Noch Hoffnung? Ein Gespräch über das „Prinzip Hoffnung“ bei Ernst Bloch
26.01.2021 | Im folgenden Text sprechen Anette Schlemm, Beat Dietschy und Beat Ringger über die Aktualität des ‚Prinzips Hoffnung‘ von Ernst Bloch. Das Gespräch ist Teil des Denknetz-Jahrbuchs unter dem Titel „Noch Hoffnung? Von den Möglichkeiten der Solidarität im Wirbel von Krisen,“ das im Mai 2024 erscheint.
Annette Schlemm ist Physikerin und Philosophin. Sie beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit dem Klimawandel und ist Mitglied der Ernst-Bloch-Assozation. Beat Dietschy, Theologe, Philosoph und Publizist, war von 2007 bis 2015 Geschäftsführer der Schweizer Entwicklungsorganisation Brot für alle. Er war Blochs letzter persönlicher Mitarbeiter und ist Mitherausgeber des Bloch-Wörterbuchs.
Die Fragen für das Denknetz stellt Beat Ringger, Publizist, Autor und im Denknetz Aktiver. Das Gespräch fand am 25. September 2023 statt.
Denknetz: Könnt ihr den Kern des Bloch’schen „Prinzip Hoffnung“ in fünf Sätzen wiedergeben?
Beat Dietschy: Bloch selbst hat sich dieser Herausforderung gestellt und sogar versucht, seine Philosophie in einem einzigen Satz zusammenzufassen. Dieser Satz lautet: „S ist noch nicht P“. Das meint: Kein Subjekt – weder Mensch noch Welt – hat bereits das ihm adäquate Prädikat. Es ist noch nicht bestimmt oder „herausgebracht“, was es sein könnte. Bloch hat diese Kurzfassung mit Augenzwinkern als „Nes-Philosophie“ (in Analogie zu Nescafé) bezeichnet.
Annette Schlemm: Es geht Bloch um ein Hoffen auf konkrete Utopien, die an dem anknüpfen, was die vorgefundenen Bedingungen an Veränderung überhaupt zulassen. Es geht gerade nicht um ein abstraktes Hoffen, ein Schwadronieren jenseits dessen, was machbar ist. Für Bloch ist also auch die Analyse der vorgefundenen Bedingungen zentral. Hoffnung macht nach Bloch auch nur Sinn, wenn Prozesse als offene gedacht werden, d.h. wenn das gut Kommende nicht selbstverständlich, sondern gerade zweifelhaft und gefährdet ist. Beide Möglichkeiten sind vorhanden: „zum guten Ende“ oder zum „schlechthinnigen Zufallschaos und darin gar des alle vernichtenden Nichts“ (Bloch, 1985). Dass es für Bloch also auch ein schlechtes Ende nehmen kann überliest man gern.
Beat Dietschy: Wenn wir das Bloch‘sche Denken noch etwas genauer fassen wollen, so würde ich das an fünf Begriffen festmachen. Es gibt nicht nur das Unbewusste, sondern auch das Noch-Nicht-Bewusste, aus dem Tagträume, Wunschfantasien und bewusstes Antizipieren entstehen. Dieses Noch-Nicht-Seiende gibt es auch in der Welt, die auch von ihren Latenzen und Tendenzen her mit bestimmt ist. Daraus ergibt sich eine Philosophie der Praxis in Richtung eines Überschreitens, Transzendierens und Transformierens dessen, was ist. Der Kompass dabei sind die Fragen nach dem Wohin und Wozu, mit denen Bloch Kultur- und Naturgeschichte durchforstet. Schliesslich die Erfüllung, das Zusichkommen. „mit tätiger Antizipation gerichtet auf Glück, in der Sozietät auf klassenlose Solidarität, id est auf Freiheit in Würde, im Objekt auf Heimat“, wie Bloch das wörtlich beschreibt (Bloch in Pongratz, 1975).
Eine Anschlussfrage: Wie ist bei Bloch die individuelle Hoffnungsfähigkeit mit dem kollektiven Hoffen auf gesellschaftliche Emanzipation verknüpft?
Beat Dietschy: Das wäre ja die Frage, wie sich Hoffende zusammenfinden, um gemeinsam zu handeln. Bei Bloch gibt es da eher eine Lücke, er hat wenig Explizites zu Organisationsfragen entwickelt, also zum Beispiel zur Frage nach der Rolle einer linken Partei.
Dennoch hat er immer wieder danach gefragt, wie sich Subjekt und Objekt, Mensch und Welt verbinden und verbünden können. Zum Beispiel betreibt er eine eigentliche „Partner:innensuche“ im Verhältnis zur Natur, statt diese zu einem ausbeutbaren Objekt herabzusetzen, was ja zu der heute unabwendbar gewordenen Krise der Biosphäre geführt hat. Seine Überlegungen gehen auch in Richtung dessen, was im Begriff Selbstverwaltung anklingt, oder was wir heute als Commoning bezeichnen würden. Bloch sagt dem ‚Wir-Suche‘.
Annette Schlemm: Es geht Bloch um den aufrechten Gang der Individuen, und das können diese am besten in dazu passenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Gleichzeitig ist in jedem Individuum auch etwas, was in der Gruppe und der Gesellschaft nicht aufgeht. In einer menschenfreundlichen Gemeinschaft muss es „viele Wohnungen“ geben, nicht eine Einheitswohnung.
Auch das sich Organisieren hat Bloch durchaus auf seinem Radar gehabt. Für ihn ist die Organisation die „erste Form der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis“, und sie muss die Momente aufspüren, die mit Notwendigkeit zu einem Handeln drängen, wie es von der Theorie vorgespurt wird. Dann muss es zur Aktion kommen, die vorbereitet und geführt wird.
Wie weit trägt eures Erachtens das Prinzip Hoffnung, und wo liegen seine Grenzen?
Beat Dietschy: Ich sehe das Prinzip Hoffnung durchaus auch skeptisch. Hoffnung zu einem Prinzip zu machen, das aus sich selbst heraus „gut“ sein soll, kann auch ins Verderben führen. Es kommt schon auch sehr darauf an, was und wie gehofft wird. Wenn etwa gesellschaftliche Einbrüche den Menschen den Boden unter den Füssen wegreissen, dann kann dies auch zu rechtspopulistischen oder rassistischen Mobilisierungen für Hoffnungsbilder einer Heimat gegen die Andern, die Fremden führen. Damit setzt sich Bloch selbst allerdings auch auseinander, vor allem in seinem Buch ‚Erbschaft dieser Zeit‘, das vom Aufstieg des Nationalsozialismus handelt; vielleicht ist dieses Buch sogar besser geeignet, um sich das Blochsche Denken zu erschliessen, als das als Hauptwerk gehandelte ‚Prinzip Hoffnung‘.
Für mich ist eher das Hoffen als ein Tun etwas Grundlegendes, Unausrottbares, also ein Principium, mit dem alles Lebendige anfängt. Im neuesten Film von Ken Loach (The old Oak) sagt Yara, die aus Syrien ins kalte und feindselige England geflohen ist und sich für andere Geflüchtete einsetzt: “Wenn ich aufhöre zu hoffen, hört mein Herz auf zu schlagen.“ Das meine ich.
Annette Schlemm: Dem stimme ich zu. Die Widersprüchlichkeit, das Dialektische, ist bei Bloch unterentwickelt. Vieles ist zu axiomatisch gesetzt. Klar für Bloch aber ist: Hoffnung ist nicht Zuversicht oder Optimismus. Es ist längst nicht jederzeit alles möglich, und sich verändernde Bedingungen können die Grundlagen für frühere Hoffnungen zerstören. Und: Man kann auch als Pessimist:in hoffen.
Die populärste Publikation von Engels trägt den Titel ‚Sozialismus: Von der Utopie zur Wissenschaft‘. Doch heute scheint sich diese „Wissenschaft“ wieder in Utopie zu verflüchtigen. Ist das Ziel einer Überwindung des Kapitalismus, einer neuen Gesellschaftsformation überhaupt noch aktuell?
Annette Schlemm: Das Ziel ist nicht nur aktuell, sondern überlebensnotwendig. Die Bedingungen schreien danach: Es geht um gerechtes Überleben der Menschheit in einer echten Allianz von Mensch und Natur. Und auch wenn der Sozialismus heute oft nur noch abstrakte Utopie zu sein scheint, so gibt es da dennoch immer wieder Risse im scheinbar Unveränderbaren, zum Beispiel wenn die Fridays-for-Future-Bewegung die Forderung nach einem System Change erhebt
Beat Dietschy: Utopie kann auch Fluchtweg sein, zum Beispiel der utopische Glaube an einen grünen Kapitalismus, oder posthumanistische Fantasien. So werden auch Wissenschaft und Technik zur Utopie: Lieber den Mars erschliessen, wie das Elon Musk betreibt, statt die Erde zu retten.
Den Kapitalismus überwindet man, indem man sich wehrt. Indem man der kapitalistisch-kannibalistischen Fressorgie (Nancy Fraser) solidarische Praxen entgegensetzt, und zwar solche, die ihm ans Leder gehen, d.h. an das Privateigentum an Produktionsmitteln, an die mainstream-ökonomische Religion des Kapitalismus, an die Verwertung und Ausbeutung von allem und jedem.
Die Fähigkeit der Arbeiter:innenklasse und anderer subalterner Klassen, das Heft in die Hand zu nehmen und eine andere Zukunft zu erstreiten, scheint heute doppelt verriegelt zu sein: Zum einen durch den Rückzug breiter Massen auf individuelle Lebensentwürfe, zum andern durch linke und grüne Führungsetagen, die sich auf Karrieren innerhalb des Systems ausgerichtet haben und einer Politik der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse auch dann die Spitze brechen, wenn breite Bewegungen in diese Richtung zielen. Hat sich Bloch mit solchen Verriegelungen auseinandergesetzt?
Annette Schlemm: Wir hatten vielleicht eine zu euphorische Sicht auf die Fähigkeiten der Arbeiter:innenklasse. Bloch hat sich gegen solche „bequeme Zuversicht“ ausgesprochen und sagt an einer Stelle: „auf tausend Kriege kommen kaum zehn Revolutionen, so leicht gelingen alle Reichstagsbrände“.
Ebenso hat Bloch mit dem Umschlag gesellschaftlicher Entwicklungen ins Reaktionäre gerechnet. Eine ständig enttäuschte Sehnsucht kann Menschen böse machen. Die Bedingungen zur Erfüllung eines Erhofften können geringer werden, schwinden … aber solange Menschen leben, eben nie ganz verschwinden. Das „Strebende“, die „Sehnsucht“ im Menschen wird manchmal fehlgeleitet. Der Umschlag kann aber auch wieder in die andere Richtung erfolgen. Zum Beispiel kann aus Politikverdrossenheit der Wunsch nach anderer, emanzipatorischer Politik entstehen.
Beat Dietschy: Der frühe Bloch hat die Politiker aufs Korn genommen, die sich „an die Spitze der Bewegung gestellt haben, um der Bewegung die Spitze zu brechen“, wie es der rechte Sozialdemokrat Gustav Noske als Ziel grad selber formuliert hat (Noske trug die politische Verantwortung für die blutige Niederschlagung des Spartakusaufstandes 1919 und der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg). Angesichts des Aufstiegs des Nationalsozialismus kritisiert Bloch dann eine Linke, die nicht merkt was läuft und zu sehr auf das Proletariat fixiert ist. Andere subalterne Klassen und Bewusstseinslagen würden vernachlässigt, es fehle an einer Sprache, um diese andern Klassen überhaupt erreichen zu können. Das ist auch heute aktuell. Ein irgendwie „einheitliches“ Klassensubjekt ist uns abhandengekommen. Stattdessen sprechen wir von Intersektionalität, erleben wir Verknüpfungen von Bewegungen gegen Patriarchat, Androzentrismus und Hetero-Normismus, Klassenherrschaft und Rassismus. Wobei angemerkt werden muss, dass auch hier Kippmomente entstehen können, zum Beispiel, wenn der Widerstand gegen Diskriminierungen in Identitätspolitik umschlägt.
Ein nächstes Thema: Wie erklärt ihr euch, dass Bloch während 30 Jahren das Stalin-Regime unterstützt hat?
Annette Schlemm: Bloch, der ja viele Jahre in der DDR gelebt hat, hat versucht, auf subversive Weise in der DDR wirksam zu sein, ohne zu riskieren, gecancelt zu werden und damit wirkungslos zu bleiben. Da ist ihm durchaus gelungen: Er hat kritische Spuren gelegt, die auch mich erreicht haben, die ich ja in der DDR aufgewachsen bin.
Auch für mich war damals der Realsozialismus Ausgangspunkt meines Hoffens. Dieser Realsozialismus war ja nicht nur ein repressives Regime, sondern auch ein Gesellschaftsgefüge, das den „kleinen Leuten“ Einiges geboten hat. Viele Oppositionelle wiederum haben sich leider ganz vom Sozialismus abgewendet, was uns eher geschwächt hat, statt etwas Besseres zu erreichen. Ähnliches hat wohl auch zu Zeiten Stalins gegolten. Man muss also immer auch die historischen Bedingungen in Rechnung stellen.
Beat Dietschy: Wir dürfen allerdings nun auch nicht unter den Tisch kehren, dass Bloch in den 30er Jahren die Moskauer Prozesse gerechtfertigt, sich der Parteinomenklatur angedient und Stalin wiederholt positiv zitiert hat. Und das, obwohl seine Philosophie mit dem Stalinismus ja überhaupt nicht kompatibel ist. Bloch hat auf diesbezügliche Kritik geantwortet, der Feind seines Feindes sei sein Freund. Dies insbesondere auch im Hinblick auf den Nationalsozialismus. Ich vermute, dass Bloch damals tatsächlich politisch (nicht philosophisch) auf Stalins Sowjetunion setzte, weil er darin die einzige real existierende Kraft sah, die dem Faschismus standhalten und so seinem utopischen Sozialismus den Raum zur Verwirklichung erhalten bliebe.
Nachdem 1956 in der Sowjetunion die Entstalinisierung begonnen hatte, hat Bloch dann die Kehrseiten der Hoffnung – dass sie nicht nur enttäuschen, sondern einen auch selber täuschen kann – zwar nicht zum ersten Mal, aber radikaler als zuvor zum Thema gemacht. Mit den bekannten Folgen, dass ihm in der DDR die Lehrerlaubnis entzogen wurde und einige seiner Schüler:innen ins Gefängnis wanderten. Anstoss erregte zum Beispiel der Satz: „Das arbeitende Volk hat nicht zu erfahren, dass es gut regiert wird; sondern dass es selber regieren soll, gehört zu einem Stück seiner Arbeit; es gibt am wenigsten ein Privateigentum am Holzhammer“. Letzteres war direkt gegen die Parteibonzen gemünzt.
Die Klimaerhitzung hat Fahrt aufgenommen. Die Mainstream-Klimapolitik ist der immensen Herausforderung in keiner Weise gewachsen. Die Menschheit scheint in den Abgrund zu taumeln. Gibt es da überhaupt noch Hoffnung?
Annette Schlemm: Wir dürfen nichts beschönigen. Ich habe zu den ersten gehört, die zum Schluss gekommen sind, dass das 1.5-Grad-Ziel nicht mehr zu erreichen ist, und zwar basierend auf sachlich-wissenschaftlicher Analyse. Das hat mir in der Szene der „Klimafachleute“ den Vorwurf eingetragen, defätistisch zu sein. Doch wenn ich meine Schlussfolgerung jeweils in Gruppen von Klimaaktivist:innen vorgetragen habe, dann war die überwiegende Reaktion Erleichterung, nicht Resignation. Endlich spricht‘s jemand aus – und wir machen trotzdem weiter.
In die Folgen der Klimaerhitzung ist ja nicht eingeschrieben, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Zwar ist nicht mehr alles möglich, es gibt kein Zurück zur alten Normalität. Doch bleibt die Perspektive, „im Handgemenge“ neue solidarische Lebens- und Wirtschaftsformen zu entwickeln und durchzusetzen. Von Bloch gibt es dazu ein schönes Zitat: „Hoffnung nagelt aber doch immerhin eine Flagge an den Mast, auch im Untergang, indem er nicht akzeptiert wird, auch wenn er noch so mächtig ist.“
Beat Dietschy: Müssen wir uns mit einer desaströsen Entwicklung abfinden? Nein. Im Nicht-Aufgeben steckt Hoffnung. Wenn ich mein Engagement aber nur an der Wahrscheinlichkeit messe, Erfolg zu haben, dann bin ich dauernd von Lähmung und Resignation bedroht.
Dipesh Chakrabarty macht in seinem Buch Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter (2022) darauf aufmerksam, dass die Überschreitung der ökologischen Grenzen durch die Menschheit von uns verlangt, uns an die Einzelheiten der Ungerechtigkeit zwischen den Menschen heranzuzoomen – sonst würden wir nicht sehen, dass viele Menschen leiden – und uns gleichzeitig aus dieser Geschichte herauszuzoomen – andernfalls würden wir nicht sehen, dass andere Arten leiden oder dass sozusagen der Planet leidet. In Zeiten hereinbrechender Krisen und Katastrophen sollten wir beiden Perspektiven Rechnung tragen.
Annette Schlemm: Ich möchte das mal noch weiter entwickeln. Jonathan Lear schildert in seinem Buch ‚Radikale Hoffnung“ die Situation der Crow-Indianer, die im 19.Jhdt ihre Nahrungsgrundlage (die Bisonherden) und ihre Siedlungsgebiete verloren und vor der Auslöschung als Ethnie gestanden haben. Ihr Häuptling Plenty Coups bewahrte Hoffnung jedoch auch noch im Angesicht eines Abgrundes, vor dem niemand wissen konnte, was Überleben bedeutet. Das ist „radikale Hoffnung“, das ist „in totaler Ausweglosigkeit einen rettenden Anker in die ungewisse Zukunft zu werfen.“ (Lear 2021).
Bloch spricht von der Sehnsucht und vom Hoffen als einer genuin menschlichen Eigenschaft. Was und wie Menschen künftig genau erhoffen, können wir heute nicht ermessen, und das wird sich wohl in einem ganz anderen Rahmen bewegen als das, was wir uns aus unserer aufgeklärten westlichen Perspektive ausdenken können. Aber solange es Menschen gibt, die hoffen können, wird es Hoffnung geben.
Letzte Frage: Was bleibt für euch persönlich vom Prinzip Hoffnung?
Beat Dietschy: Ich bin mit Annette einig: Wir müssen uns getrauen auszusprechen was ist. Nancy Fraser tut das in ihrem neuesten Buch „Cannibal Capitalism“. Der Kapitalismus ist daran, seine eigenen Grundlagen, aber eben auch die Grundlagen aller menschlicher Zivilisation zu vertilgen, zu zerstören. Wir selbst gehören zu diesem kannibalistischen Menu, wir sind das Hauptgericht, sagt Nancy Frazer. Damit ist klar: Wir können nicht so weitermachen wie bisher.
Bloch hat in der Tübingerzeit, nach seinem Wechsel nach Westdeutschland, vertrieben aus der DDR, von Hoffnung mit Trauerflor und von militanter Hoffnung gesprochen. Sie stehen für ein trotziges Hoffen, ein Hoffen gegen alle Hoffnungen. Seine Gestalt ist das reflektierte Tun. Das beschreibt gut, worum es auch heute geht.
Hoffnung darf allerdings nicht Alibi sein. Träume vom ‚Grünen Kapitalismus‘ etwa sind Kompensationsluftschlösser und dienen nur als Schlafmittel. Wir müssen unsere Energie dort einsetzen, wo es etwas bewirkt, nicht um uns zu betäuben. Hoffnung ist nicht zwingend dort am Werk, wo am meisten darüber gesprochen wird.
Annette Schlemm: Wir können unterscheiden erstens zwischen Möglichkeiten im Rahmen von gegebenen Grundstrukturen, mit denen Prozesse neu kanalisiert werden sollen, und zweitens Möglichkeiten, die Grundstrukturen zu verändern: System Change also, scheinbar Utopie. Doch fallen heute Überlebensnotwendigkeit und Utopie zusammen. Das zielt auf eine Neubegründung in dem, was den Crashtest übersteht, eine Neubegründung im „Trotz alledem“.
Das erinnert mich an einen Spruch: Hoffnung ist die leise Stimme, die „Vielleicht“ wispert, während die Welt „Nein“ schreit. Dieses Vielleicht kann Aktivitäten tragen zu Themen, die eigentlich traurig sind. Wenn es nicht mehr darum geht, das Leben besser, sondern nicht ganz so schlimm werden zu lassen. Auch diese Aktivität kann uns verbinden, Nähe und Wärme entstehen lassen. Das wird in den Gruppen, mit denen ich in Kontakt in stehe, häufig auch so gesehen. Und auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass dieses Engagement sich auf die ganze Gesellschaften ausweitet und zum revolutionären Umschlag führt, wispert die leise Stimme dennoch: Vielleicht.
Annette, Beat, vielen Dank für das anregende Gespräch.
Gesprächspartner:innen | Anette Schlemm ist Phyikerin und Philosophin; Beat Dietschy ist Theologe, Philosop und Publizist; Beat Ringger ist Publizist und Autor und im Denknetz aktiv.
Literatur
Ernst Bloch (1975): Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis. Werkausgabe Band 15. Frankfurt a.M.
Ernst Bloch (1959). Das Prinzip Hoffnung. Drei Bände, Frankfurt a.M.
Ernst Bloch (1935). Erbschaft dieser Zeit. Zürich
Dipesh Chakrabarty (2022). Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Frankfurt a.M.
Beat Dietschy , Doris Zeilinger und Rainer Zimmermann (2012). Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Berlin
Nancy Fraser (2022). Cannibal Capitalism. London. Deutsch (2023): Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Frankfurt a.M.
Jonathan Lear (2020). Radikale Hoffnung: Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung. Frankfurt a.M.
Ludwig J. Pongratz (Hrsg, 1975). Philosophie in Selbstdarstellungen. Hamburg
Annette Schlemm (2021): Wenn Utopie und Überlebensnotwendigkeit zusammenfallen. Die Philosophie von Ernst Bloch und Hans Jonas im Licht aktueller Probleme. In: VorSchein 37. Jahrbuch 2019 der Ernst-Bloch-Assoziation. Nürnberg: ANTOGO Verlag 2021. S. 145-158.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Denknetz-Jahrbuch „Noch Hoffnung? Von den Möglichkeiten der Solidärität im Wirbel von Krisen“ das im Mai 2024 erscheint.
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