Beat Ringger

Diskussion

Inflation, Versorgungskrisen, Staatsinterventionen
02.11.2022   |   Lockdowns, der Ukrainekrieg und die Folgen der Klimaerhitzung für die Landwirtschaft sorgen für Engpässe bei essenziellen Gütern wie Nahrungsmittel, Energieträger und Halbfabrikaten. Erdöl-Konzerne und Handelsfirmen nutzen dies, um enorme Sonderprofite zu erzielen. 2021 und 2022 sind das je mehrere Tausend Milliarden US-Dollar. Dies führt zu hohen Inflationsraten und zu enormen Lasten für die Bevölkerungen und für die übrige Wirtschaft. Die verfehlte Politik der Zentralbanken verschärft das Problem. Die Staaten sind zu massiven Interventionen gezwungen.

Einleitung

Wir sind in einer Phase multipler Krisen angelangt, die sich mehr und mehr ineinander verhaken. Diese Krisen äussern sich zunehmend auch als Versorgungskrisen. 2007/2008 wurden innerhalb von kürzester Zeit die liquiden Mittel auf den Finanzmärkten knapp, weil die Finanzhäuser kein Vertrauen in die Solidität der andern Finanzinstitute mehr hatten und deshalb ihre Geldmittel zurückhielten. In der Coronakrise kam es zu diversen Lieferengpässen und -ausfällen. Dabei ist die hohe Verletzlichkeit der Hyperglobalisierung zu Tage getreten. Die aus Profitgründen auf die Spitze getriebene globale Arbeitsteilung hat dazu geführt, dass der Ausfall von wenigen oder gar nur einem Lieferanten auf weit verzweigte Produktionsketten durchschlägt. Gegenwärtig sind es fossile Energieträger (Erdgas, Erdöl) und Strom sowie Grundnahrungsmittel (insbesondere Getreide), die in der Folge der russischen Invasion in der Ukraine knapp geworden sind. Die Klimaerhitzung und die Fragilität der Welt(un)ordnung werden die Kette von solchen Versorgungskrisen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr abreissen lassen. Bestenfalls dürfen wir noch mit Verschnaufpausen rechnen.
Jede Versorgungskrise hat ökonomische Verwerfungen zur Folge, bringt aber auch Profiteure hervor. Ein Form solcher Verwerfungen ist das gegenwärtige globale Inflationsgeschehen. Es ist durch die enorm hohen Sonderprofite ausgelöst worden, die die Energie- und Handelsfirmen wegen der aktuellen Knappheiten erzielen können. Diese Sonderprofite bewegen sich in astronomischen Höhen von mehreren Tausend Milliarden US$ alleine im Jahr 2021. Die Inflation hat sich mittlerweile über Preis-Preis-Spiralen verselbstständigt und wird uns noch etliche Jahre beschäftigen. Vieles deutet darauf überdies hin, dass sie in der Weltökonomie und in Wirtschaftspolitik einen grundlegenden Wendepunkt markiert.
Der vorliegende Text basiert auf mehreren Diskussionen in der Denknetz-Fachgruppe Politische Ökonomie. Ein besonderer Dank für ihre Rückmeldungen zum Textentwurf gilt Roland Herzog, Martin Gallusser und Hans Baumann. Die Verantwortung für die im Text gemachten Aussagen liegen jedoch einzig beim Autor.

1. Profitgetriebene Inflation

Zwei Jahrzehnte tiefe Inflationsraten
In den zwei Jahrzehnten vor 2020 waren die Inflationsraten in den meisten Ländern tief bis sehr tief, ja es drohten sogar deflationäre Entwicklungen, etwa in Japan oder Europa. Ähnliches gilt auch auf Weltebene. Laut Angaben der Weltbank hat die globale Inflationsrate im Zeitraum von 1999 – 2020 nur gerade im Jahr der Finanzkrise 2008 über 5% gelegen. In vielen Ländern stieg sie viele Jahre nicht über 4%: In den USA und der Schweiz seit 1992, in Frankreich seit 1986, in Deutschland seit 1994. In Südkorea lag sie seit 1999 nur zweimal über 4%, in China seit 1997 in zwei Jahren knapp über 5%. In den führenden westlichen Ländern konnte das allgemein verbreitete Ziel einer Inflation im Bereich von 2% weitestgehend eingehalten werden, und dies trotz einer enormen Ausweitung der Geldmenge, trotz Finanz- und Eurokrise und den dabei erfolgten gewaltigen monetären Interventionen von Staaten und Zentralbanken.

Quelle
Weltbank (Gelesen am 15.09.2022)

Corona: Produktionsausfälle und Lieferengpässe
Die Corona-Pandemie und die Lockdowns führen 2020/2021 zu Produktionsausfällen und Lieferengpässen, und als nach dem Abflauen des Pandemiegeschehens die Wirtschaftskonjunktur wieder anzieht, nutzen dies die Anbieter, um höhere Preise zu durchzusetzen. Dadurch entstehen inflationäre Tendenzen. Zunächst bleibt umstritten, wie lange diese Preiserhöhungen andauern, und ob sich dadurch höhere Inflationsraten festsetzen. Der Aggressionskrieg des Putin-Regimes gegen die Ukraine und der folgende Wirtschaftskrieg um Nahrungsmittel, fossile Energieträger und Rohstoffe wirkt dann aber als eigentlicher Schock. Die Preise für Grundnahrungsmittel (insbesondere für Getreide), für Gas und Erdöl schnellen nach oben. Praktisch alle Länder der Welt werden nun von Inflation erfasst. Im August 2022 liegen die Inflationsraten in den USA bei über 8%, in der EU bei 9.8% und im Euroraum bei 8.9%. Da es sich dabei um Vergleiche mit dem Vorjahresmonat handelt, sind diese Inflationsraten ziemlich volatil; sie könnten auch bei anhaltend hohen Preisen für Strom und fossile Energieträger auch rasch wieder sinken, sobald ein starker Preisanstieg mehr als ein Jahr zurückliegt, und solange die Inflation keine Eigendynamik in Form von Preis-Preis- und Preis-Lohnspiralen angenommen hat.
Profitgetriebener Inflationsschub
Die Gründe für den aktuellen Inflationsschub sind rasch geklärt. Die Inflationsdynamik ist ausschliesslich durch Sonderprofite (Zufallsgewinnen, windfall profits) sowie der Macht der oligopolistischen internationalen Konzerne, die hohen Preise durchzusetzen, ausgelöst worden. Die Preiserhöhungen für fossile Energieträger, Nahrungsmittel und Rohstoffe haben nicht mit höheren Gestehungs- und nur in geringem Mass mit höheren Transportkosten zu tun. In einer ersten Phase sind sie den corona- und kriegsbedingten Verknappungen zuzuschreiben, kurz danach kommen die Verknappungen von Energieträgern und Getreide in der Folge des Ukraine-Krieges dazu. In kleinerem Mass bereits auch den direkten Auswirkungen der Klimaerhitzung, die die landwirtschaftlichen Erträge in mehreren Weltregionen hat einbrechen lassen (Dürre in Südwesteuropa, Extremwetter in weiten Teilen Chinas, Überschwemmungskatastrophe in Pakistan). Die Preiserhöhungen schlagen sich in massiv gestiegenen Gewinnen all jener Unternehmen nieder, die von den Engpässen profitieren. Die nachstehend aufgeführten Zahlen belegen dies eindrücklich. So machen die Zufallsgewinne im Jahr 2021 alleine in den USA 10.0% des US-BIP des Vorjahres aus (!).
Zu diesen Sonderprofiten folgen einige Zahlen und Quellenangaben.
Zu den Lebensmittelpreisen: Laut The Guardian kontrollieren vier Handelsfirmen 70-90% des globalen Getreidemarktes: Archer-Daniels-Midland, Bunge, Cargill und Louis Dreyfus. Archer-Daniels-Midland machte im zweiten Quartal 2021 die höchsten Profite der Unternehmensgeschichte. Der Umsatz von Bunge stieg im zweiten Quartal um 17 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, der Gewinn wurde laut dem «Guardian» von vorherigen Belastungen beeinflusst. Cargill meldete eine Gewinnsteigerung um 23 Prozent für das Ende Mai endende Geschäftsjahr, der Konzern machte 165 Milliarden Dollar Gewinn. Louis Dreyfus meldete für 2021 einen Gewinnanstieg von 80 Prozent, insgesamt stiegen die Gewinne auf 1,62 Milliarden Dollar.

Quelle
Infosperber (Gelesen am 15.09.22)

Zu den Profiten von Erdöl- und Erdgaskonzernen: Laut der Studie ‘Kriegsgewinne besteuern’ (Trauvetter, Kern-Fehrenbach, 2022) haben die sechs Mineralölkonzerne SaudiAramco, BP, Total, Shell, ExxonMobile und Wintershall Dea ihre Gewinne im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund 60 Milliarden US-Dollar erhöht. Auf den gesamten Mineralölmarkt hochgerechnet schätzen die Studienautoren Übergewinne von rund 430 Milliarden US-Dollar; für das ganze Jahr 2022 von 1.160 Milliarden US-Dollar (Kapitel 2 der Studie, S.9).

Quelle
Christoph Trautvetter, David Kern-Fehrenbach (Juli 2022): Kriegsgewinne besteuern (Gelesen am 19.09.2022)

Besonders eindrücklich sind die statistischen Angaben der amerikanischen Zentralbank von St. Louis (eine von 12 FED-Banken) zu den Profiten aller Unternehmen in den USA (ohne Finanzgesellschaften). Demnach ist die Summe der Quartalsprofite aller nicht-Finanz-Unternehmen seit Anfangs 2020 von 800 Mrd US$ auf heute über 2000 Mrd US$ hochgeschnellt. Zum Vergleich: Das US-BIP beträgt 2020 20‘940 Mrd US$, das globale BIP 84‘710 Mrd US$. Die US-Sondergewinne für das gesamte Jahr 2021 dürfen auf rund 2100 Mrd US$ zu liegen kommen. Das ist die Summe der Quartalsanteile, die über dem mehrjährigen Schnitt von 1000 Mrd (2015-2020) liegt und entspricht 10,0% des US-BIP von 2020 respektive 2,48% des globalen BIP vom selben Jahr. Diese Zahlen belegen eindrücklich, dass die gegenwärtige Inflationswelle durch Sonderprofite aufgrund der Versorgungsengpässe ausgelöst worden ist. Dieser Anstieg ist historisch einmalig: Bislang sind vergleichbare Steigerungen ausschliesslich in Phasen der Erholung nach Phasen tiefer Rezensionen aufgetreten, nicht wie diesmal vor einer Rezession.
Nichtfinanzgesellschaften: Profite nach Steuer (ausser MWSt und CCAdj ) 1950 – 2022
Nichtfinanzgesellschaften: Profite nach Steuer (ausser MWSt und CCAdj) 2015 – 2022

Quellen
FRED, Economic Research, Federal Reserve Bank of St.Louis
Nonfinancial Corporate Business: Profits After Tax (without IVA and CCAdj), laufender Update. (Gelesen am 16.09.2022)

Dazu noch ein Indiz: Laut FAZ gibt Europa 2022 «1000 Milliarden Euro zusätzlich für seine Energie aus». (Gelesen am 25.09.2022)

Kein rascher Rückgang der Inflationsraten
Mittlerweile ist eine Dynamik entstanden, die einen raschen und deutlichen Rückgang der Inflationsraten unwahrscheinlich werden lässt. Treiber ist die Preis-Preis-Spirale. Die Unternehmen, die von massiv gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise betroffen sind, wälzen die zusätzlichen Kosten auf die Preise ihrer Güter und Dienstleistungen ab. Deshalb steigt nun auch mehr und mehr die sogenannte Kerninflation (Inflation ohne die besonders volatilen Energie- und Lebensmittelpreise). Dabei spielt auch eine wichtige Rolle, dass die Preise von Energie und Grundlebensmitteln unelastisch sind, d.h. die Nachfragenden können nicht auf andere Güter ausweichen (zumindest nicht kurzfristig). Verlagerungen auf andere Hersteller und Herstellungsverfahren (z.B. erneuerbare Energien, verstärkter Lebensmittelanbau in andern Regionen / mit andern Methoden, Erschliessung neuer Rohstoff-Vorkommen) benötigen Zeit.
In den USA ist auch bereits eine Preis-Lohnspirale in Gang gekommen, da die Nachfrage nach Arbeitskräften nach dem Corona-Einbruch stark zugenommen hat und diese dabei bessere Löhne durchsetzen können. Für Europa wird dies zunächst wohl nur in schwächerer Form eintreffen.
Insgesamt ist davon auszugehen, dass sich die Inflation festsetzen wird, wenn auch noch nicht klar ist auf welchem Niveau. Dies wird auch dann der Fall sein, wenn die Energiepreise wieder deutlich sinken.
Sonderfall Schweiz?
In der Schweiz beträgt die Inflationsrate im September 2022 3,3% (BfS). Aufs ganze Jahr gesehen wird sie wohl etwas tiefer ausfallen. Sie liegt damit deutlich unter den Werten im europäischen Umfeld. Als wichtiger Grund dafür wird die starke Aufwertung des Schweizer Frankens angegeben. Von August 2019 bis September 2021 schwankte der Franken-Euro-Kurs um einen Wert von 1.08 Franken pro Euro, um dann zunächst auf 1.04 Franken (Dez 2021) zu sinken und ab Mai 2022 nochmals deutlich auf 0.96 (Sept 22) abzusacken. Der Euro verliert also gegenüber dem Franken in nur einem Jahr über 10%. Im gleichen Zeitraum ist auch der US-Dollarkurs um rund 5% gefallen (die Differenz zwischen Euro und Dollar rührt von der Aufwertung des Dollars gegenüber dem Euro her).
Allerdings ist trotz der Aufwertung des Frankens die Inflationsrate bei Importgütern bis August 2022 auf beachtliche 8,6% gestiegen. Das weist wohl darauf hin, dass die Importeure die Situation nutzen und erhebliche Währungsgewinne einstreichen. Die verhältnismässig tiefe Inflationsrate in der Schweiz wird also vor allem davon bestimmt, dass der Preisanstieg bei den Inlandgütern gering ist (1,8%). Dies könnte sich aber bald ändern, wenn auch hierzulande die Unternehmen ihre höheren Kosten für Energie, importierte Rohstoffe oder Halbfabrikate auf ihre Preise überwälzen.
Ein weiterer Grund für eine tiefere Inflation ist, dass der Strommarkt für Endverbraucher:innen in der Schweiz nicht liberalisiert worden ist und viele kommunale resp. regionale Stromanbieter die Energie weiterhin zu den Gestehungskosten liefern. Zudem spielt Erdgas in der Stromerzeugung in der Schweiz bislang nur eine geringe Rolle . Konventionelle thermische Kraft- und Fernheizkraftwerke machen hierzulande ganze 2.3% der gesamten Stromerzeugung aus (2021).
Auch insgesamt ist der Anteil des Einkommens, das für Energie aufgewendet wird, mit rund 5 Prozent in der Schweiz sehr tief – tiefer in allen vergleichbaren Ländern der Welt.
Was die nackte Inflationsrate verbirgt
Allerdings gibt die Inflationsrate, auf die sich die Diskussion üblicherweise bezieht, die gestiegenen Lebenshaltungskosten der Bevölkerung nur unzulänglich wider. So spielen die Preise für Lebensmittel und Energieträger für einkommensschwächere Bevölkerungsanteile eine höhere Rolle. Je tiefer das Einkommen, umso bedeutender sind diese Ausgabenposten für die Haushalte. In der Schweiz betrifft dies vor allem die Energie- und Treibstoffe, deren Inflationsrate im August 2022 bei 27.9% gelegen hat.
Zu den unterschiedlichen Wirkungen der Inflation auf verschiedene Einkommensgruppen gibt es für Grossbritannien regelmässige Erhebungen des Institute for Fiscal Studies (IFS). Im Mai 2022 macht das IFS folgende Aussagen: “The bottom 10% of households in terms of income spend on average almost three times as much of their budgets on gas and electricity compared to the highest-income tenth (11% versus 4%).” Und: “Assuming an overall rate of inflation of 10%, as projected by the Bank of England, the poorest 10% of households may face inflation rates of as high as 14%, compared to 8% for the richest households.” (siehe dazu auch die untenstehende Grafik).
Hans Baumann hat auf dieser Basis entsprechende Werte für die Schweiz geschätzt und kommt zum Schluss, dass auch hierzulande das einkommensschwächste Dezil der Bevölkerung stärker getroffen wird. Für dieses Dezil ist bislang eine Inflationsrate von 4,2% entstanden, für das reichste Dezil hingegen nur eine Rate von 3,1%.
Inflationsraten für Grossbritannien, aufgeschlüsselt nach Einkommensdezilen

Quelle
Heidi Karjalainen, Peter Levell (25. Mai 2022). Inflation for poorest households likely to increase even faster than for the richest, and could hit 14% in October. (Gelesen am 19.09.2022)

Weiter sind in der Schweiz die Krankenkassenprämien nicht im Warenkorb zur Berechnung der Inflation enthalten. Begründet wird dies damit, dass die Kosten für Gesundheitsdienstleistungen direkt erfasst würden. Diese haben im August 2022 gegenüber dem Vorjahr nun allerdings um 0.4% abgenommen. Ausgerechnet jetzt, wo die Inflation ansteigt, machen die Prämien einen Sprung von durchschnittlich 6.6%, der nicht in die Berechnung der Inflation einfliesst und damit bei einem Teuerungsausgleich für Renten und Löhne nicht berücksichtigt wird.
Überdies gibt es bei den Energiepreisen beträchtliche regionale Unterschiede. Die für 2023 angekündigten Strompreise der Gemeindewerke schwanken zwischen 8,49 und 58,76 Rp/KWh (Median 27,2 Rp/KWh; Quelle ElCom). Auf Dauer schaffen solche Unterschiede neue Spannungsfelder und werfen die Frage einer umfassenden Reform der Stromversorgung auf.

Quellen
Bundesamt für Statistik BfS (2022). Die Konsumentenpreise sind im August um 0,3% (hier im Vergleich zum Vormonat!) gestiegen. Medienmitteilung vom 01.09.2022 (Gelesen am 19.09.2022)

Hans Baumann (Sept 2022), Teuerung trifft Haushalte mit tiefen Einkommen stärker. In: Work, 16.09.2022, S.13

Eidgenössische Elektrizitätskommission ElCom (2022). Strompreise Schweiz. (Gelesen am 22.09.22)

2. Der Kontext: Zunehmende Versorgungskrisen

Versorgungskrisen und eine Ökonomie der dauerhaften Knappheiten
Die gestiegenen Inflationsraten werden uns noch einige Jahre beschäftigen, auch wenn sie möglicherweise gerade einen Peak erreicht haben. Dies allerdings nur, wenn sich die aktuellen Versorgungsengpässe dauerhaft entspannen und wir nicht in neuerliche Knappheiten geraten. Dafür müsste der Ukraine-Krieg beendet werden und sich die globalen Wirtschaftsbeziehungen normalisieren. Doch dürfen wir noch mit einer solchen Normalisierung rechnen? Gerade spricht nicht sehr viel dafür.
  • Der Konflikt zwischen Russland und dem «Westen» hat eine Intensität erreicht, die selbst bei einer Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ukraine voraussichtlich nicht einfach beigelegt werden wird. Die US-Regierung hat bereits angekündigt, die Sanktionen über ein Kriegsende hinaus aufrecht erhalten und damit den russischen Oligarchen-Kapitalismus aufzureiben zu wollen. Es muss damit gerechnet werden, dass die Konfliktlage sich erst bei einem Regimewechsel in Russland und/oder in den USA (z.B. einer Rückkehr Trumps ins Präsidialamt) ändert.
  • Destabilisierend wirken auch die ökonomischen Rivalitäten zwischen den USA und China, denen mit Blick auf Taiwan bedeutendes Eskalationspotenzial zukommt
  • Die Hyperglobalisierung der letzten dreissig Jahre hat generell hohe ökonomische Verletzlichkeiten erzeugt, insb. durch global eng getaktete Wertschöpfungsketten und dadurch, dass wichtige (Halb-)Fabrikate nur noch an wenigen Standorten hergestellt werden.
  • Zentrale Infrastrukturen sind durch Liberalisierungen und Deregulierungen, aber auch durch hohe Abhängigkeiten von IT-Technologien anfälliger für Störungen geworden (z.B. Stromversorgungsnetze, Bahnverkehr, Kommunikationsnetze). Gleichzeitig durchdringen manche dieser Infrastrukturen die Ökonomie und die Gesellschaft in noch nie dagewesenem Ausmass (z.B. Internet, Handy-Netze und generell die Stromversorgung)
  • In China kommt es nach wie vor regelmässig zu Lockdowns mit unmittelbaren Folgen für die Produktion. Ohnehin ist nicht absehbar, ob und wie sich die Corona-Pandemie weiterentwickelt. Dies gilt im Übrigen auch für andere Aspekte der Weltgesundheit, z.B. für die Dynamik von Antibiotika-resistenten Bakterien, für katastrophenbedingte Epidemien oder für das Auftreten neuer Erreger. Von wachsender Bedeutung sind auch die zunehmenden Lieferengpässe bei Arzneimitteln. Eine Eskalation der Konflikte mit China, das einen hohen Anteil an pharmazeutischen Wirkstoffen herstellt, könnte sogar eine tiefgreifende, länger andauernde Versorgungskrise bei essenziellen Standard-Medikamenten auslösen.
  • Die Klimakrise wirkt sich zunehmend auf die Nahrungsmittelproduktion aus (Dürre, Starkregen), 2022 zum Beispiel in Südwesteuropa, in China und in Teilen Asiens (Pakistan). Es ist unabsehbar, wie sich die Lage diesbezüglich entwickelt und ob respektive wie rasch sich Versorgungskrisen mit Grundnahrungsmitteln festsetzen.
  • Die zunehmende Elektrifizierung und Computerisierung von Produkten, Infrastrukturen, Produktionsverfahren und der Mobilität erzeugt hohen Bedarf an Strom, aber auch an Rohstoffen, die z.T. selten sind, oder aber nur an wenigen Standorten gefördert werden.
  • Schliesslich stellt sich auch die Frage, ob Teile des Kapitals in der Inflation eine willkommene Gelegenheit sehen, die Kräfteverhältnisse zwischen Klassen, aber auch zwischen Nationen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die USA etwa können ihre Stellung auf den Weltmärkten mit der Erhöhung der Leitzinsen deutlich verbessern (siehe Kapitel 3, Abschnitt Währungskriege).
  • Doch selbst dann, wenn in den nächsten Jahren nochmals eine Normalisierung ökonomischer und globalpolitischer Verhältnisse erreicht werden sollte, dürfte es sich lediglich um eine Verschnaufpause handeln. Denn bereits heute ist klar, dass die Klimaerhitzung rascher weiterschreitet als allgemein angenommen. Eine massgebliche Reduktion der Treibhausgas-Emissionen ist nicht absehbar, und gewisse Kipppunkte scheinen bereits erreicht und selbstverstärkende Prozesse in Gang kommen zu sein (z.B. durch das Auftauen des Permafrostes und das Schmelzen der Polarkappen). Dadurch entsteht eine neue globale Ökonomie der andauernden Knappheiten, die so ziemlich alles auf den Kopf stellt, was gegenwärtig noch als Selbstverständlichkeit gilt – zum Beispiel den neoliberalen Glaubenssatz, wonach Märkte am besten in der Lage seien, für die nötigen Anpassungsprozesse zu sorgen.
Die Energiekrise in Europa
Die aktuelle Energiekrise in Europa ist dafür eine Art Blaupause. In den Jahren 2003-2007 machte die EU die entscheidenden Schritte zur Liberalisierung des Energiemarktes und schuf für Geschäfts- und Privatkunden die Möglichkeit, ihre Gas- und Elektrizitätsversorger nach eigenem Ermessen zu wählen. In der Schweiz ist eine gleichlautende Liberalisierung 2002 dank dem Referendum der Gewerkschaften mit 52.6% Nein-Stimmen in einer Volksabstimmung gescheitert. 2009 wurde der Schweizer Markt dann dennoch teilweise liberalisiert: Unternehmen mit einem Verbrauch von mehr als 100’000 kWh pro Jahr können ihren Stromversorger frei wählen.
In Europa hat die Liberalisierung nun dazu geführt, dass die enormen Preissteigerungen für Erdgas ungebremst auf die Endpreise durchschlagen. Verstärkt wird der Effekt durch das Merit-Order-Prinzip bei der Preisfestlegung von Strom. Das Prinzip besagt, dass der Preis auf der Höhe derjenigen Produktionskosten festgelegt wird, die erforderlich sind, um die teuerste Energiemenge zu produzieren, die auf dem Markt gerade noch nachgefragt wird. Damit soll sichergestellt werden, dass die gesamte Nachfrage gedeckt werden kann. Gegenwärtig ist dies mit grossem Abstand der in Gaskraftwerken erzeugte Strom, der den Preis des gesamten Stromangebotes definiert. Zudem hat die Liberalisierung alle Konzepte untergraben, die auf eine verlässliche, möglichst regional abgestützte Energieversorgung abzielen.
Wird in einer Krise auf die «Marktmechanismen» vertraut, dann entstehen dadurch enorme und unkontrollierbare Verwerfungen. Die Krise erzwingt deshalb eine direkte Bearbeitung durch die Politik. Wie schon in der Coronakrise werden massive Staatsinterventionen getätigt, für die erneut enorme Geldmittel gesprochen werden. Zudem zeigt sich, dass manche Massnahme ohne strukturelle Eingriffe in die Privatunternehmen zu verpuffen droht.
Versorgungskrisen und strukturelle Eingriffe: Beginn einer Wende?
Im liberalisierten Kapitalismus führen Versorgungskrisen zu enormen Verschiebungen in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Dies kann die Stabilität der Klassenverhältnisse auf unkontrollierbare Weise gefährden. Dazu kommen die Auswirkungen auf jene Wirtschaftssektoren, die von den Versorgungskrisen besonders betroffen sind. Deshalb wird auch von bürgerlicher Seite rasch und in grossem Umfang politisch interveniert. In dem Masse, wie wir in eine Ökonomie der Knappheit geraten, müssen diese Interventionen auch tiefgreifende Eingriffe in Märkte und Eigentumsordnungen vorsehen, wenn sie wirksam sein sollen. Die gegenwärtige Inflation markiert wahrscheinlich den Beginn einer wirtschaftspolitischen Wende, in der das Verhältnis von Staat und Ökonomie grundlegend neu ausgehandelt wird. Der Economist vergleicht diese Wende mit dem Wechsel vom Wirtschaftsliberalismus zum Keynesianismus nach dem Zweiten Weltkrieg oder dem Siegeszug des Neoliberalismus in den 1990er Jahren.
Eine solche Wende wird dadurch begünstigt, dass es in den USA und in Europa in den letzten zehn Jahren zu einem «weichen» Abrücken von einer marktradikalen Linie gekommen und die Basis für eine Renaissance der Industriepolitik gelegt worden ist, teilweise mitgeprägt durch die Debatten um die Klimaerhitzung. Ökologische Motive sind dabei allerdings weiterhin eher sekundär, grünes Labeling wie der Green Deal der EU oft diffus, inhaltsarm oder zweifelhaft. Im Vordergrund stehen vielmehr die sich verstärkenden Rivalitäten auf globaler Ebene, insbesondere zwischen China, Europa und den USA (The Economist 2022/2, Birgit Mahnkopf 2022).

Quellen
The Economist (2022). A great rebalancing between governments and central banks is under way. In: The Economist, 7. Oktober 2022, S.20-22

The Economist (2022/2). Briefing The global tech race: Mothering invention. In: The Economist, 15. Oktober 2022, S.20-22

Birgit Mahnkopf (2022). Der Kampf um Eurasien. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2022, S. 67 – 76

3. Die wirtschaftspolitische Bearbeitung von Inflation und Versorgungskrisen

Wirkungen der Inflation
Die Auswirkungen einer Inflation, die deutlich über 2% liegt, sind aus sozialer und emanzipatorischer Sicht nicht hinnehmbar. Lohnabhängige und Bezüger:innen von Sozialtransfer-Leistungen müssen Einbussen bei ihrer Kaufkraft hinnehmen, solange kein ausreichender und automatischer Teuerungsausgleich eingerichtet ist, was oft erst in längeren Kämpfen erreicht werden kann (wenn überhaupt). Die ökonomischen Beziehungen werden destabilisiert. Es entstehen neue Spielräume für Spekulation und für nationalistische Politiken (siehe Abschnitt Versorgungskrisen, Ökonomie der dauerhaften Knappheiten In Kapitel 2). Bei hoher Inflation beginnen Handelsfirmen damit, Warenbestände zurückzuhalten in der Annahme, dass künftig höhere Preise erzielt werden. Die allgemein anerkannte Zielmarke von 2% Inflation ist deshalb vernünftig: Sie schafft ein Polster gegenüber Deflationstendenzen (die noch verheerendere Wirkungen hätten als eine Inflation), ohne das Preisgefüge zu destabilisieren.
Ökonomischer Mainstream setzt auf Erhöhung der Leitzinsen
Der ökonomische Mainstream kennt allerdings nur ein Instrument der Inflationsbekämpfung: Die Erhöhung der Leitzinsen durch die Zentralbanken. Stellvertretend dazu Aymo Brunetti im Magazin: «die von den Zentralbanken verantwortete Geldpolitik [ist] das einzige wirtschaftspolitische Instrument, das einer voranschreitender Inflationsdynamik die Spitze brechen kann» (Brunetti, 2022, S. 20). Höhere Leitzinsen machen die Kapitalbeschaffung teurer, z.B. bei Unternehmenskrediten und bei Hypotheken. Dadurch wird die Wirtschaftskonjunktur gedämpft, was insbesondere im Gebäude-Neubau rasch greift.
Doch dieses Instrument wirkt nur dann zuverlässig, wenn die Inflation durch einen Nachfrageüberhang angetrieben wird, wenn also die Nachfrage nach Produktionsgütern stärker gestiegen ist als das Angebot. Und auch diesem Fall läuft eine Erhöhung des Leitzinses Gefahr, eine Rezension auszulösen. Wenn allerdings die Inflation durch eine angebotsseitige Verteuerung von Rohstoffen und Halbfabrikaten verursacht wird, dann erleidet die unternehmerische Nachfrage ohnehin schon einen Dämpfer. Eine weitere Verteuerung der Produktionsmittel führt in diesem Fall zu einem weiteren Wirtschaftsrückgang, ohne dass die Preise zwingend zurückgehen (Stagflation). Bei Knappheiten von essenziellen (d.h. unelastischen) Gütern können ja die Preise solange hochgehalten werden, wie die Nachfrage höher ist als das Angebot. Daran ändern auch hohe Leitzinsen nichts. Hingegen können höhere Leitzinsen selbst zu einem Inflationsmotor werden, indem z.B. höhere Hypothekarzinsen zu höheren Mieten führen.
Die Waffe der Leitzinserhöhung ist also gegenwärtig stumpf. Warum wird von wirtschaftsliberaler Seite dann so rigide daran festhalten? Zum einen ist dies wohl ideologischen Gründen geschuldet. Es geht darum, die Geschlossenheit des neoliberalen Theoriegebäudes zu waren. Zum andern stellt sich aber auch die Frage, ob sich Fraktionen des Kapitals hinter die Neo-Klassik scharen, weil sie die Lohnabhängigen und die Sozialwerke angreifen und damit mittelfristig bessere Ausbeutungsbedingungen durchsetzen wollen.

Quelle
Aymo Brunetti (2022). Die Rückkehr einer Todgeglaubten. In: Das Magazin, 03.09.2022

Staaten und Zentralbanken haben in der Vergangenheit auch ganz anders interveniert
Die Fixierung der Mainstream-Lehre auf Leitzinserhöhungen ist eingebettet in ein wirtschaftsliberales Dogma, das Benjamin Braun und Leah Downey als heilige Dreifaltigkeit bezeichnen. Dazu gehören nebst der Fixierung auf die Leitzinsen als Hauptmittel der Wirtschaftspolitik auch die Priorisierung der Inflationsbekämpfung über andere wirtschaftspolitische Ziele, insbesondere über die Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Drittes Element der Dreifaltigkeit ist die «Unabhängigkeit» der Zentralbanken von der institutionellen Politik, was auch eine direkte Geldvergabe der Zentralbanken an die jeweiligen Staaten ausschliessen soll. Dieses dreifaltige Dogma speist sich aus dem Schreckszenario, wonach Zentralbanken, die sich von der Politik gängeln lassen, über kurz oder lang die Inflation ankurbeln, was schliesslich – wie z.B.1922/1923 in Deutschland – in eine Hyperinflation münden müsse: Damals wurden aus einer Mark im Juli 1914 eine Billion Mark im November 1923.
Mit dieser Schreckens-Erzählung wird eine Vielzahl von teilweise erfolgreichen alternativen geldpolitischen Praxen aus dem geschichtlichen Gedächtnis getilgt. Ein Beispiel: Die Politik der US-Zentralbank FED in der Ära des New Deal ab 1933, anschliessend im 2.Weltkrieg und noch bis Anfang der fünfziger Jahre. Während all dieser Jahre gewährte die FED der US-Regierung Kredite zu günstigen Zinssätzen. Dies war begleitet durch eine staatliche ökonomische Planung und durch Preis- und Lohnkontrollen. Im Ergebnis konnte damit die verheerende Arbeitslosigkeit der Wirtschaftskrise von 1929 bis1933 weitgehend eliminiert, die Position der USA im Krieg gestützt und der beispiellose Aufstieg der USA zur dominierenden Weltmacht angeschoben werden. Das wäre dann alles andere als eine Schreckensgeschichte.

Quellen
Samir Sonti (2022). Red the Fed.The Federal Reserve’s response to inflation is bad for workers — but it doesn’t need to be. In: Jacobine Magazin No 464, Sommer 2022, S.8-15

Benjamin Braun, Leah Downey (2020). Against Amnesia: Re-Imagining Central Banking. (Gelesen am 22.09.2022)

Währungskriege
Taktgeber bei Leitzinserhöhungen ist in der Regel das US-amerikanische FED, weil der Dollar nach wie vor die mit Abstand global wichtigste Währung ist, in der ein Grossteil der transnationalen Käufe und Verkäufe getätigt wird. Eine Leitzinserhöhung in den USA wirkt in anderen Ländern tendenziell inflationstreibend. Denn eine Leitzinserhöhung sorgt dafür, dass die Zinsdifferenz zu andern Währungen steigt und deshalb der Dollar aufwertet wird: Wenn in den USA Zinssätze von z.B. 4% bezahlt werden, in Europa aber nur von z.B. 2%, dann stärkt dies die Attraktivität des Dollars gegenüber dem Euro. Zinsdifferenzen zwischen verschiedenen Währungen führen zu Finanzgeschäften (sogenannte Arbitragegeschäfte), die aus diesen Differenzen Gewinne schlagen. Weiter: Durch eine solche Stärkung des Dollars werden nun die in Dollar zu bezahlenden Importe in allen Ländern verteuert, und dies eben nicht nur für Waren aus den USA, sondern für alle international in Dollar gehandelten Waren.
Deshalb stehen andere Zentralbanken unter Zugzwang, sobald das FED die Leitzinsen erhöht. Weiter geht von solchen Zinserhöhungen durch die FED eine besondere Gefahr für Länder mit hohen Devisenschulden aus: Die Zinslast auf die Devisenschulden steigt, öffentliche und auch private Finanzen geraten in Schieflage, Kapital beginnt das Land zu verlassen, Spekulanten setzen die Währung unter zusätzlichen Druck. Im schlimmsten Fall muss das Land um Hilfe beim Währungsfonds bitten, und dieser erzwingt als Bedingung für eine Hilfe drakonische Sparprogramme.
Sind steigende Preise bei Knappheit unausweichlich?
In der Mainstream-Ökonomie wird unhinterfragt vorausgesetzt, dass die Preise bei Knappheit steigen – ja es wird behauptet, die steigenden Preise seien ein zentraler Motor für die Selbstoptimierung der Märkte, weil sie die Nachfrager dazu bringen, nach Alternativen zu suchen. Doch diese Alternativen müssen auch wirklich greifbar sein, und zwar in den nötigen Fristen. Ist dies nicht der Fall, werden die Preiserhöhungen für die Allgemeinheit und für wichtige Sektoren des Kapitals zu einer hohen, oftmals untragbar hohen Belastung.
Allerdings sind keineswegs alle Preise dieser Dynamik ausgesetzt. Ein Gegenbeispiel liefert der nur teilweise liberalisierte Schweizer Strommarkt. Staatliche Versorger liefern weiterhin zu Einkaufs- oder Gestehungskosten. Können sie dabei auf Stromwerke in öffentlicher Hand zurückgreifen, bleiben ihre Preise stabil (wie etwa in der Stadt Zürich). Deshalb verlangen nun Gewerbe und Industrie, dass sie aus dem «freien Markt» wieder zurück in ein solches Regime wechseln können. Sind Güter also der «Marktlogik» entzogen, dann können sie auch bei Knappheiten stabil sein. Dies ist ein wichtiger Grund, der dafür spricht, die Herstellung und den Vertrieb von essenziellen, unverzichtbaren und alternativlosen Gütern ausserhalb der Kapitallogik zu verorten (z.B. als öffentlicher Dienst).
Ist die expansive Geldpolitik der Grund für die Inflation?
Oft wird von marktliberaler Seite argumentiert, der «eigentliche» Grund für die Inflation sei die expansive Geldpolitik der Zentralbanken seit der Finanzkrise 2007/8. Dieses Argument greift auf die monetaristische Theorie zurück, die besagt, dass es zu Inflation kommen muss, wenn die Geldmenge rascher steigt als die Produktion. Doch genau das ist in den letzten 14 Jahren nicht eingetreten. Schon seit rund 40 Jahren werden enorme Geldmengen durch die Steigerung von Vermögenswerten (Immobilien, Wertpapiere) absorbiert, ohne dass dies auf die Preise für Konsum- und Investitionsgüter durchgeschlagen hätte. Entscheidend für ein Inflationsgeschehen ist also nicht die Geldmenge an sich, sondern die reale Nachfrage sowie die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Nur wenn diese Nachfrage höher zu liegen kommt als das Angebot, und nur wenn Vollbeschäftigung herrscht, das Angebot also nicht mehr durch eine blosse Ausweitung der Produktion gedeckt werden kann, entstehen inflationäre Tendenzen.
Eine neue Variante des monetaristischen Arguments der Geldschwemme ist die Theorie einer Hallraum-Inflation. Demnach hat der Energiepreisschock nur deshalb zu Inflation führen können, weil er in den Hallraum der expansiven Geldpolitik geschallt ist (Werding, nach Hickel 2022, S. 11). Diese Theorie ist allerdings unhaltbar. Denn für stark nachgefragte, systemrelevante Güter wie die Energie werden auch bei steigenden Preisen immer genügend Geldmittel verfügbar gemacht respektive geschöpft, um den Handel aufrechtzuerhalten – dafür sind keine vorgängig aufgeblähten Geldmittel erforderlich.

Quellen
Rudolf Hickel (2022). Preistreiberei und Inflation: Ursachenfundiert gegen die neuen Triebkräfte der sozialen Spaltung. (Gelesen am 22.09.2022)

Lohn-Preis- oder Preis-Lohn-Spirale?
Die Mainstream-Ökonomie geht davon aus, dass sich eine inflationäre Dynamik insbesondere dann verstetigt, wenn steigende Preise durch einen Teuerungsausgleich auf Löhne und Sozialbeiträge ausgeglichen werden. Die Unternehmen würden dann die höheren Lohnkosten auf die Preise abwälzen, und damit komme eine kaum mehr zu bremsende Lohn-Preis-Spirale in Gang.
Das Argument ist eine interessengeleitete Verdrehung der Dynamik. Denn es sind nur in Ausnahmefällen die Löhne, die diese Spirale in Gang setzen, sondern es sind in aller Regel – wie gegenwärtig auch – die Preise. Wenn schon müsste man also von einer Preis-Lohnspirale sprechen.
Der Verzicht auf einen Teuerungsausgleich könnte den Preisdruck zwar mildern. Er würde allerdings bedeuten, dass die Betroffenen einen Kaufkraftverlust hinnehmen müssen, während die Unternehmen dank höherer Preise Zusatzgewinne erzielen. Es käme also zu einer Verstärkung der Umverteilung von unten nach oben. Gleichzeitig sinkte die lohnbasierte Nachfrage, was die Wirtschaft bremst.
Steuerpolitik und Inflationsbekämpfung
Will man das Angebot dämpfen, dann lässt sich dies nicht nur mit Leitzinserhöhungen, sondern auch mit Steuererhöhungen auf Unternehmensgewinnen und Kapitalerträgen erreichen – allerdings mit dem Unterschied, dass dabei gleichzeitig die öffentlichen Finanzen gestärkt werden. Damit kann der Staat dann die Nachfrage stützen, z.B. durch den Ausbau von personenbezogenen öffentlichen Dienste (Pflege und Betreuung, Bildung). Steuern sind also ein mitunter weit zielgenaueres Instrument, um Inflationstendenzen zu bekämpfen.
In Diskussion sind gegenwärtig vor allem Steuern auf die Sondergewinne aufgrund der Versorgungsengpässe (Zufalls- oder Windfall-Gewinne). Solche Steuern nehmen überdies die wichtigste Triebfeder der Preiserhöhungen ins Visier. Werden die Erträge dann dafür eingesetzt, die hohen Preise zu senken, dann wird die Inflation gedämpft, und gleichzeitig sinken die Anreize zur Preistreiberei.
Doch müssen auch andere Steuerformen einbezogen werden. So muss die von der OECD und den G20-Staaten vereinbarte Mindeststeuer für bestimmte Unternehmen jetzt rasch umgesetzt werden, ohne dass ihre Effekte durch neue Steuerschlupflöcher zunichte gemacht werden.
Preisdeckelung und Preiskontrollen
Eine naheliegende Lösung, um Preiserhöhungen zu bekämpfen, ist die staatliche Festlegung von Preisen oder von Preisobergrenzen. Staatlich festgesetzte Preise können ein wirksames Instrument sein, um allen ökonomischen Akteur:innen klare Signale und Leitplanken zu geben. Allerdings stehen und fallen sie mit dem Willen und der Fähigkeit, regulierte Preise auch effektiv durchzusetzen. Generell ist die Durchsetzung umso leichter, je weniger Anbieter im Spiel sind, und je geringer die Möglichkeiten dieser Anbieter sind, die Preiskontrolle zu umgehen (z.B. in dem sie nur noch in Länder liefern, die keine oder eine lasche Preisdeckelung kennen). Zudem braucht es starke Durchsetzungsbehörden mit den erforderlichen Kompetenzen und der nötigen Widerstandskraft gegen Druckversuche von Unternehmen.
In Krisensituationen und in Kriegen sind Preiskontrollen immer wieder wirkungsvoll eingesetzt worden. Ein herausragendes Beispiel sind die USA, die bereits im New Deal unter Roosevelt ab 1933 mit Preiskontrollen begonnen haben. Zwar sind kleinere Volkswirtschaften im Nachteil, weil monopolistische Anbieter beschliessen können, kleinere Märkte zu boykottieren, ohne sich dabei allzu sehr ins eigene Fleisch zu schneiden. Dennoch kennt auch die verhältnismässig kleine Schweiz Bereiche, in denen Preiskontrollen schon seit langem durchgesetzt werden, z.B. im Gesundheitswesen (inkl. Medikamente).
Die Ökonomin Isabelle Weber betont in einem Interview (Scholle, 2022) zu Recht, dass Preiskontrollen in jedem Teilbereich und in jeder konkreten Situation wieder anders aussehen müssen. Für den Gas-, Öl und Strommarkt macht sie folgende Vorschläge: Erstens die Grosshandelspreise stabilisieren, indem sich die Länder (die Käufer) absprechen und Höchstpreise festlegen. Zweitens Gas, Strom und Öl einsparen, v.a. im Luxussegment (z.B. geheizte Swimming Pools). Und Drittens abgestufte Preisdeckel für Endverbraucher:innen einführen: Ein Grundkontingent mit niedrigen Preisen, darüber steigende Preise, um Einsparanreize zu setzen (Scholle, 2022).

Quellen
Uwe Fuhrmann (2022). Die Idee von Preiskontrollen provoziert den Neoliberalismus – zurecht. Jacobin-Magazin (deutsche Ausgabe), 18.02.2022. (Gelesen am 23.09.2022)

Todd N. Tucker, 2021. PRICE CONTROLS: HOW THE US HAS USED THEM AND HOW THEY CAN HELP SHAPE INDUSTRIES, Roosevelt Institute. (Gelesen am 29.08.22)

Isabella Weber (2022). Could strategic price controls help fight inflation? (Gelesen am 29.08.22)

Lukas Scholle (2022). Die permanente Schocktherapie. Interview mit Isbella Weber und Fabio de Masi.In Jacobin-Magazin (deutsche Ausgabe) vom Herbst 2022, S.46-51

Öffentliche Kontrolle, Verstaatlichungen
Solange die Unternehmen nach möglichst hohen Profiten streben und dabei der Konkurrenz ausgesetzt sind, kommt es zwangsläufig zu Machtkämpfen. Oft drohen dann die staatlichen Massnahmen am Widerstand der Unternehmen aufzulaufen. Dem Staat bleibt oft nur übrig, sich anzupassen oder gar zu kapitulieren – oder aber einen Schritt weiterzugehen und die Unternehmen unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das heisst: Geschäftszahlen und Geschäftstätigkeit werden transparent offengelegt; Vertreter:innen der öffentlichen Hand und allenfalls auch der Belegschaften nehmen Einsitz in die Leitungsgremien; Geschäftsentscheide werden mit den Kontrollbehörden abgestimmt. Eine solche Kontrolle ist nicht nur eine Frage der formellen Eigentumsverhältnisse, sondern ebenso der institutionellen Ausgestaltung, der Zielsetzungen und der konkreten Geschäftsführung. Dies zeigt sich aktuell am Beispiel des Schweizer Stromversorgers AXPO, der zwar formell den Kantonen gehört, dessen Geschäftstätigkeit in den letzten Jahren aber weitgehend auf finanzgetriebene Geschäfte auf den internationalen Energiemärkten ausgerichtet worden ist. Die Kantonsregierungen müssen eingestehen, dass sie keinen wirklichen Einblick in die Geschäftstätigkeit der AXPO mehr haben. Selbst der Zuger SVP-Finanzdirektor Heinz Tännler (dessen Kanton zu den Eigentümern der AXPO gehört) räumt ein, dass die Eigner praktisch keine Kontrolle über das Geschäftsgebaren des Konzerns mehr hatten. Er kritisiert, die AXPO sei «zunehmend zu einem Finanzinstitut» geworden. Nun müsse aber die Versorgungssicherheit ins Zentrum gerückt werden. Tännler sieht «die Axpo dem Service public verpflichtet, solange sie den Kantonen gehört».

Quelle
David Vonplon, Christoph Eisenring (2022).«Man sollte eine Aufspaltung des Stromkonzerns Axpo erwägen». Interview mit Heinz Tännler. In: NZZ vom 20.09.2022, S.8

Transformation
Die Versorgung mit essenziellen, unverzichtbaren Gütern muss insgesamt aus der Kapitalverwertung herausgelöst und in öffentliche Dienste überführt werden – nicht nur wegen der der heutigen und der künftig zu erwartenden Knappheiten, sondern ebenso wegen ökologischen Erfordernissen (Ringger, Wermuth, 2020). Deshalb stellt sich nebst einer Politik verstärkter Regulierungen auch die Frage nach dem Eigentum. Die gegenwärtigen, aus aktuellen Zwangslagen entstehenden Eingriffe müssen deshalb in eine Logik der Transformation überführt werden. So können Krisen nachhaltig bearbeitet, Klima- und Umweltbelange sozialverträglich angegangen und demokratische Entscheidungsprozesse weiterentwickelt werden. Dabei müssen Instrumente der Planung und der Steuerung etabliert werden, um die folgenden, untereinander verknüpften Ziele anzugehen:
  • Sicherung der Versorgung mit (lebenswichtigen) Gütern des täglichen Bedarfs für alle
  • Stärkung von Klima- und Umweltschutz; konsequente Bekämpfung der heutigen enormen Verschwendung von Ressourcen
  • globale Klimagerechtigkeit. Alle Regionen der Erde werden in gleichen Ansprüchen berücksichtigt.
  • Sicherung und Stärkung von Care-Diensten
  • Sicherung und Stärkung einer Kreislaufwirtschaft

Quelle
Beat Ringger, Cédric Wermuth (2020). Die Service-public-Revolution, Zürich

4. Anmerkungen zur Schweiz

Für die Schweiz gelten die obigen Ausführungen natürlich auch. An dieser Stelle deshalb nur einige Anmerkungen.
Rohstoffhandelsplatz, Windfall-Steuern und internationale Solidarität
Die Schweiz ist einer der drei wichtigsten Standorte des internationalen Handels mit Rohstoffen und fossilen Energieträgern. Damit gehören viele Firmen, die hier ihren Hauptsitz haben, ihr Geschäft aus der Schweiz betreiben oder anderweitig Erträge in die Schweiz transferieren, gehören zu den wichtigsten Gewinnern der Versorgungskrisen. Ihre Extragewinne müssen steuerlich abgeschöpft werden. Dabei muss eruiert werden, welcher Anteil der Gewinne im Ausland erzielt worden ist; die Steuererträge auf diesen Anteilen müssen an die Weltgemeinschaft übergeben werden, z.B. an die UNO, die sie z.B. zur Bekämpfung des Hungers, von Energiekrisen in armen Ländern und zur Stärkung der Klima-Resilienz ärmerer Länder verwenden soll. Balthasar Glättli hat diese Forderungen schon im Nationalrat eingebracht.

Quelle
Balthasar Glättli (12.09.2022). Parlamentarische Initiative 22.457: Kriegsgewinne mit einer Windfall-Profit-Tax besteuern.

Leistungen der sozialen Sicherheit der Teuerung anpassen
Die Kaufkraft von breiten Bevölkerungsteilen ist auch in der Schweiz unter Druck, wobei es auch zu beträchtlichen regionalen Unterschieden kommt (siehe Kapitel 1). Besonders ins Gewicht fallen auch die angekündigten Prämienerhöhungen bei den Krankenkassen von durchschnittlich 6.6%.
Als Sofortmassnahme müssen sämtliche Sozialbeiträge der Teuerung angepasst werden, und die Prämienverbilligungen bei den Krankenkassen müssen erhöht werden. Die Räte haben zwar einem Teuerungsausgleich auf AHV, IV und Ergänzungsleistungen EL zugestimmt, nicht aber einer Entlastung bei den Krankenkassenprämien. Zudem wird laut SKOS-Richtlinien der Grundbedarf in der Sozialhilfe erst mit einem Jahr Verzögerung dem Ausgleich bei AHV/IV/EL angepasst. Für diese Verzögerung gibt es keine Rechtfertigung, zumal es sich bei den Sozialhilfe Empfangenden um die einkommensschwächste Bevölkerungsgruppe handelt.
Lohnerhöhungen
Die Entwicklung der Löhne ist in der Schweiz seit 2016 deutlich – nämlich um 7% – unter der Entwicklung der Produktivität geblieben (Baumann, 2022). Deshalb sind Lohnerhöhungen gerechtfertigt, die über der Inflationsrate liegen.
Die tieferen Einkommensgruppen sind wie erwähnt stärker von der Inflation betroffen als die besser Verdienenden. Dem kann mit einheitlichen Lohnerhöhungen in Franken für alle Rechnung getragen werden.

Quelle
Hans Baumann (Sept 2022), Teuerung trifft Haushalte mit tiefen Einkommen stärker. In: Work, 16.09.2022, S.13

Zur Person: Beat Ringger ist freischaffender Autor und Publizist. Er war von 2004 bis 2020 geschäftsleitender Sekretär des Denknetz. Neuere Veröffentlichungen: «Pharma fürs Volk» (2022), «Für alle und für alle Fälle» (2022, zusammen mit Ruth Gurny), «Die Service public Revolution» (2020, zusammen mit Cédric Wermuth).
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