Vom Kantönligeist zum Föderalismus 2050
Der schweizerische Föderalismus sieht sich immer wieder mit Kritik konfrontiert. Jüngst wurde darüber debattiert, ob der Föderalismus geeignet sei, um eine Pandemie zu bekämpfen. Denknetz-Mitglied Günther Latzel setzt sich in seinem Text vertieft mit dieser für die schweizerische Demokratie wichtigen Thematik auseinander und wirbt für ein progressives Föderalismus-Konzept. Beitrag von Günther Latzel.

Föderalismus unter Druck

Am 17. Juni 2021 lud die Zürcher Kantonsregierung unter dem Titel «Föderalismus – was sonst?» zu einer doch recht ausserordentlichen Pressekonferenz ein. Angeführt von der aktuellen Regierungspräsidentin Jacqueline Fehr nahmen daran der Vizepräsident des Regierungsrates, Finanzdirektor Ernst Stocker, Jürg Kündig der Präsident des Verbandes der Zürcher Gemeindepräsidien und Rahel Freiburghaus, die an der Universität Bern über den Föderalismus forscht, teil. Was trieb die Zürcher Regierung dazu an, sich so prominent zum Föderalismus äussern zu wollen? Es war die Kritik am Kantönligeist bei der Bekämpfung der Corona-Krise und daran, dass für alles, was nicht gut lief, dem Föderalismus die Schuld zugeschoben wurde. Dem wollte die Zürcher Regierung mit einem klaren Bekenntnis entgegentreten: «Die Schweiz hat die Corona-Krise nicht trotz sondern wegen des Föderalismus so gut gemeistert». Diesem Statement von Frau Fehr wurden weitere Slogans nachgereicht, wie «Think global, act local» (J. Kündig) oder «Föderalismus ist gelebte Vielfalt und nationale Einheit» (E. Stocker). Davon abgesehen vertraten alle Beteiligten die Ansicht, dass der Föderalismus – gerade mit den Corona-Erfahrungen – weiterentwickelt werden müsse – allerdings ohne an seinen Prinzipien zu rütteln.
Einen knappen Monat später, am 10. Juli 2021 haben die Finanzminister der G20-Staaten (denen die Schweiz nicht angehört) eine globale Steuerreform mit einer Mindeststeuer für grosse Unternehmen beschlossen. Auf Arbeitsebene hatten bereits 131 Staaten weltweit den Plänen zugestimmt – unter ihnen nolens volens auch die Schweiz. Sollte sich der minimale Steuersatz von 15 Prozent durchsetzen, müssten etliche Kantone ihre niedrigere Unternehmenssteuer erhöhen, die einer der Haupttrümpfe im internationalen und inländischen Steuerwettbewerb ist, bzw. ein Hauptargument für die schweizerische Ausprägung des (Konkurrenz-)Föderalismus.
Schon im November 2020 waren nach dem Scheitern der Konzernverantwortungsinitiative am Ständemehr Diskussionen wiederbelebt worden, ob der Föderalismus in seiner schweizerischen Form gerecht und demokratisch sei. Er schützt zwar gewisse Minderheiten, kann aber dem Volkswillen widersprechende Ergebnisse hervorbringen. Entsprechend wurden einmal mehr Kalkulationen präsentiert, die das Gewicht der „kleinen“ Kantone in Volksabstimmungen und/oder im Ständerat relativieren würden.
Die Gemeindeautonomie gilt als wichtiges Element des Föderalismus. Kürzlich wurden die Befunde des Gemeindemonitorings veröffentlicht, das die Ergebnisse einer Gemeindeschreiberbefragung zusammenfasst. Dort werden kritische Töne angeschlagen: „Die meisten Gemeinden schätzen ihre Autonomie gegenüber Kanton und Bund nur als gering bis mittelmässig ein. (…) Im Vergleich zu 1994, 2005 und 2009 haben die Schweizer Gemein-den ihre Einschätzung der Gemeindeautonomie nach unten korrigiert (..).1
Aber nicht nur die Zahl der Gemeinden schrumpft wegen Fusionen jedes Jahr, sondern auch ihr Einfluss gehe zurück, sagt Hannes Germann, Präsident des Schweizerischen Gemeindeverbands und Schaffhauser SVP-Ständerat: «Die Gemeinden beklagen sich vermehrt darüber, dass sie immer mehr Bereiche mitfinanzieren müssen, bei denen sie nicht oder kaum mitbestimmen können»2, z.B. in der Raumplanung und im Sozialwesen würden Kompetenzen zunehmend an die Kantone und Organisationen wie die KESB verlagert.
Kein Wunder, werden erneut Überlegungen aus der SVP-Ecke laut, dem Ständemehr ein «Gemeindemehr» zur Seite zu stellen, als Reaktion auf die Ansprüche der Städte um mehr Gehör. Weil es immer öfter vorkomme, «dass die Agglomerationen und Städte die ländlichen Gemeinden überstimmen»3. (SVP-Bern-Präsident und Ständerat Werner Salzmann) Einigkeit herrscht darüber, dass mit dem Gemeindemehr praktisch jede Reform blockiert werden könnte.

Die aktuelle Diskussion um eine Föderalismusreform

Diese Beispiele zeigen, dass der schweizerische Föderalismus im Innern und von aussen permanent unter Druck steht. Zwar sprechen alle davon, dass er weiter entwickelt werden muss, was aber geschieht in der Realität?
In den angelaufenen, inzwischen aber bereits wieder sistierten Vorbereitungen für die zweite Runde der Neuaufteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen, d.h. des Finanzausgleichs soll es zwar um sog. „strategische Ziele“ gehen, nämlich um die „klare Zuweisung der Verantwortung für die staatliche Aufgabenerfüllung und -finanzierung nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz“.4 Ihr Gegenstand wurde aber auf vier Themen eingeschränkt, die Ergänzungsleistungen, die Prämienverbilligung, den Bahninfrastrukturfonds und den regionalen Personenverkehr.
Parallel dazu gibt es – ausgehend von den unbefriedigenden Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen den Kantonen und dem Bund erneut Bestrebungen, ein politisches Führungsgremium der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) zu schaffen. Die Lobby der Kantone soll verstärkt werden.5
Es wird weiter gewurstelt.

Umdenken! – Projekt Föderalismus 2050

Den Föderalismus weiterentwickeln! Was könnte das bedeuten?
Zuerst muss klar sein, dass der Föderalismus nicht selber das Ziel ist sondern ein Instrument, um übergeordnete gesellschaftliche Ziele zu erreichen.
Sodann ist jede Reform langfristig anzulegen: Wie stellen wir uns den schweizerischen Föderalismus im Europa von 2050 vor?
Danach erst stellt sich eine ganze Reihe Fragen zur inhaltlichen Weiterentwicklung des Föderalismus und deren Umsetzung auf der Handlungsebene, insbesondere:
– Was bedeuten die traditionellen Grundsätze des Föderalismus im 21. Jahrhundert?
– Braucht es neben Gemeinden, Kantonen, Bund weitere föderale Ebenen („nach unten“: Städte, Quartiere – Nachbarschaften, …) und/oder betei ligen wir uns „nach oben“ daran (EU, andere supranationale Gemeinschaf ten, z.B. eine Klima-Union)?
– Soll die territoriale Grösse (Fläche, Bevölkerung, Stimmbürger*innen) die Kompetenzzuteilung bestimmen oder gibt es Alternativen zur territoria len Verankerung des Föderalismus?
– Wie werden die demokratischen Rechte und Pflichten auf allen Ebenen gewährleistet?
– An welchen Aufgaben sollen die Entwicklungsschritte der Föderalismus reform in der Praxis erprobt werden?

Dynamisierung des Föderalismus

Im Zentrum des Spannungsfelds steht die Zuordnung von Funktionen, Aufgaben, Pflichten, Verantwortung. Da sich diese permanent ändern, muss sich auch der Föderalismus dauernd anpassen. Carl J. Friedrich, einer der wichtigen Föderalismus-Theoretiker hat dies vor rund 60 Jahren folgendermassen formuliert: «Föderalismus sollte nicht als die Bezeichnung einer statischen Konzeption verstanden werden, mit der eine besondere und genau festgelegte Trennung der Gewalten zwischen verschiedenen Regierungsebenen gekennzeichnet wird. Statt dessen erscheint Föderalismus als der angemessenste Ausdruck für die Benennung des Föderierungsprozesses einer politischen Gemeinschaft, das heisst eines Prozesses, durch den bestimmte, unabhängige, politisch organisierte Einheiten (…) ein Übereinkommen schliessen, um politische Lösungen zu finden (…) Aber es handelt sich nicht nur um die Ermöglichung politischer Entscheidung, sondern zugleich auch um das Ausmass der Macht und ihre Ausübung. Der Prozess föderaler Gliederung bedeutet sozusagen eine organisatorische Entsprechung der Entwicklung des Gemeinwesens.“6
Welche Entwicklungspotentiale sind auf der grundsätzlichen und auf der Handlungsebene erkennbar?
Zuerst zu den Grundlagen: Dem schweizerischen Föderalismus zugrunde liegen die Prinzipien der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz – sie sind in der Bundesverfassung verankert, allerdings erst seit 2008.

Subsidiarität und Territorialität

Der Grundsatz der Subsidiarität ist mit dem der Territorialität verbunden. Für Aufgaben, die gemeinschaftlich geregelt werden müssen, soll das jeweils kleinste zweckmässige Kollektiv zuständig sein. Im schweizerischen Kontext bedeutet das, dass unser Staatsgefüge von unten nach oben aufgebaut ist: Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet (BV Art. 50 Abs.1); die Zuständigkeit der Kantone ist quasi unbeschränkt (BV Art. 3); hingegen hat der Bund nur die Aufgaben und Kompetenzen, die ihm die Bundesverfassung ausdrücklich zuweist (BV Art.42).
Soweit das Prinzip. Aber es geht auch oder vor allem um dessen zeitgemässe Interpretation und Umsetzung sowie letztlich um die Frage, ob die Ziele erreicht wurden und immer noch werden: Als die kommunalen und kantonalen Grenzen im 19. Jahrhundert und früher gesetzt wurden, entsprachen sie mehr oder weniger den in der jeweiligen historischen Situation zu lösenden Aufgaben, d.h. es handelte sich auch um sinnvolle funktionale Räume. Die Grenzen sind seither unverrückt geblieben, während sich alles andere geändert hat. Um Dysfunktionalitäten aufgrund des Territorialprinzips zu korrigieren, kam es auf kommunaler Ebene zu Zusammenschlüssen (von über 3000 zu heute rund 2200 Gemeinden). Als Ersatz für Fusionen werden interkommunale Zweckverbände und interkantonale Konkordate in grosser Zahl (aktuell ca. 760 interkantonale Verträge) abgeschlossen. Demokratieverlust ist die Folge davon – Kompetenzen werden an die Verwaltung, an zentrale Organe delegiert, der Vollzug wird bürokratisch organisiert bzw. automatisiert.
Die Frage stellt sich somit, ob ein funktionalistisches Modell, d.h. ein flexibler Föderalismus mit je nach Funktion unterschiedlicher Basis eine bessere Lösung wäre. Im Bericht über das Gemeindemonitoring wird dies jedenfalls angedacht: «Der Trend hin zu einer variablen Geometrie des Staates dürfte anhalten. Nicht jede Gemeindeaufgabe benötigt das gleiche Einzugsgebiet. Städtische Agglomerationen, aber auch Berggebiete könnten mit einer variablen Geometrie Skaleneffekte und Qualitätssteigerungen beim Leistungsangebot erzielen, gleichzeitig auf die Bedürfnisse in der einzelnen Gemeinde oder sogar im Quartier besser eingehen.»7

Fiskalische Äquivalenz und Standortwettbewerb

Der ebenfalls seit 2008 in der Bundesverfassung verankerte Grundsatz der fiskalischen Äquivalenz verlangt, dass Entscheidträger, Nutzniesser und Kostenträger einer staatlichen Leistung möglichst kongruent sind. Dazu gehört auch die fiskalische Eigenverantwortung, nach der die Ausgaben einer Gebietskörperschaft so weit wie möglich über selbst generierte und gestaltbare Einnahmen finanziert werden sollen (BV Art. 43a, Abs. 2/3).
Das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz fördert den Konkurrenz-Föderalismus und resultiert im Standortwettbewerb. Dieser wird aus neoliberaler Sicht begrüsst, da er zu einer Optimierung der Mittelallokation zwischen den Gemeinwesen beitrage. Demgegenüber führt er aus linker Perspektive zu einem ruinösen Steuerwettbewerb – race-to-the-bottom, dessen Dysfunktionen auch mit Lasten- und Finanzausgleichen nicht völlig beseitigt werden können.
Grundsätzlich ist demnach zu fragen, was und wem die fiskalische Äquivalenz nützt und wie verhindert werden kann, dass der Konkurrenzföderalismus auf Kosten des Service Public und des Sozialstaates geht. Dies hat Rolf Klein für Deutschland untersucht – seine Befunde können sehr gut auf die Schweiz übertragen werden: „Standortwettbewerb sorgt für eine Gesetzgebung, die vor allem grossen Unternehmen nützt. (…) Die Überlegungen zum Standortwettbewerb betreffen einerseits die Frage, ob bestimmte politische Maßnahmen – zum Beispiel mit sozialer oder ökologischer Zielrichtung – die Produkte eines Landes nicht international zu teuer machen. Zum anderen betreffen sie den befürchteten Abzug von mobilem Kapital, das andernorts womöglich bessere Bedingungen geboten bekommt. (…) Politisch kann gerade diese (..) Exit-Option das Gewicht des allgemeinen Wahlrechts der Mehrheit der Bürger bedeutend reduzieren. Hier konkurrieren diejenigen, die die Exit-Option instrumentalisieren, mit der Mehrheit, die auf ihr Wahlrecht beschränkt ist. Denn über ausreichend Kapital, das zudem mobil sein muss, um Einfluss auszuüben (das Einfamilienhaus zählt also nicht) verfügt nur eine kleine Minderheit. (…)Umso wichtiger ist es, zu erkennen, dass der scheinbar übermächtige Standortwettbewerb ein Konstrukt ist, hervorgegangen aus nationalen Deregulierungen, Währungsmanipulationen, europäischen Weichenstellungen und ideologischen Deutungsmustern. Er ist weder Bedingung für allgemeinen Wohlstand noch ein unentrinnbares Schicksal.“8
Wiewohl das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz in der Bundesverfassung verankert ist, geht es also auch dabei um die Interpretation und Umsetzung. Wenn bei jeder politischen Entscheidung auf allen föderalen Ebenen zuerst die Frage nach ihren Auswirkungen auf die Standortgunst gestellt und danach getrachtet werden muss, dass der eigene Standort immer noch etwas günstiger ist als der der Nachbargemeinde, des Nachbarkantons, des anderen Niedrigsteuerlandes, dann werden demokratische Prinzipien ausser Kraft gesetzt – direkte Demokratie hin oder her.

Vom defensiven zu einem progressiven Föderalismus-Konzept

Wenn immer über ordnungspolitische Föderalismusreformen diskutiert wird, werden neben den in der Bundesverfassung verankerten Grundsätzen drei Begriffe ins Spiel gebracht – in der Regel, um zu belegen, dass die Reform den durch sie repräsentierten sogenannt schweizerischen Grundwerten schaden würde: Souveränität, Autonomie und direkte Demokratie – meist auch im Zusammenhang mit der Mitwirkung in supranationalen Einheiten. So wurde der Föderalismus zur Defensiv-Strategie.
Dabei gibt es Ansätze, gemäss denen Reformen nicht nur keinen Schaden für den Föderalismus verursachen, sondern aus denen er sogar grossen Nutzen ziehen kann:

Föderalismus und Souveränität

Offensichtlich ist der sog. autonome Nachvollzug von EU-Erlassen9 kein Zeichen von Souveränität. Souverän ist, wer mitentscheidet, und nicht, wer abseitssteht! Der Europa- und Wirtschaftsvölkerrechtler Thomas Cottier erklärt: «Souveränität beschränkt sich wie im Inneren nicht länger auf die überholte und unlösbare Frage der ausschliesslichen und obersten Zuständigkeit. Als moderne Souveränität versteht sie sich als Grundnorm, dass Aufgaben und Zuständigkeiten primär jener Ebene der Gouvernanz und des Gemeinwesens zuzuweisen sind, welche dafür am besten geeignet ist, Sinn und Zweck der Souveränität zu verwirklichen und dem Gemeinwohl zu dienen.»10 Folgerichtig ist für ihn auf lange Sicht der EU-Beitritt immer noch ein logischer Schritt, um unsere Interessen in Europa und geopolitisch zu wahren.

Föderalismus und Autonomie

Autonomie bedeutet die legitime Fähigkeit des/der Einzelnen, in den Angelegenheiten, auf denen Gemeinschaft beruht, Selbstregierung auszuüben. Der bereits zitierte Föderalismus-Theoretiker Friedrich formuliert die Bedingungen eines dynamischen Föderalismus: «Die so verstandene Autonomie ist eigentlich die Grundlage der Rechte des einzelnen(…). Mit anderen Worten, es wird nicht angenommen, die Autonomie einer menschlichen oder gesellschaftlichen Individualität werde durch die Teilnahme an einer grösseren Gemeinschaft beeinträchtigt, vorausgesetzt, der Machtbereich der grösseren Gemeinschaft wird nur mit der ausdrücklichen Mitwirkung der Gliedteile institutionalisiert, bewährt und geändert.»11

Föderalismus und direkte Demokratie

Gemeinhin gilt, dass die Grenze der direkten Demokratie in der Überschaubarkeit des entsprechenden Bereichs liegt. Entsprechend stark kann und soll sie auf den dezentralen Ebenen der Gemeinden oder – in der Utopie von Neustart Schweiz12 – der Nachbarschaften sein. Wie im schweizerischen Mischsystem angelegt, nehmen die direktdemokratischen Einwirkungsmöglichkeiten auf den übergeordneten föderalen Ebenen ab, und die repräsentativen, parlamentarischen Elemente nehmen zu. Nach dem Abbruch der Verhandlungen um den Rahmenvertrag mit der EU im Frühsommer 2021 beschrieb Thomas Pfisterer, wie sich die Schweiz beteiligen könnte, ohne die direkte Demokratie zu gefährden: „Der Schlüssel zur Demokratie liegt in der Aufwertung des Parlaments. (…) – Das Parlament stellt die Weiche. Es darf Rechtsübernahmen ablehnen. Sein Entscheid dazu ist endgültig; vorbehalten ist ein Streitbeilegungsverfahren. Heisst das Parlament eine Rechtsübernahme gut, ist das Referendum zum entsprechenden Staatvertrag zulässig. Kommt ein Referendum zustande, entscheiden die Stimmberechtigten über die Weiterführung des bilateralen Weges. Sie haben das letzte Wort. Lehnen sie die Rechtsübernahme ab, muss die Schweiz die Folgen tragen, die sie im Rahmenabkommen mit der EU vereinbart hat.»13

Fazit

1. So wie er aktuell ausgeübt wird, gerät der Föderalismus zum defensiven Konzept. Er ist und bleibt unter Druck; inkrementale Reformen und Kor rekturen am Finanzausgleich können nichts daran ändern, dass er perma nent unterlaufen wird. So macht er sich selbst obsolet.
2. Es braucht eine langfristige Strategie der Erneuerung des schweizeri schen Föderalismus – ein Projekt Föderalismus 2050.
3. Die Strategie verlangt grundsätzliche Überlegungen über die Ziele und eine für das 21. Jahrhundert taugliche Interpretation der Prinzipien, die dem schweizerischen Föderalismus zugrunde liegen (sollen). Ideen dafür gibt es!
4. Angesichts der globalen Probleme und Aufgaben kann das Projekt Fö deralismus 2050 nur in einem grösseren, europäischen oder globalen Zu sammenhang erfolgreich sein. Neben der Innenperspektive muss auch eine Aussensicht erreicht werden, in der sich die Schweiz selber als Glied eines grösseren föderalen Gemeinwesens verstehen kann.
5. Die Strategie muss auf der Handlungsebene konkretisiert und der Tatb eweis muss angetreten werden, dass der Föderalismus tatsächlich das optimale staatspolitische Konzept für die Schweiz ist.
6. Dafür könnte sich die alle föderalen Ebenen betreffende Umsetzung der 2000-Watt-Gesellschaft eignen. Die 2000-Watt-Gesellschaft als (Labor-) Föderalismus-Projekt fordert gezielte und kontrollierte Versuchsanord nungen auf den verschiedenen föderalen Stufen z.B. für Emissionssen kungen bis netto Null und die konsequente allgemeine Umsetzung der Elemente, die sich bewähren.
Es gilt, den Föderalismus als Prozess zu begreifen, der noch lange nicht abgeschlossen ist. In diesem Bewusstsein kann er als funktionaler Föderalismus für die Schweiz neu gedacht werden – ausgehend von gesellschaftspolitischen Zielen und den zu lösenden Aufgaben. Das ist eine mehrfach grosse Herausforderung, da grundsätzlich für jede Aufgabe eine eigene Gliederung und Zuteilung zu den innerstaatlichen bis zu den internationalen Ebenen gefunden werden muss. Und da die Aufgaben sich dauernd entwickeln, muss auch die Frage der rechtlichen Verfassung eines dynamisierten internationalen Föderalismus gelöst werden. Ein progressiver Föderalismus nutzt die angenommenen Stärken des Föderalismus als staats- und gesellschaftspolitisches «Versuchslabor», indem er gezielt neue Wege in einzelnen Einheiten oder auf verschiedenen Ebenen erprobt, evaluiert und bei Bewährung generalisiert.
Es ist höchste Zeit, das «Projekt Föderalismus 2050» zu starten.

Fussnoten

1. Steiner, Reto; Ladner, Andreas; Kaiser, Claire; Haus, Alexander; Amsellem, Ada: Zustand und Entwicklung der Schweizer Gemeinden : Ergebnisse des nationalen Gemeindemonitorings 2017, Glarus : Somedia Buchverlag, 2021, S. 148f
2. Zitiert nach Daniel Foppa, Die Diskussion um ein Gemeindemehr ist neu lanciert, SRF 2, 28.07.2021
3. Zitiert nach Daniel Foppa, a.a.O.
4. Mandat verabschiedet durch den Bundesrat am 14.6.2019 und durch die Kantonsregierungen an der Plenarversammlung der KdK vom 28.6.2019
5. Siehe u.a. Rahel Freiburghaus, Den Föderalismus zementieren, normalisieren oder reformieren?, NZZ, 23.8.2021, S. 27
6. Carl J. Friedrich, Nationaler und internationaler Föderalismus in Theorie und Praxis, Politische Vierteljahresschrift, vol. 5, no. 2, 1964, S. 163
7. In: Steiner, R. et al., a.a.O., S. 150
8. Rolf Klein, Demokratie im Standortwettbewerb, Essay in www.MAKROSKOP, Magazin für Wirtschaftspolitik, 23.3.2021
9. Nach der Ablehnung des Rahmenabkommens beauftragte Bundesrätin Karin Keller-Sutter das Justizdepartement zu prüfen, wie Schweizer Recht an EU-Recht angepasst werden kann, «wo es im Interesse der Schweiz sinnvoll und nötig ist», Blick, 27.05.2021
10. Thomas Cottier, Souveränität im Wandel, in: Die Souveränität der Schweiz in Europa, Bern 2021, S. 171f
11. Carl J. Friedrich, a.a.O., S. 170f
12. Neustart Schweiz Link
13. Thomas Pfisterer, Ein Plus für die Demokratie, EIZ Publishing, 2021, S.IX
Zur Person: Günther Latzel war u.a. Geschäftsführer der Schweizerischen Vereinigung für Sozialpolitik und von BRAINS, Berater im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen. Er ist Mitglied der Denknetz Fachgruppe Sozialpolitik, Arbeit und Care-Ökonomie.