Editorial
Was bedeutet es, wenn sich inmitten eines ›reichen‹ Landes wie der Schweiz Meldungen über quasifeudale Ausbeutungsverhältnisse in der Hauswirtschaft häufen? Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn unerlässliche Sorgearbeit derart gering geschätzt wird, dass sie an Menschen delegiert wird, die durch Existenznot in eine unwürdige Pendelmigration oder in die Illegalität getrieben werden? Was bedeutet es ferner, wenn im Gesundheits- und Sozialwesen – jenen Bereichen also, in denen gegenwärtig am meisten neue Jobs entstehen – Stress, Arbeitsverdichtung und Prekarisierung zunehmen?
Hier geht es um weitaus mehr als um die Frage von Arbeitsbedingungen. Die Frage, wie eine Gesellschaft die Betreuung, Begleitung und Versorgung von Kindern, Kranken und Älteren organisiert – das also, was im Kern die sogenannte Care-Ökonomie oder Sorgeökonomie ausmacht – wird mehr und mehr zur Schlüsselfrage der ökonomischen, sozialen und ökologischen Entwicklung.
Doch während der Bedarf an Care allein schon durch den wachsenden Anteil älterer Menschen steigt, schwinden die Ressourcen, Care zu gewährleisten, weil immer mehr Menschen ihr ›Erwerbspotenzial‹ abrufen wollen und/odermüssen und weil öffentliche Care-Leistungen unter Kostendruck geraten. Dies ist das Spannungsfeld der Care-Krise, das in mehreren Beiträgen dieses Buches (Gabriele Winker, Ulrike Knobloch) ebenso ausgeleuchtet wird wie die Versuche der Politik, diese Krise zu verwalten und zu regulieren (Haller, Chorus).
Die Debatte um Care ist nicht neu, aber Breite und Intensität haben stark zugenommen. Innerhalb der politischen und wissenschaftlichen Linken wird derzeit sogar ein regelrechter »Care-Hype« (Ingrid Kurz-Scherf) diagnostiziert. Diese Hochkonjunktur der Care-Debatte trägt dazu bei, dass die immense gesellschaftliche Bedeutung der Care-Ökonomie in sozialer und ökonomischer Hinsicht zunehmend gewürdigt wird. Wachsende Resonanz finden auch jene feministischen Autorinnen, die beharrlich fordern, dass die menschliche Reproduktion integraler Bestandteil der Analyse und Kritik der politischen Ökonomie ist beziehungsweise sein müsse – in diesem Band zum Beispiel die Autorinnengruppe Feministische Ökonomie.
In welchem Verhältnis also steht Care zum Prinzip der Kapitalverwertung? Verwertung schliesst die Sorge aus – und ist dennoch auf sie angewiesen. Diese Formel bringt den Grundwiderspruch im Kapitalismus auf den Punkt. Verwertung der Arbeitskraft durch das Kapital kann erst geschehen, wenn dafür gesorgt ist, dass die Arbeitskraft geschaffen wird und erhalten bleibt. Und ohne den Erhalt einer lebensfähigen Umwelt lässt sich ebenfalls nichts mehr verwerten. Trotz oder vielleicht genau wegen dieses Grundwiderspruchs wird zunehmend versucht, die Care-Krise mit marktwirtschaftlichen Mitteln zu lösen. Doch diese Versuche erweisen sich als vertrackt. Vielfach funktioniert eine Verwertung von Care nur als Rosinenpickerei – etwa wenn kommerzielle Agenturen Hauswirtschaftsangestellte an besonders kaufkräftige Haushalte verleihen oder wenn Luxuskliniken für Vermögende betrieben werden. Wenn das Kapital dann doch in die Breite des Care-Bereichs eindringt, führt dies oftmals dazu, dass die Qualität erheblich leidet.
Bezogen auf das Spannungsverhältnis zwischen Care und Verwertung ergeben sich eine Reihe von offenen Fragen und Widersprüchen, die in der Care-Debatte noch wenig durchbuchstabiert worden sind. Mit diesem Buch wollen wir sie identifizieren und zuspitzen. Dabei zeigen sich erhebliche Unterschiede und sogar Widersprüche, die sowohl die Analyse von Care (vgl. dazu die Artikel von Ulrike Knobloch und Gabriele Winker) als auch die Frage betreffen, wie Care gesellschaftlich organisiert werden soll (vgl. dazu den Artikel von Hans Baumann und Beat Ringger). Wenn Care-Arbeit nur bedingt marktförmig organisiert werden kann, stellt sich die Frage, wie sie bezahlt werden soll, wenn sie selbst doch keinen beziehungsweise keinen ausreichenden Mehrwert generiert. Ist die Ausweitung bezahlter Care-Arbeit innerhalb des Kapitalismus für diesen dysfunktional und somit keine realistische Perspektive, wie es etwa Peter Samol in diesem Band formuliert? Oder bestehen für die Finanzierung öffentlicher Care-Dienste doch erhebliche Spielräume, wie es etwa Mascha Madörin im Gesprächmit Tove Soiland und der Redaktion unterstreicht?
Kann eine Um- bzw. Rückverteilung des kapitalistisch produzierten Mehrwerts eine Care-Gesellschaft ermöglichen? Hans Baumann und Beat Ringger sehen darin jedenfalls eine bedeutsame politische Perspektive: Der Reichtum sei aus den destruktiven Finanzmärkten in die Nützlichkeitszonen der Gesellschaft zu verschieben, für Care-Arbeit ebenso wie für den ökosozialen Umbau. Angedacht wird dabei eine Gesellschaft, in der das bestimmende Momentum vom kapitalistischen Sektor auf den Bereich des Gemeinnützigen und der Care übergeht – einer Care, in der sich ›private‹ Erbringung und öffentliche Dienste auf neue Art verzahnen würden. Dabei stellt sich die Frage, ob sich eine solche Care- Gesellschaft einen dominierenden kapitalistischen Sektor noch ›leisten‹ kann, oder ob sich die Pole der Sorge und der Verwertung gegenseitig ausschliessen, so dass eine Care-Gesellschaft nur in der Überwindung der Dominanz des Kapitals gedeihen kann.
Jedenfalls scheint uns klar, dass wir an einer wichtigen gesellschaftspolitischen Schwelle stehen. Diesseits der Schwelle befindet sich eine Gesellschaft, die auf die Erzielung von Gewinnen und auf die Vermarktung von Gütern ausgerichtet ist. Jenseits der Schwelle befindet sich eine Gesellschaft, in der die Dienste am Menschen und die Sorgfalt im Umgang mit der Natur im Zentrum stehen. Der Schritt über diese Schwelle ist nötig, um die gesellschaftliche Bedeutung von Care-Ökonomie und Care- Arbeit zu verstehen und anzuerkennen. Die private Care-Arbeit – die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Erwachsenen, die Sorge für persönliche Bindungen und Beziehungen – leidet darunter, dass sie in einer gewinnorientierten Gesellschaft ökonomisch gering geschätzt wird. Diese Gesellschaft ist von grossen Ungleichheiten geprägt, und die Ungleichheiten werden von einer Generation auf die nächste übertragen. Die öffentliche Care-Arbeit im Gesundheitswesen, in Kindertagesstätten und in anderen sozialen Einrichtungen wird unter Spardruck gesetzt, weil sie scheinbar nur Kosten verursacht, statt rentabel zu sein. Doch gerade in der Förderung und der Weiterentwicklung der Care-Arbeit liegt das entscheidende Potenzial, um den gesellschaftlichen Wohlstand nachhaltig mehren zu können. Denn der Reichtum einer Gesellschaft bemisst sich nicht nur an der Zunahme von Finanzströmen oder an der Menge an produzierten Gütern. Wie reich eine Gesellschaft wirklich ist, zeigt sich in der Art und Weise, wie sie die Betreuung, Begleitung und Versorgung von Kindern, Kranken und Älteren – der vermeintlich ›Unproduktiven‹ – organisiert.
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Cover
AutorInnen
Ruth Gurny, Ulrike Knobloch, Bettina Dauwalder, Christine Michel, Mauro Moretto, Vania Alleva, Pascal Pfister, Andreas Rieger, Ioanna Mikrogiannaki, Lisa Yashodhara Haller, Silke Chorus, Peter Samol, Mascha Madörin, Tove Soiland, Feministische AutorInnengruppe, Gabriele Winker, Hans Baumann, Beat Ringger, Denknetz Kerngruppe, Klaus Dörre
ISBN
Hans Baumann, Iris Bischel, Michael Gemperle, Ulrike Knobloch, Beat Ringger ung Holger Schatz (Hg): Jahrbuch 2013: Care statt Crash. Sorgeökonomie und die Überwindung des Kapitalismus; ISBN 978-3-85990-220-6; Verlag: edition 8, Postfach 3522, 8021 Zürich
Medientext
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„Care statt Crash“ von Ina Praetorius
Kristin Ideler in AK
Peter Nowak in Jungle World