Beat Ringger

Kommentar

Heisse Jahre
09.11.2023 | Klimaerhitzung, El Niño und massiv erhöhte Sonnenaktivitäten: In den kommenden vier Jahren wird es aller Voraussicht nach so heiss wie noch nie. Gesteigerte Extremwetter und Dürreperioden mit Hunderttausenden von Todesfällen, Einbrüche in Fischfang und Landwirtschaft – das kommt wohl rascher als erwartet. Ein erheblicher Mangel an Lebensmitteln und Rohstoffen würde zu enormen Preissteigerungen führen. Der Kapitalismus geriete ins Taumeln. Gegensteuern geht dann nur noch mit massiven Eingriffen in die «Freiheiten» des Kapitals. Damit öffnen sich neue Fenster für eine ökosoziale Wende. Besser, wir setzen uns damit jetzt auseinander.
Es ist kaum zu glauben, und dennoch: Trotz laufend neuer Hitzerekorde ist die Klimaerhitzung in den Jahren 2017 bis 2021 gedämpft verlaufen. Denn die Temperaturen im tropischen Pazifik waren geringer als üblich: Es herrschte La Niña, wie dieses Wetterphänomen genannt wird. Doch gerade kippen die Strömungsverläufe und es kommen die Jahre des El Niño. Dadurch werden die Meere und die Atmosphäre heisser und feuchter. Auch die Sonnenaktivitäten waren während der letzten Jahre tief, und auch das ändert sich: Dieses Jahr hat eine Welle hoher Sonnenaktivitäten eingesetzt, was ebenfalls zur zusätzlichen Erderwärmung beiträgt. Die Welt-Meteorologie-Organisation WMO macht denn auch für die unmittelbar bevorstehenden Jahre eine höchst bedenkliche Prognose: Die Wahrscheinlichkeit betrage 48 Prozent, dass die Schwelle einer 1.5-Grad-Erwärmung der Atmosphäre schon in den nächsten drei Jahren ein erstes Mal übertroffen werden wird. 1.5 Grad: Das ist der Wert, den wir laut Weltklimarat wenn irgend möglich nicht überschreiten sollten, weil sonst die Wahrscheinlichkeit stark steigt, dass selbstverstärkende Klimaprozesse in Gang kommen wie etwa das Abschmelzen des Grönland-Eises oder die massenhafte Freisetzung von Methan durch das Auftauen des Permafrosts im arktischen Norden.
Während ich diese Zeilen schreibe, ist ein Viertel der libyschen Stadt Darna infolge von Starkregen und Dammbrüchen buchstäblich ins Meer geschwemmt worden. Tausende von Menschen sind gestorben, über 10.000 werden vermisst. Was uns in den unmittelbar kommenden Jahren bevorsteht, könnte den Rahmen solcher Katastrophen sprengen. Eine Tageshöchsttemperatur von 37 Grad ist 2023 auch in der Schweiz nichts Aussergewöhnliches mehr.
Ungemütlich wird es, wenn sich Hitzekuppeln bilden: Hochdruckzonen, die mehrere Wochen stationär bleiben. Steigt dann die Temperatur nochmals an, so wird es gefährlich. Bedrohlich werden hohe Temperaturen noch rascher, wenn sie mit hoher Luftfeuchtigkeit einhergehen. Man spricht dabei von Feuchtkugel- oder Kühlgrenztemperatur. 37 Gad und eine Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent sind für Menschen eine tödliche Gefahr. In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz werden im Sommer durchschnittlich rund 70 Prozent erreicht (Länderdateninfo, 2023). 80 Prozent Luftfeuchtigkeit ist in Indien im Monat August normal.

Eine erschreckende Erkenntnis

Es geht mir hier nicht darum, schwarzzumalen. Doch es hilft nicht, die Augen vor düsteren Zukunftsaussichten zu verschliessen. Wir befinden uns bereits in den ersten Jahren einer neuen Heisszeit. Sicher: Ihr genauer Verlauf ist ungewiss. Die nächsten drei Jahre können nochmals glimpflich verlaufen. Oder eben auch nicht.
Was die Sache allerdings dramatisch macht, ist, dass die herrschende Mainstream-Klimapolitik der immensen Aufgabe in keiner Weise gewachsen ist (siehe Abbildung 1). Für die Reduktion der Treibhausgasemissionen wird viel zu wenig getan, das Wenige kommt zu spät, und häufig ist es auch noch das Falsche. Laut WMO müssten die Anstrengungen zur Reduktion der Klimaemissionen sieben Mal (!) höher sein, um die Erwärmung der Atmosphäre noch bei 1.5 Grad stabilisieren zu können. Ebenso deutlich fällt der Emissions Gap Report der UNO von 2022 aus: «Policies currently in place point to a 2.8°C temperature rise by the end of the century.» Der Report trägt denn auch den warnenden Titel «The closing Window: Climate crisis calls for rapid transformation».
Abbildung 1: Der Verlauf der Klimagasemissionen (CO2, Methan)
Der Trend bei den CO2-Emissionen ist ungebrochen, derjenige von Methan scheint sich gar zu beschleunigen.
Die Grafiken zeigen oben den jährlichen Gesamtausstoss von CO2 (links) und Methan (CH4, rechts).
Die unteren Grafiken zeigen die jährlichen prozentualen Veränderungen. Quelle: World Meteorological Organisation et al. 2022
All dies lässt leider nur einen Schluss zu: Das Ziel des Pariser Klimaabkommens, die Erwärmung der Atmosphäre möglichst unter 1.5 Grad zu halten, wird nicht mehr eingehalten werden können. Unter den Bedingungen der heutigen Klimapolitik gewinnt die Klimaerhitzung gegenwärtig sogar noch an Fahrt.

Ökonomische, soziale und politische Schockwellen

Das Klima ist das eine, der Kapitalismus das andere. Das kapitalistische System wird in einer Heisszeit-Zukunft ökonomische, soziale und politische Schockwellen von immenser Sprengkraft erzeugen, und zwar schon lange bevor schlimmstmögliche Szenarien eintreffen.
Die jahrzehntelange Ära neoliberaler Wirtschaftspolitik war bis 2020 geprägt von einem Dauer-Überangebot an Waren, Dienstleistungen, Energie, Rohstoffen, Lebensmitteln. Überangebot meint hier: Jede kaufkräftige Nachfrage konnte befriedigt werden, Engpässe auf den Märkten blieben episodisch, die Preise insgesamt stabil. Dies ändert sich gerade grundlegend. Wir haben es ein erstes Mal im Nachgang zur Corona-Krise und zum Ukraine-Krieg erlebt.
Auch wenn es in reichen Ländern wie der Schweiz erst ansatzweise spürbar ist: Wir treten in eine Ära der Engpässe und des Mangels ein, gerade auch bei existenziell notwendigen Gütern, auf die wir nicht verzichten können. Beispiel Ernährung: Waren Lebensmittel – zumindest im globalen Norden – jahrzehntelang im Überfluss vorhanden (Stichwort Food Waste), so beginnt dies nun zu kippen. Die generelle Erhitzung der Atmosphäre und die Zunahme von Wetterextremen bedrängen die Landwirtschaft und den Fischfang und lassen Versorgungsengpässe in der Lebensmittelversorgung zur Normalität werden. Hier wirkt übrigens nicht nur die Klimaerhitzung, ebenso tun es weitere Umweltkatastrophen: die Versauerung der Weltmeere, der Zerfall der Fruchtbarkeit der Böden (u.a. wegen der Überlastung mit Phosphor), der Mangel an (nicht verschmutztem) Süsswasser, der Einbruch der Biodiversität.
Kommt es dann zu Wirtschaftskrisen, zu einer Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Wirtschaftsstandorten und in der Folge zu Wirtschaftssanktionen aller Art, so werden Mangellagen und Lieferausfälle nochmals zunehmen und auf viele weitere Produkte übergreifen. Die Ökonomie wird insgesamt auf den Kopf gestellt. Was in der neoliberalen Ära aus bürgerlicher Sicht leidlich funktioniert hat, nämlich die Preisbildung auf »freien Märken«, gerät vollkommen aus dem Takt. Inflation, Währungskrisen und Währungskriege werden dann zu Dauerphänomenen.

Transformation oder Untergang

Die sich abzeichnenden Verwerfungen werden allen vor Augen führen, dass wir nicht mehr um einschneidende Veränderungen herumkommen. Wenn zusätzlich zu den direkten Folgen der Klimaerhitzung die Bevölkerungen mit dem Zerfall ihrer Kaufkraft konfrontiert werden, sich Verteilungskämpfe verschärfen, ganze Wirtschaftssektoren in ihrer Existenz bedroht werden, weil sie keinen Zugang mehr haben zu Rohstoffen, Halbfabrikaten oder bezahlbarer Energie, dann werden die Regierungen aller Couleur entschlossen intervenieren müssen, um dem gesellschaftlichen Zerfall entgegenzutreten. Dabei wird die Allmacht des Kapitals auf den Prüfstand kommen müssen – und damit werden sich auch neue Fenster für eine ökosoziale Transformation öffnen. Das Ziel muss dann lauten, die Bewältigung dieser Schocks mit der nötigen ökosozialen Transformation der Wirtschaftsweise und der Lebensgestaltung zu verbinden und dauerhaft zu etablieren.
Genau das jedenfalls sollte der Angelpunkt linker und grüner Politik sein. Linksgrün muss konsequent für eine ökosoziale Transformation der Lebensgestaltung und der Produktionsverfahren eintreten. Es reicht nicht mehr aus, nur die Kaufkraft zu verteidigen, ohne danach zu fragen, was und wie produziert und konsumiert wird. Linksgrün muss entschlossen dafür kämpfen, dass der Reichtum der Grosskonzerne der ultra-high net worth individuals für die Kosten der Krisenbewältigung herangezogen wird. es Weiteren muss die Linke dafür eintreten, «die Wege zu Ende zu gehen». Zum Beispiel bei Preisregulierungen: Sie gelingen nur dann, wenn die massgebenden Unternehmen unter öffentliche Kontrolle gestellt und Umgehungsversuche (z.B. Horten von Gütern) konsequent unterbunden werden. Beispiel Rationierungen: Sie sind eine Möglichkeit, knappe Güter möglichst gerecht zu verteilen. Rationiert werden müssen aber auch Produkte und Dienstleistungen, die erheblich zur Klimaerhitzung beitragen, wie etwa Flüge. Insgesamt muss der Dienst an der Öffentlichkeit, die Gemeinnützigkeit, der Service public, zur massgebenden ökonomischen Leitspur gemacht und damit das Primat des Profits überwunden werden (wie das gehen kann, beschreiben Cédric Wermuth und ich im Buch «Die Service public Revolution»).
Schliesslich muss es gelingen, diesen Wandel auch auf internationaler Ebene durchzusetzen. Vielleicht zuerst in Allianzen von willigen Ländern und global agierenden NGOs, dann aber auch auf Basis der UNO und ihrer Institutionen, zum Bespiel der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Und natürlich braucht es neue globale Abkommen, zum Beispiel für den raschen Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energien und zur Finanzierung der Klimagerechtigkeit, wobei die Umsetzung dieser Abkommen dann auch wirklich durchgesetzt werden muss.
Das mag vielen als Träumerei erscheinen. Werden die Staaten in verschärften Krisen nicht gerade das Gegenteil tun, die «imperiale Lebensweise» vehement verteidigen und die «Interessen der eigenen Nation» über alles andere stellen? Wenn Regierungen beispielsweise Rationierungen in die Wege leiten, wird das dann nicht von rechtsaussen als Ende aller Freiheiten gedeutet und heftig bekämpft werden? Das sind zweifellos grosse Gefahren. Doch gibt es für globale Probleme keine nationalbornierten «Lösungen». Nationalistische Politiken führen zu Retourkutschen und verschärfen die Problemlagen. Deshalb steigt auch der Druck, die Probleme mithilfe internationaler Kooperationen wirksam anzupacken.
Wenn es dann noch gelingt, die Macht der Strasse um konkrete Forderungen zu bündeln und internationale Bewegungen zu initiieren, dann wird vieles möglich, was heute aussichtslos erscheint. Nicht nur, aber gerade auch deshalb müssen demokratische Rechte mit Vehemenz verteidigt werden. Denn die Alternative dazu lautet Niedergang und unsägliches Leid. Das wird immer deutlicher – und das erkennen auch immer mehr Leute.
Auch wenn die 1.5 Grad Marke nicht mehr einzuhalten ist: Die Unterschiede in den Auswirkungen sind riesig, je nachdem, ob sich die Atmosphäre auf Dauer um zwei, drei oder gar noch mehr Grad erwärmt. Es macht offensichtlich einen gewaltigen Unterschied, ob etwa der Meeresspiegel um 20 Zentimeter, 2 Meter oder 20 Meter ansteigt. Was die mittlere Frist betrifft, so hängt immer noch sehr viel – ja letztlich alles – davon ab, ob die Menschheit den klimapolitischen Turnaround schafft.
Autor | Beat Ringger ist ist Publizist und Autor; er ist im Denknetz aktiv.
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