Fitzgerald Crain

Nachruf

Nachruf Linda Stibler
Am 24. Februar 2024 ist Linda Stibler im Alter von 85 Jahren in Basel gestorben – eine engagierte, kämpferische, einem tiefen Humanismus verpflichtete Frau und liebenswerte Freundin. Linda war seit der Gründung des Denknetz vor zwanzig Jahre aktives Mitglied. Während Jahren war sie Teil der Kerngruppe. Einflussreich war sie nicht zuletzt als Gründerin der Fachgruppe Bildung im Jahr 2008.
Linda war zeitlebens eine Frau, die theoretische und praktische Solidarität lebte. Sie setzte sich gegen Atomwaffen ein, kämpfte vehement für die Gleichberechtigung der Frau und engagierte sich früh für die Umwelt. 1971 trat sie der SP bei. 1984 kandidierte sie für den Regierungsrat, in einem Dreiergespann zusammen mit Remo Gysin und Mathis Feldges. Mit Toya Maissen, wie Linda Journalistin, bildete sie ein Power-Duo in der SP (so Remo Gysin an der Trauerrede am 13. März). Sie schrieb für die linksliberale Nationalzeitung, später für die Arbeiterzeitung AZ. Nicht zuletzt interessierte sie sich stark für Bildungsfragen. In den 1980er Jahren setzte sich Linda als Erziehungsrätin für eine Reform der Volksschule ein. Ihr Anliegen war eine Schule, die sozialer Gerechtigkeit verpflichtet war. Dies war bei der damaligen Volksschule, welche die Kinder bereits nach vier Jahren in drei Niveaus aufteilte, nicht der Fall.
2004 wurde in Zürich das Denknetz gegründet. Linda war von Beginn an aktives Mitglied der Kerngruppe. Es störte sie, dass Bildungsfragen innerhalb der linken Parteien und auch im Denknetz nicht mehr die herausragende Rolle spielten, die sie zur Zeit ihres Engagements für die Basler Schulreform gespielt hatten. 2008 rief Linda darum eine Fachgruppe Bildung im Denknetz ins Leben. Die erste Sitzung fand im Gewerkschaftshaus an der Rebgasse im Kleinbasel statt. Wir trafen uns in der Folge regelmässig. Wir: Das waren Lehrer:innen, Dozierende an der Uni und an der Fachhochschule, Ethnolog:innen, Mitglieder von Gewerkschaften, Student:innen. Wir diskutierten darüber, was Bildung ist und was sie von blosser Ausbildung unterscheidet. Wir sprachen über Bildungsstandards und die heute allgegenwärtige Tendenz, alles notenmässig oder mit standardisierten Leistungstests messen zu wollen. Wir dachten über die Ökonomisierung des Bildungswesen nach, organisierten Veranstaltungen und luden Referent:innen ein – zum Warencharakter von Bildung, zum Lehrplan 21, zum Kompetenzbegriff (der Begriff «Kompetenz» war für Linda ein Gräuel) oder zur integrativen Schule.
Bis vor wenigen Jahren war Linda immer dabei. Sie leitete Sitzungen, sie schrieb Protokolle und vermittelte uns immer ihre Grundeinstellung, die von Humanismus und dem Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit geprägt war. Es ging ihr um die Sache: Eine gute Bildung, die mehr sein sollte, als eine auf wirtschaftliche Nützlichkeit ausgerichtete Schulbildung; die Schule sollte vielmehr eine Entwicklungschance für alle jungen Menschen sein. Linda kämpfte für die Werte, die für sie wichtig waren. Immer wieder wies sie auf die Eltern der Schulkinder hin, die man ernst nehmen und einbeziehen solle. Wie leicht gingen die Angehörigen der Schulkinder bei engagierten Bildungsdiskussionen vergessen.
Die Volksschule war nicht das einzige Thema der Gruppe. Wir diskutierten Thesen der SP zur frühen Bildung, sprachen über Hochschulfragen, vor allem über die prekäre Situation in den Fachhochschulen. Die Berufsbildung war ein Thema. Nicht zuletzt die Erwachsenenbildung lag Linda am Herzen, unterrichtete sie doch selbst an der Volkshochschule. Aber im Zentrum stand doch die Volksschule, die sich in Basel wieder von der reformierten Schule der 1980er-Jahre zurück entwickelt hatte: Das alte, ungerechte und unproduktive System von Gymnasium, Real- und Sekundarschule war in den Leistungszügen der neuen Sekundarschule wieder auferstanden.
Von 2008 bis vor ein paar Jahren war Linda so etwas wie die Seele der Gruppe. Sie war ein Vorbild für demokratisches Denken und Handeln. Sie konnte in Diskussionen dabei durchaus unnachgiebig sein, sie konnte heftig reagieren, wenn sie mit etwas nicht einverstanden war. Sie konnte unbequem sein und an ihrer Überzeugung festhalten, auch wenn sie damit allein stand. Linda liebte die Freiheit, nicht zuletzt die Freiheit des Denkens, über alles. Sie war keine, die sich einem vordergründigen Harmoniebedürfnis unterwarf. Sie sagte geradeheraus, was sie richtig fand.
Irgendwann, um ihren 80. Geburtstag herum und dann vor allem in der Zeit von Corona, fühlte sie sich schwächer werden. Ihre körperlichen Gebrechen nahmen zu. Sie konnte nicht mehr lange sitzen, sie wurde schneller müde. Sie zog sich etwas zurück. Und vor ein paar Jahren gab sie ihren Abschied von der Gruppe. Es war für sie Zeit, die Arbeit an die Jüngeren und die Jungen weiter zu geben.
Die Zeit vergeht, alles verändert sich. Je älter wir werden, umso mehr trauern wir manchmal dem Vergangenen nach. Auch Linda war sehr mit einer Zeit verbunden, die – damals in den 1980er-Jahren – noch voller Hoffnung war; mit einer Zeit, in der das Wort «Utopie» einen positiven Beiklang hatte. Linda vermisste in den letzten Jahren diesen utopischen Geist, den sie zugleich verkörperte. Aber Linda war alles andere als rückwärtsgerichtet. Sie freute sich an sozial engagierten und aufmüpfigen jungen Menschen, welche für sie die Möglichkeiten einer humaneren Welt von morgen verkörperten. Sie war überzeugt: Die Jungen würden die Welt mit ihren eigenen Möglichkeiten, auf ihre eigene Art gestalten. Anders als wir Alten. Oder vielleicht doch in der gleichen Richtung.
Autor | Fitzgerald Crain, Mitglied Fachgruppe Bildung