Perspektive Care-Gesellschaft
Plädoyer für eine Erneuerung des Gesellschaftsvertrags – lokal und global.

Eine verwundete Welt

Die Corona-Krise schärft den Blick auf eine Welt, die gleichermassen globalisiert und zerrissen ist: Eine Welt von unermesslichen globalen Ungleichheiten, auch zwischen den Geschlechtern, von stark bedrängten oder nicht vorhandenen sozialen Einrichtungen, deregulierten Märkten, monopolistischen Konzernen, eine Welt des ungehemmten Standortwettbewerbs und des Zerfalls von Steuereinnahmen. Eine Welt, die viel verwundbarer ist, als es noch vor Kurzem den Anschein machte.
Die aktuellen Krisen werden die Welt tiefgreifend verändern. Die Wirkungen der Klimaerhitzung, der Verschmutzung der Meere und des Verlusts an Biodiversität sind vielleicht weniger abrupt als die Corona-Pandemie, aber deswegen nicht weniger bedrohlich. Ohne einen markanten Richtungswechsel in der Politik werden sich die ohnehin schon immensen globalen Ungerechtigkeiten noch einmal erheblich verschärfen. Und auch eine nächste Pandemie bahnt sich bereits an: Heute schon sterben weltweit jährlich 700‘000 Menschen an multiresistent gewordenen Bakterien – Tendenz steigend .
Die Corona-Krise wirft ein Schlaglicht auf diese Risse und Verwerfungen. Gleichzeitig werden nun aber auch enorme materielle Ressourcen und soziale Energien mobilisiert. Solidarität und Kooperation erhalten eine Bedeutung, wie sie in der neueren Geschichte beispiellos ist. Gesellschaften und Staaten erweisen sich in einer Weise als handlungs- und wandlungsfähig, die im Umgang mit andern Krisen neue Perspektiven eröffnet. Diese Perspektiven lassen sich aber nur mit einem entschlossenen politischen Richtungswechsel verwirklichen. Wir brauchen einen erneuerten Gesellschaftsvertrag, der überall in der Welt Zustimmung finden kann. Vier Wegweiser sollen diesem Vertrag seine Richtung geben: Care, Kooperation, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

Care

Der pandemiebedingte Lockdown hat uns vor Augen geführt, dass vorübergehend praktisch alles geschlossen werden kann, nur nicht, was mit der unmittelbaren Sorge für das tägliche Leben zu tun hat: Die Gesundheitsversorgung, die Betreuung von Kindern und gebrechlichen Menschen, die Sorge für Tiere und Pflanzen, die Sorge für die tägliche Nahrung, für Sicherheit und Hygiene. Die dafür nötigen Arbeiten bilden die Basis für menschliche Gemeinschaften, weil wir alle auf die Fürsorge durch andere angewiesen sind. Dennoch werden sie in normalen Zeiten gering geschätzt und oft schlecht bezahlt, und es ist kein Zufall, dass sie überwiegend von Frauen respektive von Migrant*innen geleistet werden. Doch ist es genau dieses Sich Kümmern, das zum Zentrum eines neuen Gesellschaftsvertrages werden muss. Der bezahlten und der nicht bezahlten Care-Arbeit in Haushalten, öffentlichen Diensten und in Unternehmen muss die Bedeutung zugesprochen werden, die sie tatsächlich haben. Dies ist auch aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit dringend geboten. Care muss aber auch als Paradigma in der ganzen Wirtschaft und Gesellschaft an die erste Stelle gesetzt werden: Als Sorgfalt im Umgang mit andern Menschen und Lebewesen, mit gesellschaftlichen Einrichtungen, mit den natürlichen Lebensräumen.

Kooperation

Die Corona-Krise öffnet vielen Leuten die Augen: Der Markt ist nicht die Lösung aller Probleme. Er bedrängt Mensch und Natur und beutet sie aus, wenn er brummt. Er versagt, wenn Krisen herrschen. Er spaltet die Welt in Arm und Reich. Er fördert eine nationalegoistische Politik, mit der die Menschen gegeneinander aufgebracht werden. Wir brauchen aber eine Welt, in der die Kooperation weit stärker gewichtet wird als heute. Wir brauchen eine wirksame lokale, regionale und globale Zusammenarbeit für die Eindämmung von Pandemien, für die Versorgung mit den nötigen Medikamenten, für den Aufbau und den Erhalt einer stabilen Gesundheitsversorgung, für die Bekämpfung der Klimaerhitzung, für eine gerechte Einkommens- und Reichtums-Verteilung. Mehr Kooperation meint auch mehr Commons, mehr Gemeingüter, mehr und bessere öffentliche Dienste.
Die Basis für eine bessere Kooperation ist eine gestärkte Demokratie, die auch auf wirtschaftliche Belange ausgeweitet wird. Sie bietet die Grundlagen, um tragfähige Lösungen zu erarbeiten, bei denen niemand über den Tisch gezogen wird, und bei denen möglichst viele Menschen aktiv einbezogen werden. Notstandsverordnungen mögen zwar in Krisenzeiten unerlässlich sein, müssen aber so rasch als möglich wieder ausgesetzt werden. Autoritäre Regimes zerstören Freiheiten, fördern Nationalismus und Gewalt, verhindern Lernprozesse, bewahren herrschende Privilegien und verschärfen die Krisen.

Gerechtigkeit

Die Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Reichtums hat obszöne Ausmasse angenommen. Die Ballung von Macht und Reichtum erinnern an feudale Zeiten. Einige Zehntausend verprassen Millionen aus ihrer Portokasse, während die Hälfte der Weltbevölkerung über täglich weniger als fünfeinhalb Dollar verfügt und von der Hand in den Mund leben muss. Weltweit besitzen Männer 50 Prozent mehr Vermögen als Frauen. Die acht reichsten Männer der Welt verfügen zusammen über gleich viel Vermögen wie die 3,9 Milliarden Ärmsten. 2,1 Prozent der Schweizer*innen besitzen so viel wie die übrigen 97,9 Prozent . Immer grössere Anteile des Reichtums fliessen dabei in spekulative Finanzmärkte statt für drängende gesellschaftliche Aufgaben verfügbar zu sein. Wir brauchen deshalb eine massive Rückverteilung des Reichtums von oben nach unten, vom globalen Norden in den globalen Süden und zugunsten der Frauen, zum Beispiel mit Reichtums- und Finanztransaktions-Steuern, aber auch mit guter Arbeit und fairen Löhnen für alle. Damit wird die Grundlage wirklicher Freiheit geschaffen, statt dass „Freiheiten“ hochgehalten werden, sich auf Kosten anderer zu bereichern.
Nachhaltigkeit
Mehr Care, mehr Kooperation und mehr Gerechtigkeit sind unabdingbar, um die Klimaerhitzung, die Verschmutzung der Weltmeere, den Verlust an Biodiversität einzudämmen. Wir müssen die gewaltige, verschwenderische Materialschlacht beenden, in die uns der Kapitalismus verstrickt hat. Wir brauchen grundlegende Veränderungen in der Produktion, in der Finanzwelt und in den Konsumgewohnheiten, um weltweit nachhaltige, würdige und lebenswerte Verhältnisse schaffen zu können. Dafür brauchen wir unter anderem auch starke und nachhaltig gestaltete öffentliche Infrastrukturen und Dienste (Energie, Verkehr, Wasser, Kommunikation, (soziale) Sicherheit, Bildung, Gesundheitswesen).
Vordringliche Massnahmen
Der geforderte Richtungswechsel muss alle gesellschaftlichen Bereiche erfassen. Dazu gehört an erster Stelle eine erhebliche Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, also eine entschlossene Wende in der Steuer- und Verteilungspolitik. Hohe Einkommen, Vermögen und Gewinne müssen weitaus stärker besteuert werden als heute. Als unmittelbare Reaktion auf die aktuellen Krisen braucht es in der Schweiz eine Solidaritätssteuer von mindestens drei Prozent auf hohen Finanzvermögen während mindestens zehn Jahren, was jährlich geschätzte Einnahmen von dreissig Milliarden Franken ergibt . Diese Erträge sollen zur Hälfte im globalen Süden, zur Hälfte in der Schweiz eingesetzt werden, um Care zu stärken, die Gesundheitsversorgung zu verbessern, den Klimaschutz voranzubringen. Zudem sollen alle Gewinne, die aufgrund der Pandemiekrise erzielt werden, zu mindestens 80% besteuert werden. Gemeint sind Gewinne aus der Produktion und dem Verkauf von Medikamenten, Impfstoffen, Hygiene-Artikeln oder Diagnostika, aber auch aus dem Versandhandel oder spekulative Gewinne auf den Finanzmärkten.
Menschenrechte, insbesondere auch Frauenrechte, müssen immer und überall respektiert und verwirklicht werden. Namentlich sind die besonders verletzlichen Menschen und Gruppen wie zum Beispiel Geflüchtete zu schützen. Ihr Zugang zu lebenswichtigen Basisdienstleistungen und zu Bildung muss gewährleistet sein. Als sofortigen, konkreten Beitrag soll die Schweiz eine möglichst grosse Zahl von Geflüchteten aus den griechischen Auffangcamps aufnehmen.
Die Gesundheitsversorgung muss auf eine neue, öffentliche und solidarische Basis gestellt werden. Profite haben im Gesundheitswesen nichts zu suchen. Basis der Gesundheit ist eine ausreichende Versorgung mit gesunder Nahrung, mit Trinkwasser, Wohn- und Aussenräumen – überall auf der Welt. Wir brauchen bessere Löhne und Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal. Die Schweiz ist prädestiniert, um sich für eine öffentlich kontrollierte Pharmabranche zu engagieren. Insbesondere sollen Forschung, Entwicklung und Produktion von Impfstoffen und Antibiotika vorangebracht werden. Ebenso soll sich die Schweiz stark machen für eine unabhängige und ausreichend finanzierte Weltgesundheitsorganisation WHO.
Kindertagesstätten müssen – analog zu Schulen und Kindergärten – zu einem flächendeckenden öffentlichen Dienst in hoher Qualität ausgebaut werden. Die Löhne sollen sich an denjenigen von Schulen und Kindergärten orientieren.
In Zukunft brauchen wir allein in der Schweiz Zehntausende zusätzliche Fachkräfte in Pflege, Betreuung und Gesundheitsversorgung sowie in den Bereichen erneuerbare Energien und Gebäudesanierungen. Auf der andern Seite gibt es Branchen, die aus klimapolitischen Gründen zurückgebaut werden müssen. Deshalb brauchen wir ein breit angelegtes Berufsbildungsprogramm für Erwachsene, die sich umschulen wollen. Ihnen muss während der Ausbildung ein Grundlohn bezahlt werden, der die Lebenshaltungskosten deckt.
Der internationale Flugverkehr wird durch die Coronakrise über viele Monate, wenn nicht Jahre beeinträchtigt sein. Es verbietet sich aus Gründen des Klimaschutzes, ihn wieder auf den Stand vor der Coronakrise hochzufahren; er muss vielmehr auf einem Bruchteil des bisherigen Volumens plafoniert werden.

Wir leben in einer Welt, die nur als eine Welt überleben wird

Die Weltgemeinschaft war noch nie so reich an Ressourcen, Technologien, Kenntnissen und Erfahrungen – und gleichzeitig so ungerecht, feindselig und sorglos im Umgang mit den natürlichen Grundlagen. Die Corona-Krise und die Klima-Krise machen nun deutlich, wie verletzlich eine Welt geworden ist, die auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruht. Wenn wir nicht mehr und mehr in den Strudel dieser Krisen hinabgezogen werden wollen, müssen wir jetzt die Richtung wechseln. Dafür brauchen wir eine Erneuerung des Gesellschaftsvertrags zugunsten von Care, Nachhaltigkeit und Solidarität – zugunsten einer lokalen und globalen Care-Gesellschaft.

UnterzeichnerInnen

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Erstunterzeichnende

Marie-Louise Barben, Doris Baumgartner, Gaby Belz, Ruth Daellenbach, Hans Jörg Fehle, Luzian Franzini, Tamara Funiciello, Annina Grob, Ruth Gurny, Ronja Jansen, Véréna Keller, Caroline Krüger, Günther Latzel, René Levy, Lisa Mazzone, Melinda Nadj Abonji, Ina Prätorius, Katharina Prelicz-Huber, Beat Ringger, Feline Tecklenburg, Ueli Tecklenburg, Anna-Katharina Thürer, Cédric Wermuth, Pascal Zwicky