolonien in vielfältiger Weise involviert war, prägten rassistische Vorurteile über vermeintlich «primitive Völker« damals das eigene Selbstverständnis der Schweiz als «zivilisierte Nation«. So waren zum Beispiel Völkerschauen – etwa an Landesausstellungen – über eine lange Zeit populäre Spektakel der Schweiz. Rassismus spielte in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert zudem vor allem auch im Umgang mit Einwanderung eine praktische, strukturbildende Rolle. Er legitimierte den Aufbau von Grenzen und einer Fremdenpolizei. Migrationsabwehr, Überfremdungsangst und Rassismus hängen in der Schweiz also seit über hundert Jahren eng zusammen. «Allzu fremde« Menschen sollten nicht in die Schweiz kommen dürfen. im frühen 20. Jahrhundert waren damit zunächst Jüd*innen, Fahrende und ausländische linke Revolutionär*innen gemeint. Und schon seit dem späten 19. Jahrhundert und vor allem dann ab den 1960er Jahren standen Gastarbeiter*innen mehrheitlich aus Südeuropa im Scheinwerferlicht des Rassismus. Als die Einwanderung in die Schweiz in den 1980er Jahren globaler wurde, richtete sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die neuen Asylbewerber*innen und Flüchtlinge aus Osteuropa, Asien, Afrika und Lateinamerika. Kulturell verankerte, latente kolonialrassistische Vorstellungen wurden nun zunehmend Bestandteil eines vielschichtigen Alltagsrassismus gegenüber den neuen Mitmenschen in der Schweiz.
Fremdenfeindliche und rassistische Vorurteile über Herkunft und Kultur von Einwanderer*innen, und deren vermeintlich fehlendes Potenzial gute Schweizer*innen zu werden, unterfüttern, stabilisieren und legitimieren heute – bewusst oder unbewusst – den selektiven Ausschluss, den das Schweizer Migrationsregime produziert. Sie können wirksam werden, wenn über Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe entschieden wird, etwa bei Aufenthalts-, Niederlassungs- und Einbürgerungsentscheiden, auf dem Bildungs-, Arbeits- und Wohnungsmarkt oder etwa auch bei polizeilichem Profiling.
Seit den 1960er Jahren hat es in der Schweiz aber immer wieder solidarische Bewegungen gegen rassistische Diskriminierung gegeben. Diese wurden gemeinsam von Menschen mit und ohne Rassismuserfahrung getragen: angefangen von der Zeit der Schwarzenbach-Initiative über die breite Bewegung der 1980er/1990er Jahre im Asylkontext, die u.a. zur Einführung der Rassismus-Strafnorm führte, bis heute. Auf diesem Erfahrungsschatz können aktuelle Proteste etwa auch in der Black Lives Matter-Solidarität aufbauen.
Auch die Aufarbeitung der (post)kolonialen Verstrickungen der Schweiz geht bis in die späten 1960er Jahre zurück, u.a. auf Initiativen aus dem Kontext der Schweizer Kirchen. Die Aktualisierung dieser Debatte bietet heute die Möglichkeit, die Herkunftsgeschichten derjenigen neuen Schweizer*innen ins kulturelle Gedächtnis der Schweiz einzuschreiben, deren Familien aus ehemaligen Kolonialgebieten stammen, aber auch von denjenigen, deren Schweizer Vorfahren in den hiesigen Fabriken der reichen Kolonialunternehmen unter ausbeuterischen Bedingungen ihre Arbeitskraft verkaufen mussten.
Postkoloniale Perspektiven können den Blick für die Geschichte und Gegenwart der Einwanderungsgesellschaft Schweiz und ihre globalen Verflechtungen öffnen.
Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von Rassismus spielt eine wichtige Rolle für eine Pluralisierung der Schweizer Demokratie, gleichberechtigt neben und in Verbindung zu Themen wie Migration, Feminismus, soziale Ungleichheit u.a.m. Eine solche intersektionale Perspektive ist wichtig, solange sie nicht additiv verstanden wird bzw. keine falschen Opferhierarchien und vereinfachten personalisierten Feindbilder aufbaut. Das Thema Rassismus hat sonst eben auch das Potenzial gesellschaftliche Gräben zu vertiefen, zu polarisieren und mediale Eskalationsspiralen zu befeuern. Der Blick über den Atlantik hat der hiesigen Antirassismusbewegung seit den 1960er Jahren immer wieder wichtige Impulse gegeben, so auch heute. Doch eine allzu starke Orientierung am eskalierten US-amerikanischen Konflikt mit seiner festgefahrenen Schwarz / Weiss-Logik überblendet die vielschichtige und historisch anders gelagerte Situation in der Schweiz. Anstatt Gefahr zu laufen, Trennlinien der verschiedenen Rassismen exkludierend-identitär zu reproduzieren, besteht die Herausforderung darin, diese dauerhaft solidarisch zu überwinden – dezidiert und nachsichtig zugleich.
Eine neue Schweiz… für alle die da sind und die noch kommen werden!
Die wachsende Diskrepanz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit des Einwanderungslandes Schweiz hat im letzten halben Jahrhundert ein immenses Demokratiedefizit produziert, das die gesellschaftliche Zukunft gefährdet. Es untergräbt den eigenen, zurecht hohen Anspruch an eine direkte und gelebte Demokratie. Egal wie man zum gesellschaftlichen Wandel durch Migration und Vielfalt steht, es handelt sich um eine unumkehrbare Entwicklung, die es möglichst demokratisch, freiheitlich und sozial gerecht zu gestalten gilt. Migration wird auch in Zukunft weiter stattfinden, wegen globaler Dynamiken, Krisen und Konjunkturen, aber vor allem auch, weil das Geschäftsmodell der Schweizer Wirtschaft weiterhin auch auf «ausländischen Arbeitskräften« beruht.
Am deutlichsten werden die sozialen Kosten für das Ausblenden dieser Realität bei der Tatsache, dass ein Viertel der dauerhaften Wohnbevölkerung im Land kein hiesiges Bürgerrecht hat, ganz zu schweigen von zehntausenden illegalisierten Menschen, die von den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie heute mit am stärksten betroffen sind. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit wurden in den letzten Jahren weitere Veränderungen im Ausländer- und Einbürgerungsrecht umgesetzt, die das bestehende Demokratiedefizit noch verschärfen. Warum hat dies bislang zu keinem Aufschrei in der Öffentlichkeit geführt? Weil viele – egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund bzw. Rassismuserfahrung – folgenden Zirkelschluss verinnerlicht haben: Wer Ausländer ist, gehört nicht dazu und ist nicht gleichberechtigt. Wer nicht dazu gehört und gleichberechtigt ist, muss wohl fremd sein, auch in der zweiten und dritten Generation.
Das Beispiel zeigt, wie sich Vorstellungen und Strukturen des Ausschlusses gegenseitig legitimieren, reproduzieren und schlussendlich normalisieren. Hier kann man viel von der Frauenbewegung lernen: Um Institutionen dauerhaft ändern zu können, braucht es auch einen nachhaltigen Kulturwandel. Um die Demokratisierung der Schweiz im Zeitalter von Migration und Globalisierung in den nächsten Jahren voranzutreiben, braucht es ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis, das den Raum öffnet für gerechtere Strukturen der Teilhabe, dazu gehört eine grundlegende Revision des Bürgerrechts. Dabei ginge es aber nicht nur um die Frage politischer Partizipation, also um Stimm- und Wahlrecht, sondern auch um Aspekte eines weiter verstandenen Citizenships wie Aufenthalt, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, Sicherheit und Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, aber auch kulturelle Anerkennung und Würde. Wenn selbst Mitmenschen mit Schweizer Pass aufgrund von Hautfarbe, Aussehen, Name, Sprache, Lebensweise im Alltag als «fremd« wahrgenommen und behandelt werden, dann wird deutlich, dass das Problem nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine kulturelle Dimension hat und dass es an der Zeit ist, das Momentum der aktuellen migrationspolitischen, diversitätsorientierten und rassismuskritischen Initiativen zusammenzubringen und eine breite Demokratisierungsbewegung aufzubauen, in deren Zentrum eine Frage stünde: Wer ist die Schweiz? Demokratisierung hiesse dann, ein neues Wir zu entwickeln. Es hiesse gemeinsam Verantwortung und Sorge für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Schweizer Gesellschaft im globalen Zusammenhang zu tragen, für alle die da sind und die noch kommen werden.
Zum Autor: Kijan Espahangizi ist Historiker und Mitbegründer des postmigrantischen Think & Act Tanks Institut Neue Schweiz INES
Foto: Guadalupe Ruiz, Äpfel und Birnen (2015) | mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin | lupita.ch