Oliver Peters

Kommentar

Schweizer Gesundheitssystem: ungebremste Kosten, untätige Behörden und Machtanspruch der Versicherer
22.09.2023 | Entgegen einem weitverbreiteten Mythos beruhen die hohen Kosten des Schweizer Gesundheitssystems nicht auf einem Zuviel an medizinischen Leistungen, sondern auf einem hohen Ressourcen-Einsatz, hohen Preisen und der wenig kontrollierten Tätigkeit von niedergelassen Spezialist:innen und Privatkliniken. Abhilfe tut not.
1960 wendete die Schweizer Bevölkerung rund 31 Fr. pro Kopf und Monat oder 4.4 % des Bruttoinlandproduktes für Gesundheitskosten auf. 2021 sind wir bei 827 Fr. pro Kopf und Monat, resp. 11.8% des BIP (alle Zahlen hier als Tabelle). Im gleichen Zeitraum ist der Anteil der Nahrungsmittelausgaben am Haushaltseinkommen von weit über 30% auf unter 10% gesunken. Das ist eine Erscheinung von reichen Gesellschaften, die es sich leisten können und leisten müssen, einen immer grösseren Anteil ihrer Ressourcen für Gesundheit auszugeben, weil die Lebenserwartung zunimmt, und mit ihr der Anteil von kranken Menschen.

Gute Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und niedriger Verbrauch an medizinischen Leistungen

Wenn man die Schweiz mit den umliegenden Ländern vergleicht, also Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich, fällt auf, dass der in Umfragen erhobene Gesundheitszustand der Einwohner:innen in der Schweiz deutlich besser ist als der in umliegenden Länder, und der Anteil an übergewichtigen Menschen in der Schweiz deutlich niedriger. Erklärung dafür ist das unterschiedliche Lebens-, Konsum- und Freizeitverhalten, also weniger Junk Food und mehr körperliche Betätigung, das auf einem höheren durchschnittlichen Wohlstand und einer kleinräumigen Organisation des Landes beruht, wobei es hier insbesondere um die Distanz zwischen Arbeit und Wohnen geht.
Die Schweizer Bevölkerung geht trotz hoher Lebenserwartung weniger zum Arzt (4.3 Arztbesuche pro Jahr pro Einwohner:in gegenüber 8.1 in D-F-I-A) und lässt sich weniger im Spital behandeln als die Bevölkerung unserer Nachbarländer (0.137 Spitalaufenthalte pro Jahr pro Einwohner:in gegen 0.146). Die Schweiz hat 30% weniger Akutpflegebetten, in denen die Patient:innen auch schneller behandelt und entlassen werden. Schliesslich hat die Schweiz auch nicht mehr Spitäler pro Einwohner:in als unsere Nachbarländer.

Weswegen also die hohen Kosten?

Bekannt ist, dass die Preise für Medikamente und medizinisches Material in der Schweiz deutlich höher sind als in den Vergleichsländern. Insbesondere bei den Implantaten herrschen skandalöse Zustände mit Preisaufschlägen bis zu 200%, die rational nicht zu erklären sind. Aber auch bei den Medikamenten belegt der Gang in die Apotheke ennet der Grenze, dass die Preise für viele Produkte halb so hoch sind wie in der Schweiz.
Wenn man die eingesetzten Ressourcen anschaut, fällt auf, dass trotz vergleichsweise deutlich weniger Konsultationen in der Schweiz die Anzahl der niedergelassenen Ärzt:innen pro Einwohner:in leicht über dem Schnitt unsere Nachbarländer liegt (3.0%). Die Anzahl der Allgemeinärzt:innen liegt leicht unter dem Durchschnitt (-3.4%, Tendenz fallend), während die Anzahl Spezialist:innen leicht darüber liegt (Tendenz steigend). Grob auffällig ist die Anzahl Psychiater:innen, die pro Einwohner:in 130% über der Quote in unseren Nachbarsländern liegt.
Das bedeutet also, dass Schweizer Ärzt:innen im Durchschnitt halb so viele Patient:innen behandeln wie ihre Kolleg:innen in den Nachbarländern. Das wird zum Teil mit längeren Behandlungszeiten pro Konsultation ausgeglichen, wobei unklar ist, wieviel dieser Differenz auf die geltenden Tarifstrukturen mit Zeittarifen zurückzuführen ist. Es ist also nicht erstaunlich, dass die in der Schweiz niedergelassenen Ärzt:innen in europäischen Umfragen die höchsten Zufriedenheitswerte mit ihrer Arbeitssituation aufweisen. Im Spital ist Ähnliches zu beobachten: trotz niedrigerer Hospitalisierungsrate und kürzeren Verweildauern beschäftigt die Schweiz 30% mehr Spitalärzt:innen pro Einwohner:in, als unsere Nachbarländer. Es gibt hier keine statistischen Hinweise auf eine höhere Präsenz der Ärzt:innen am Bett der Patient:innen.
In der Pflege beschäftigt die Schweiz fast doppelt so viele Arbeitskräfte (+95.7%) wie unsere Nachbarländer, wobei diese Differenz im Spitalbereich weniger stark ausgeprägt ist (+28,7%). Erklärungsfaktoren dürften neben höheren Pflegestandards auch besser ausgebaute Spitexdienste und Pflegeheime sein. Der Einfluss der sehr hierarchischen und fragmentierten Spitalorganisation und der unterentwickelten elektronischen Kommunikation auf den Pflegebedarf wäre näher zu untersuchen.

Wo nehmen die Kosten zu?

In den letzten zwei Jahren wachsen die Kosten der Spitäler im stationären Bereich, der Ärzt:innen und der Pflegeheime in etwa mit der Demographie der älteren Bevölkerung, während die Spitäler im ambulanten Bereich, die Spitex, Medikamente, Labor und Physio weit überdurchschnittlich wachsen. Bei den niedergelassenen Ärzt:innen fällt auf, dass die abgerechneten Leistungen der Grundversorger in absoluten Zahlen (und trotz aller Massnahmen zugunsten der Hausarztmedizin) sinken, während die abgerechneten Leistungen der Spezialist:innen unbeirrt steigen.
Erklären lässt sich die gesamthaft ungebremste Kostensteigerung durch folgende Mechanismen:
  1. Rentable Patient:innen (Privatversicherte), werden gerne und viel operiert. Es gibt aber auch rentable Untersuchungen und Eingriffe, die von ertragsorientierten Anbieter:innen bevorzugt durchgeführt werden: Die Hüftprothese für den fitten 60-Jährigen hat den gleichen Tarif (Fallpauschale) wie die Hüftprothese für den 80-jährigen Patienten, dessen Behandlungsrisiko deutlich grösser ist. Es ist also naheliegend, dass die erste Variante für Leistungserbringer:innen überaus attraktiv ist. Ohne staatliche Kontrolle des Angebots oder Deckelung der abgerechneten Leistungen werden Anbieter:innen ihr Angebot an rentablen Leistungen kontinuierlich ausdehnen. Darum gibt es in der Schweiz besonders viel Wettbewerb in der Radiologie, Strahlentherapie, Orthopädie, Kardiologie, Urologie und der leichten stationären Chirurgie, während es keinen Wettbewerb in der allgemeinen inneren Medizin gibt.
  2. Bei den niedergelassenen Ärzt:innen rechnen Grundversorger mit dem gleichen Tarif ab wie die Spezialist:innen. Während die Grundversorger vor allem ihre menschliche Arbeit(szeit) verrechnen (also relativ einfach zu kontrollieren sind), rechnen die Spezialist:innen komplexe Mischungen aus technischen Leistungen (deren Preis dank technischem Fortschritt kontinuierlich sinkt) und menschlicher Arbeit ab. Sie kassieren also regelmässig die Zusatzerträge, die durch den technischen Fortschritt generiert werden, und sie sind viel schwieriger zu kontrollieren. Das ist mitunter der Grund, weshalb in fast allen europäischen Ländern Spezialist:innen von Spitälern angestellt sind oder gedeckelte Leistungen mit Globalbudgets haben. Dazu kommt, dass die Krankenversicherer seit Einführung des Tarmed 2004 Grundversorger:innen und Spezialist:innen immer gemeinsam durch Senkung des Taxpunktwertes abgestraft haben, wenn Leistungsausweitungen korrigiert worden sind, was die Situation der Grundversorger:innen netto verschlechtert, und die der Spezialist:innen immer weiter verbessert hat.
  3. Wenn die durch Grundversorger:innen angebotenen Leistungen dauerhaft unter dem für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Mass verharren, entsteht eine Versorgungs- und Koordinierungslücke, die durch unnötigen medizinischen Aktivismus gefüllt wird und zu mehr (unnötigen) Leistungen von niedergelassenen Spezialist:innen und Spitälern führt. In dieser Situation der Grundversorgungslücke befinden wir uns aktuell.
  4. Die Tarife der Grundversicherung waren für öffentliche Spitäler schon immer zu tief (insbesondere für den ambulanten Bereich). In den letzten zwei Jahren sind diese Häuser durch Kostensteigerungen (Personal, Energie, Baupreise, Zinsen) und wegfallende Quersubventionierungen (Zusatzversicherungen) finanziell zunehmend unter Druck geraten und versuchen, mit Mehrleistung zu kompensieren.
  5. Die Medikamentenpreise steigen wegen der anhaltenden Orientierung der Pharmaindustrie auf maximale Renditen international weiterhin sehr stark, insbesondere in der Onkologie, aber auch bei anderen Krankheitsbildern, die Langfristbehandlungen notwendig machen.

Hohe Kosten führen zu 3-Klassen-Versicherung

Das Schweizer Krankenversicherungssystem kennt neben sehr hohen Selbstbeteiligungen auch ein Finanzierungssystem, das auf Kopfprämien basiert. Die Schweiz ist hier eine Ausnahme: Alle unsere Nachbarländer haben sozialere einkommensabhängige Beiträge.
Aus den Kopfprämien resultieren Kosten, die für Haushalte mit niedrigeren Einkommen nicht mehr tragbar sind. Viele weichen darum auf hohe Wahlfranchisen oder Krankenkassenmodelle mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers aus.
Während Ende der Neunzigerjahre nur die Hälfte der Versicherten Wahlfranchisen hatte, sind es heute mehr als 85% der Versicherten. Gleich viele sind mittlerweile in Modellen mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers versichert.
Wir erleben also eine Segmentierung des Marktes in 3 Versicherungsklassen: Zusatzversicherte, Normalversicherte und Franchiseversicherte, die aus Kostengründen zu einem wachsenden Teil auf medizinisch notwendige Leistungen verzichten. Im Katastrophenfall eines Unfalls oder einer schweren Erkrankung haben alle Versicherten einen im internationalen Vergleich ausgezeichneten und sofortigen Zugang zu allen Behandlungen, die die moderne Medizin zu bieten hat. In einem solchen Kontext spielen die (jährlich änderbaren) Franchisen oder Versicherungsmodelle keine grosse Rolle. Darauf beruht die Empfindung, dass das Gesundheitssystem in der Schweiz eine ausgezeichnete Qualität hat. In der niederschwelligen Versorgung erscheint die Schweiz aber regelmässig unter den ersten drei Ländern, in denen Versicherte mit niedrigem Einkommen aus Kostengründen auf notwendige medizinische Behandlungen verzichten.
Steigende Prämien führen also zu einem wachsenden Leistungsausschluss des unteren Drittels der Bevölkerung aus der Alltagsmedizin. Daran ist insbesondere bei Forderungen nach Ausweitung des Leistungskatalogs im niederschwelligen Bereich zu denken, etwa Psycho- oder Physiotherapie.

Lobbys haben alle Reformvorschläge versenkt

Eine vom Bundesrat 2016 eingesetzt internationale Expert:innenkommission hat eine Reihe von Reformvorschlägen präsentiert, darunter die Idee von verbindlichen Kostenvorgaben, der Schaffung von mehr Transparenz, einer stärkeren Verlagerung von stationären zu ambulanten Behandlungen, Parallelimporten von medizinischen Geräten, Implantaten und Medikamenten und schliesslich von mehr Gatekeeping und Kostenkontrolle im ambulanten Bereich.
Alle wirksamen Massnahmen sind bis anhin im Parlament von den zuständigen Lobbys abgeschossen worden, geblieben sind einzig zaghafte Schritte in Richtung mehr Transparenz und mehr ambulante Medizin.
Bei Bund und Kantonen hat sich eine fatalistische Grundhaltung breitgemacht, in der auch mögliche Eingriffe zur Dämpfung der Kosten wegen fehlender Rückendeckung in Regierungen und Parlamenten nicht mehr unternommen werden. Es droht sogar ein erneuter Kostenschub durch die Einführung einer neuen ambulanten Tarifstruktur, deren Schwächen von den niedergelassenen Spezialist:innen schnell genutzt werden wird, um die fakturierten Leistungen weiter zu erhöhen.

Krankenkassen wollen mehr Macht

Die Krankenkassen nutzen dieses Vakuum, um mehr Macht im System zu fordern. Der Krankenversichererverband Curafutura fordert die Einführung einer einheitlichen Finanzierung ambulant stationär (EFAS), mit der die Krankenversicherer zur alleinigen Finanzierunginstanz für alle Leistungen des Gesundheitssystems werden sollen.
Diese Reform wird die Kantone in der Lenkung der Spitäler entmachten und ein gefährliches neues Finanzierungssystem für die für missbrauchsanfällige Langzeitpflege mit sich bringen, aber an den Kostensteigerungen nichts ändern.
Andere fordern eine Einschränkung der Wechselfreiheit zwischen verschiedenen Franchisen und Versicherungsmodellen. Sie wollen damit die Versicherten in den gewählten billigeren Modellen einbetonieren, um die 3-Klassenmedizin zu stärken und ihre Versicherungsprodukte besser differenzieren zu können.

Was ist zu tun?

  • Als Erstes muss dringend die Kostentransparenz im System verstärkt werden: Es ist nicht verständlich, dass die Schweiz keine Statistik über die fakturierten Leistungen und Kosten der ambulanten Leistungserbringer nach Art und Fachrichtung hat, wie sie schon lange für die Spitäler besteht.
  • Als Zweites müssen gesetzliche Mechanismen geschaffen werden, die es ermöglichen, die Tarife nach Kategorie der Leistunserbringer anzupassen, so dass Grundversorger:innen und grosse öffentliche Spitäler anständig finanziert werden, und nicht mehr systematisch an die Kasse kommen, wenn Spezialist:innen und Privatkliniken überborden.
  • Drittens müssen die Kantone verpflichtet werden, die Prämien so zu verbilligen, dass die Haushalte maximal 10% ihres Einkommens dafür aufwenden wie es die Initiative der SP verlangt. Das würde ihnen wieder den Anreiz und die klare und eindeutige Verantwortung geben, die Kosten im Gesundheitswesen zu steuern.
  • Viertens müssen systematische Anstrengungen zur Stärkung der ambulanten Medizin unternommen werden.
  • Schliesslich muss die Schweiz in Zusammenarbeit mit der EU neue Anstrengungen zur Senkung der Medikamentenpreise unternehmen. Die aktuelle Knappheit bei manchen billigen Medikamenten kann ein Anlass sein, ein öffentlich reguliertes Angebot aufzubauen, und bei den neuen Medikamenten sind die Bedingungen zu überdenken, unter denen Pharmaunternehmen staatlich finanzierte Forschungsergebnisse nutzen können.
Autor | Oliver Peters ist Ökonom und hat verschiedene leitende Stellungen im CHUV und BAG eingenommen.