Leonard Creutzburg

Kommentar

Von Wachstum über Suffizienz zu Postwachstum
24.08.2023 | Wirtschaftliches Wachstum gilt in der institutionellen Politik nach wie vor als das wichtige wirtschaftspolitische Ziel. Gleichwohl zeigt die Empirie, dass sich Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum ausschliessen. Zudem erhöht Wirtschaftswachstum ab einem gewissen Lebensniveau nicht mehr die persönliche Zufriedenheit. Postwachstum stellt vor diesem Hintergrund ein Alternativprogramm dar, das eine umfassende gesellschaftliche Transformation impliziert. Massnahmen im Bereich der Suffizienz können dahingehend als ein erster Ansatzpunkt fungieren, da sie auch lokal umgesetzt werden können. Suffizienzmassnahmen eignen sich somit als Türöffner für eine Postwachstumspolitik, von der sie gleichzeitig immer ein wichtiger Bestandteil bleiben. Bürger:innenräte könnten hinsichtlich der Einführung eine interessante Rolle spielen.
Der 13. Mai 2023 war ein unscheinbarer Tag. Wie so viele Tage im Frühling dieses Jahres, war auch er zu kalt für die Jahreszeit. Zürich war wolkenverhangen und es nieselte durchwegs. Und doch ist dieses Datum eines, das man sich merken sollte. Denn die in der Schweiz wohnende Bevölkerung hat an diesem Tag – dem nationalen Erdüberlastungstag – im Durchschnitt so viel von der Natur verbraucht, wie der Planet im ganzen Jahr erneuert.
Ein grosser Teil der Gesellschaft, der sich beruflich nicht mit Nachhaltigkeit beschäftigt oder sich privat nicht dafür interessiert, scheint Meldungen wie diese schnell wieder zu vergessen. Ein anderer Teil, der sich damit gewissermassen auseinandersetzen muss, Akteur:innen aus der Politik beispielsweise, betonen seit geraumer Zeit das sogenannte «grüne Wachstum» als Alternative zum bisherigen Wachstumsmodell, um der Erdüberlastung entgegenzusteuern.
Das «klassische» Wirtschaftswachstum wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Kern von Wirtschaftspolitik. Durch billige fossile Energie zogen die Wachstumsraten stark an – und mit ihnen der gesellschaftliche Wohlstand in Form von höheren Einkommen pro Kopf. Diese Entwicklung brachte tatsächlich zahlreiche positive Effekte mit sich; in westlichen Gesellschaften wurde Mitte der 1970er Jahre ein Einkommensniveau erreicht, das zu einem robusten subjektiven Wohlbefinden führte. So wurden grundlegende menschliche Bedürfnisse gestillt – allen voran Gesundheit, Wohnen und Ernährung – und ein gewisses Mass an Konsum war möglich. Seither hat sich die Schweizer Wirtschaftsleistung nochmals verdoppelt und mit dem Wachstum stiegen auch die Löhne kontinuierlich an. Ähnliches gilt für andere Länder des globalen Nordens.
Doch spannend ist: Trotz dieses Wachstums hat das subjektive Wohlbefinden nicht weiter zugenommen. Dies ist in der Wissenschaft als «Easterlin-Paradox» bekannt. Es zeigt auf, dass das Pro-Kopf-Einkommen bis zu einem gewissen Grad (und gerade für sehr niedrige Einkommen) die Zufriedenheit tatsächlich ansteigen lässt – anschliessend aber abflacht resp. komplett zum Erliegen kommt. Und dies lässt sich auch objektivieren: Wenn man Zufriedenheit – als ein subjektives Mass – durch die Lebenserwartung ersetzt – als ein objektives –, zeigt sich, dass auch die Lebenserwartung bis zu einer gewissen Höhe des Pro-Kopf-Einkommens ansteigt, bevor die Kurve abflacht. Ab einem gewissen Punkt steigt also mit einem höheren Einkommen die Lebenserwartung nicht mehr an; bedeutender sind dann soziale Faktoren.

«Grünes Wachstum» gibt es nicht

Aus dem sozialen Blickwinkel ist die Evidenz somit eindeutig: Mehr Wachstum im Sinne von Einkommen führt ab einer gewissen Höhe nicht zu einer höheren Lebenszufriedenheit oder Lebenserwartung. Fokussiert man sich auf das Ökologische, liefert die Empirie auch eindeutige Antworten. Einige Länder haben es geschafft, ihre Treibhausgasemissionen von ihrem Wirtschaftswachstum zu entkoppeln, und das teilweise sogar absolut.1 Jedoch schafft kein Land eine ausreichend absolute Entkopplung, um unter der 1.5°C-Grenze zu bleiben. Ferner ist Nachhaltigkeit bekanntlich mehr als der Treibhausgasausstoss. Zieht man auch den Ressourcenverbrauch mit ein, wird klar: hier findet lediglich eine relative Entkopplung statt. Eine relative Entkopplung impliziert, dass bei einer wachsenden Wirtschaft somit trotzdem mehr Umwelt verbraucht wird, in dem Fall mehr Ressourcen. So wird sich der Schweizer Erdüberlastungstag nicht nach hinten verschieben. Kurzum: «Grünes Wachstum» gibt es nicht.
Dass der politische Mainstream trotz der wissenschaftlichen Erkenntnisse in Bezug auf die Entkopplung weiterhin an «grünem Wachstum» festhält, hat unterschiedliche Gründe, die an dieser Stelle auszuführen den Rahmen des Artikels sprengten. Zwei miteinander verwobene Ursachen sind einerseits, dass zahlreiche gesellschaftliche Institutionen inhärent von Wirtschaftswachstum abhängen, wie Seidl und Zahrnt im Denknetz-Jahrbuch von 2021 anschaulich darlegen. Exemplarisch sei hier die Alterssicherung genannt: Sowohl die AHV als auch die zweite Säule sind auf Wachstum angewiesen, entweder indirekt durch das Umlageverfahren oder direkt durch das Kapitaldeckungsverfahren. Zum anderen würde eine Abkehr von Wachstum womöglich auch eine implizite Verabschiedung vom Kapitalismus bedeuten, da die Akkumulation von Kapital ein inhärenter Teil des Systems ist. Ein Wachstumsstopp würde – ganz offensichtlich – bedeuten, die Wirtschaftsordnung fundamental umzubauen.

Postwachstum als Alternative

Während diese im Absatz zuvor angerissenen Punkte Erklärungen darstellen, sollen und können sie keineswegs als Entschuldigung für das verantwortungslose Unterlassen der handelnden Akteur:innen dienen, die ökologischen Probleme ernsthaft anzugehen. Vor diesem Hintergrund offeriert Postwachstum als Alternative ein konkretes Gegenprojekt zum wachstumsbasierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Postwachstum hat die Absicht, alle notwendigen sozialen Ziele zu erreichen, die ökologischen Grenzen einzuhalten und unabhängig von wirtschaftlichem Wachstum zu sein – und dadurch auch resilienter. Dabei fokussiert sich Postwachstum auf drei Punkte, die zwangsläufig miteinander verknüpft werden müssen:
  1. Effizienz: Wir brauchen effizientere Verfahren und Maschinen, die bei ihrer Nutzung und Herstellung weniger Ressourcen verbrauchen. Es geht darum, die Effizienz der Ressourcennutzung weiter zu erhöhen. Dieser Ansatz ist allseits bekannt und akzeptiert – von links bis rechts im politischen Spektrum.
  2. Konsistenz: Unsere Art der Produktion bedarf einer Umstellung auf naturverträgliche Technologien. Es reicht nicht, den Verbrennungsmotor noch effizienter zu gestalten – er muss schlichtweg «exnoviert» werden. Elektrische Antriebe, um bei dem Beispiel zu bleiben, müssen alte Technologien ersetzen. Dies stösst bereits auf Widerstand, da es einen gewissen Grad an sozialem Wandel erfordert.
  3. Suffizienz: Auch naturverträgliche Technologien verbrauchen jedoch Ressourcen. Seltene Erden, die für die Herstellung von E-Motoren genutzt werden, sind begrenzt, womit es auch Wachstumsgrenzen gibt. An dieser Stelle kommt die Suffizienz ins Spiel: Die Nachfrage muss verringert werden – und zwar von der Volkswirtschaft bis zum Individuum. Es geht um die institutionelle Organisation des Weniger. Wieder das Beispiel: Wir brauchen nicht mehr E-Autos, sondern weniger Autos. Von allen drei Elementen bedeutet Suffizienz den mithin grössten Eingriff in die aktuelle Ordnung und stösst wohl auf am meisten Widerstand, da sie bedeutet, dass Lebensstile und -verhältnisse grundlegend(er) angepasst und geändert werden müssen.
Effizienz und Konsistenz sind also notwendige Bedingungen für eine nachhaltige Umgestaltung unserer Wirtschaftsweise und firmieren in der Öffentlichkeit unter dem Begriff des bereits mehrfach erwähnten «grünen Wachstums». Sie sind aber eben lediglich notwendig, nicht jedoch hinreichend; dies sind sie nur in der Gemeinschaft mit der Suffizienz.
Postwachstum integriert diese drei Elemente – Effizienz, Konsistenz und Suffizienz – und impliziert dabei einen grundlegenden Umbau unserer Art des Lebens und Wirtschaftens. So wird nicht nur die erwähnte Altersvorsorge umgebaut werden müssen, auch unsere Art des Arbeitens, des Wohnens, der Mobilität – all dies wird in einer Postwachstumsgesellschaft anders strukturiert sein müssen.

Suffiziente (Verkehrs-)Politik

Während Postwachstum zwangsläufig mithin grosse, transformatorische Fragen aufwirft und Antworten einfordert, die theoretisch ausgearbeitet werden (müssen), beginnen gesellschaftliche Veränderungen oft im Kleinen. An dieser Stelle kommt die Suffizienzpolitik, also eine Politik zur Verringerung unseres Umweltverbrauchs, ins Spiel. Mit einzelnen, lokalen als auch nationalen Massnahmen, die verhältnismässig leicht umgesetzt werden können, ist es möglich, Suffizienz gesellschaftlich einzuführen und wachstumsabhängige Bereiche peu à peu umzugestalten. (Lokale) Suffizienzmassnahmen können somit als Vehikel für den Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft angesehen werden.
Für Suffizienzmassnahmen eignen sich viele Politikbereiche; ich möchte die Verkehrspolitik exemplarisch beleuchten.
«Klassischerweise» wird in der Verkehrspolitik auf Reformen gesetzt. Dazu zählen bspw. die Einführung von Velo-Vorzugstrassen, der Abbau innerstädtischer und/oder öffentlicher Autoparkplätze oder ein Ampel-System für Fussgänger:innen, das nur auf Verlangen grün für Autofahrende anzeigt. Der Suffizienzcharakter zeigt sich darin, dass das der Suffizienz innewohnende Prinzip des «institutionellen Weniger» zu tragen kommt, indem der Autoverkehr eingeschränkt und mithin reduziert wird. Gleichwohl stossen solche Massnahmen auf Grenzen im bestehenden System. An dieser Stelle kann auf das Konzept der «nicht-reformistischen Reformen» des österreichisch-französischen Sozialphilosophen André Gorz verwiesen werden:
«Eine Reform ist […] nicht unbedingt reformistisch, wenn sie ihre Forderungen nicht danach richten, was in einem gegebenen System und in einer vorhandenen Ordnung möglich ist, sondern nach dem, was möglich gemacht werden muss, um menschliche Bedürfnisse und Ansprüche zu erfüllen […] [N]ichtreformistische, antikapitalistische Reformen […] richte[n] sich nicht nach dem, was sein kann, sondern nach dem, was sein soll.»
Auf die Verkehrspolitik bezogen heisst das, «menschliche Bedürfnisse» zu erfüllen und nicht die gewisser Wirtschaftszweige, allen voran der Autoindustrie. Das bedeutet zum einen, das menschliche Bedürfnis der Mobilität günstig und gerecht zu gewährleisten, wie die Einführung eines günstigen (ggf. gar kostenlosen) öffentlichen Nahverkehrs sowie die generelle Förderung des Bahnverkehrs als emissionsarme Mobilitätsform, indem dieser gegenüber dem motorisierten Individualverkehr (MIV) und Flugverkehr steuerlich und gesetzgeberisch durchweg (!) bevorzugt wird. Zum anderen hiesse es auch, die «vorhandene Ordnung» unter dem Primat der Nachhaltigkeit umzubauen, was im Umkehrschluss impliziert: gegenwärtige Zustände radikal zu verändern. Dazu könnten autofreie Zonen zählen, insbesondere in (Innen-)Städten, Beschränkungen für die Anzahl an Autozulassungen einzuführen, SUVs zu verbieten, ein Moratorium für den Ausbau von Autobahnen und Flughäfen einzuführen und/oder den Flugverkehr (insbesondere auch denjenigen von Privatjets) generell einzuschränken.
An den vorangegangenen Beispielen zeigt sich, dass lokale Massnahmen schnell zu nationalen oder gar internationalen werden, da gewisse Bereiche inhärent international ausgerichtet sind, wie der Flugverkehr, und dadurch schwieriger umzusetzen sind. Lokale Suffizienzmassnahmen können aber relativ zügig eingeführt werden, wenn der politische Wille vorhanden ist. Dass Bürger:innen nicht vor radikalen Vorschlägen zurückschrecken, zeigt sich insbesondere bei (nationalen) Bürger:innenräten, die bereits in Spanien und Frankreich eingesetzt worden sind. In diesen erarbeiten zufällig oder anhand der Demographie ausgewählte Bürger:innen – mit Zugang zu Expert:innen – Politikvorschläge zu spezifischen Themenbereichen. In Frankreich sprach sich der «Klima-Bürgerrat» im Jahr 2021 hinsichtlich des Verkehrssektors, unter anderem, für folgende Massnahmen aus :
  • «Fahrverbot in Stadtzentren für die Fahrzeuge, die die meisten Treibhausgase ausstossen.»
  • «Reduzieren der Geschwindigkeit auf Autobahnen auf maximal 110 km/h.»
  • «Bis 2025 schrittweise die Einstellung des Flugverkehrs auf Inlandsflügen organisieren, und zwar nur auf Strecken, auf denen es eine preislich und zeitlich befriedigende, CO2-arme Alternative gibt (bei einer Reisedauer von weniger als 4 Stunden).»
  • «Verbot des Baus neuer Flughäfen und des Ausbaus bestehender Flughäfen.»
Wenngleich nicht alle Massnahmen umgesetzt wurden resp. teilweise abgeändert worden sind, gab es doch Erfolge aufzuweisen: Bei einer Reisedauer von unter zweieinhalb Stunden per Zug sind Inlandsflüge in Frankreich nun verboten.
Vor allem machen diese Vorschläge aber deutlich, dass Bürger:inneräte, die von unabhängigen Personen besetzt werden, in der Lage sind, die aktuelle Lage der ökologischen Krise mit konkreten Suffizienzvorschlägen zu verknüpfen, die den Weg in eine Postwachstumsgesellschaft ebnen können.2
Auf lokaler Ebene gibt resp. gab es solche Ansätze in der Schweiz schon; das «Bürgerpanel für mehr Klimaschutz» in der Stadt Uster (ZH) sei hier exemplarisch genannt. Auf Bundesebene tagte in der Schweiz 2022 der «Bürger:innenrat für Ernährungspolitik»; nach der Übergabe eines Katalogs mit Empfehlungen an die Politik Anfang dieses Jahres endete seine Arbeit. Es ist zu befürchten, die von ihm ausgearbeiteten Vorschläge nicht (verpflichtend) eingeführt werden. Einen generellen Klima-Rat oder Ähnliches auf Bundesebene gibt es in der Schweiz ohnehin nicht.
Wenn in der Ausgestaltung eines solchen (zukünftigen) Umwelt- oder Klima-Bürger:innenrates aber gewisse Verpflichtungen seitens der institutionellen Politik definiert werden, gibt es ein grosses Potenzial, dass Suffizienzmassnahmen an Bedeutung gewinnen.3 Verlassen kann man sich darauf aber nicht. Gemeinschaftliches Hinwirken durch politisches Handeln auf allen Ebenen – Aufrufe, Demonstrationen, Beteiligung an Abstimmungen – ist immer und in den kommenden Jahren umso mehr gefragt, damit der Erdüberlastungstag in der Schweiz mittelfristig auf dem 31. Dezember zu liegen kommt.
Autor | Leonard Creutzburg, Dr. sc. nat., forscht als Postdoc an der Professur für Informatik und Nachhaltigkeit an der Universität Zürich zu Suffizienz und Postwachstum. Er ist Mitbegründer von «Degrowth Schweiz»; der Verein setzt sich für Postwachstum in der Schweiz ein.

Fussnoten

1. Eine absolute Entkopplung zwischen THG-Emissionen und Wirtschaftswachstum bedeutet, dass der Ressourcenverbrauch konstant sinkt, wenn die Wirtschaft gleichzeitig wächst.
2. Eine Postwachstumsgesellschaft wäre letztlich eine Gesellschaft, in der die grundlegenden Bereiche institutionell so umgebaut wären, dass Wirtschaftswachstum für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Leistungen nicht mehr notwendig wäre, bspw. bei der Altersvorsorge.
3. Bürger:innenräte sollen dabei nicht als Ersatz der institutionellen, also der parlamentarischen Demokratie verstanden werden, sondern als Ergänzung ebendieser. Dabei gilt zu beachten, dass es unterschiedliche Ansätze in zahlreichen Ländern gibt, die u. a. hinsichtlich Auswahl, Themen, Organisation und Entscheidungsfindung variieren. Zudem muss von vornherein definiert werden, wie mit den ausgearbeiteten Vorschlägen seitens der institutionellen Politik umgegangen wird.