Josef Lang

Diskussion

Die doppelte Aufrüstung
25.04.2022   |   Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat mit der Schweiz wirtschaftlich sehr viel zu tun. Der Rohstoffhandel, die Oligarchengelder und Dual-Use-Exporte halfen Putin, die Kriegskasse zu füllen und die Kriegsmaschine auszurüsten. Menschlich hat der Krieg in der Bevölkerung eine erfreuliche Solidarität mit den ukrainischen Flüchtlingen ausgelöst. Militärisch aber hat die russische Invasion mit der Schweizer Armee wenig zu tun. Mauro Mantovani, Dozent an der ETH-Militärakademie, drückte es so aus: «Bildlich gesprochen halte ich das Risiko, dass die Russen jemals am Bodensee oder am Rhein aufmarschieren werden, für unwahrscheinlicher denn je.» (NZZ am Sonntag, 6.3.2022)
Die Debatte um Militärausgaben wie auch die um eine Nato-Annäherung dienen nicht zuletzt dazu, von der Komplizenschaft bei der Aufrüstung Putins sowie vom Sanktionen-Versagen abzulenken. Bevor Putin die Ukraine überfiel, hatte er zwei äusserst brutale Kriege geführt: den in Tschetschenien (1999–2009) und den über Syrien (2017–2021). Niemand kann sagen, er oder sie hätten es nicht gewusst.
Die finanzielle Alimentierung und die technische Unterstützung von Putins Aufrüstung sollen an zwei Beispielen aufgezeigt werden: Zuger Rohstoffhandelsplatz und Kampfjet-Triebwerke bzw. Gerhard Pfister (Mitte-Präsident) und Karin Keller-Sutter (FDP-Bundesrätin).
Zug ist aus zwei Gründen ein interessantes Beispiel. Es umfasst die ganze Bandbreite der Rohstoffhändler:innen und Oligarch:innen: Der Riese Glencore mit traditionell starken Beziehungen zu Russland hat beispielsweise im Frühling 2014 nach der Annexion der Krim die russische Staatskasse vor dem Bankrott gerettet. Der CEO Iwan Glasenberg erhielt deswegen von Wladimir Putin den «Freundschaftspreis der Russischen Föderation». Dann gibt es Hunderte von Firmen und Banken mit russischer Beteiligung. Am bekanntesten sind die staatlich-russische Gazprom mit Tochtergesellschaften wie NordStream und die Sber Trading, die direkt für die Staatskasse wirtschaften. Dazu kommen Oligarch:innen, die in Zug ihren Wohnsitz haben (wie Viktor Vekselberg) oder Konzerne besitzen (wie Wladimir Potanin, der am berühmten Treffen mit Putin am 24. Februar teilgenommen hat). Alle profitier(t)en sie von der Tiefststeuerpolitik und die meisten von einer Willfährigkeit, die offiziell «Willkommenskultur» genannt wird.

Das «Absaufen» der «Prestige» und die «bad guys»

Der zweite Grund, der Zug als Beispiel interessant macht, sind die von den Grünalternativen organisierten Protestaktionen und provozierten Debatten. Sie zwangen die Bürgerlichen, Farbe zu bekennen. Einen der heftigsten Konflikte gab es nach einer Ölkatastrophe vor der galizischen Küste wegen eines Schrotttankers im November 2002. Die «Prestige» war von der dem Moskauer Oligarchen Michail Fridman gehörenden Crown Resources mit Sitz in Zug gechartert worden. Die NZZ stellte unter dem Titel «Kein Geld für Ölpestopfer» die bürgerliche Ablehnung eines alternativen Vorstosses in diesen Worten vor: «Gerhard Pfister, Präsident der CVP des Kantons Zug, sah darin eine Gefährdung des Rohstoff-Handelsplatzes Zug. Zug ist einer der wichtigsten Standorte für den internationalen Rohstoffhandel.» (20.12.2002) Ein paar Jahre später kam Pfister, inzwischen Nationalrat, in einem Vortrag vor dem Lions Club auf diese und andere Schiffskatastrophen zurück: «Wir werden immer Prügel erhalten, wenn in der Welt ein Öltanker absäuft und dessen Firma Zuger Sitz hat. Wir werden immer die bad guys sein.» (23.10.2013)
Die wichtigste Auseinandersetzung fand 2006 statt, nachdem der Gazprom-Komplex im Dezember 2005 in Zug gelandet war. Dass dahinter eine Kreml-Strategie steckte, zeigt der Umstand, dass der Konzernboss Stasi-Offizier gewesen war und die Zuger Schlüsselperson, ein ehemaliger CVP-Politiker, im Dienste der Stasi-Beschaffung gestanden hatte. Die beiden Stasi-Seilschaften, die ostdeutsche und die zugerische, wurden durch Putin verknotet. Dass es Moskau auf Zug abgesehen hatte, war bereits am 12. Oktober 2002 sichtbar geworden. Damals war Putin im Zuger Casino von einer dubiosen Nuklearfirma ein Friedenspreis verliehen worden. Das Pech des Kriegsherrn war, dass der Regierung mit Hanspeter Uster ein Landammann vorstand, der sich zuvor an Tschetschenien-Mahnwachen beteiligt hatte. Man stelle sich vor, der Regierungsrat hätte damals die Putin-Gala nicht boykottiert!

Alternative distanzieren sich von Putin-Gesellschaften und Zuger Erfolgsmodell

Nachdem wir 2006 eine Kampagne unter dem Titel «Alternative distanzieren sich von Putin-Gesellschaften» gestartet hatten, distanzierte sich auch Gerhard Pfister – aber nicht von den Putin-Firmen und -Banken. In einem Referat über «Zug und der Steuerwettbewerb» zitierte der damalige Präsident der kantonalen CVP mit sarkastischem Unterton unsere Warnungen vor der «Ostmafia» (24.3.2006). Pfisters einzige Perspektive ist das «Zuger Erfolgsmodell», wie der Titel der Rede mit dem «abgesoffenen» Öltanker gelautet hat.
Wenn die 2016 lancierte abendländische «Wertedebatte» angesichts des Syrien-Kriegs nicht hellhöriger machte für die ethischen Risiken der «Putin-Gesellschaften», lag das auch daran, dass die 20‘000 Todesopfer der russischen Luftwaffe offiziell «islamistische Terroristen» waren. Allerdings war die Gleichgültigkeit gegenüber den im Namen und im Rahmen des «War on Terror» verübten Kriegsverbrechen keine CVP- und Mitte-Besonderheit.
Als nach Putins Invasion der Zuger Rohstoffhandelsplatz massiver denn je als «bad guy» dastand, schützte sich Pfister vor dem zugerischen highprofile mit eigenem lowprofile. Dass ein politologischer Mitte-Fan diese geschickte Zurückhaltung Ende März zur einzigen «Werte-Dimension» eines Parteipräsidenten adelte, ist reichlich grotesk. Inzwischen tut Pfister, als hätte er mit den Zuger Geldern, die in Putins Kriegskasse flossen und weiterhin fliessen, nichts zu tun. Nicht nur die Firmen mit russischer Beteiligung befinden sich in der Putin-Falle. Das «Zuger Modell» als solches steckt in dieser. Übrigens das Genfer auch. Eigentlich das schweizerische überhaupt.

Maschinen für Triebwerke für Putins Kampfjets

Über die Dual-Use-Frage und die verantwortungslose Rolle, die die damalige Ständerätin Karin Keller-Sutter spielte, hat die Republik am 5. März 2022 in einem umfassenden Dossier berichtet.1 Ich kann mich deshalb kurzfassen: 2015 verbot das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco im Zuge der Krim-Sanktionen den Export von Werkzeugmaschinen, weil diese in Russland zu militärischen Zwecken verwendet würden. Gegen diesen Beschluss wurde ein gigantisches – vor allem freisinniges – Lobbying aufgezogen. Neben den betroffenen Firmen und ihren Verbänden spielten die St. Galler Standesvertreterin Keller-Sutter und der Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements Johann Schneider-Ammann die Schlüsselrolle. Keller-Sutter reichte im Dezember 2015 einen Vorstoss ein, in dem ein Satz steht, dessen Standort-Fundamentalismus wir auch von Pfister im Zusammenhang mit der «Prestige» kennen: «Dies trifft die Schweiz als Industriestandort substanziell.» Im Februar 2016 gab der Gesamtbundesrat der Lobby nach. Einen Monat später reichte Schneider-Ammann folgende Begründung nach: Bei der Beurteilung von Gesuchen für die Ausfuhr nach Russland dürfe es «keine ideologischen Prüfkriterien» geben.
In der Folge bewilligte das von der Landesregierung desavouierte Seco praktisch alle Dual-Use-Güter nach Russland. Zwischen Anfang 2016 und Ende 2021 waren das deren 1300. Darunter waren 120 Spezialmaschinen für die Herstellung von Triebwerken – ziviler wie militärischer Flugzeuge. Was Putins Prioritäten spätestens seit dem Syrien-Krieg und den Ukraine-Kriegsplänen waren, wussten das Seco wie der Freisinn. Wenn Keller-Sutter in Schweizer Medien sich in ganzseitigen Interviews über die katastrophalen Folgen von Putins Kriegsrüstung äussern kann und sie nie mit ihrer eigenen Rolle bei der Aufrüstung konfrontiert wird, ist das entweder die Folge eines informativen oder eines normativen Defizits.

Doppelt schamlos

Die Folge der russischen Aufrüstung, den Ukraine-Krieg, auszunützen, um die eigene Aufrüstung voranzutreiben, ist einfach schamlos. Aber es zu tun, nachdem breite Kreise des Bürgertums, nicht nur in Zug und Genf, auch im National-, Stände- und Bundesrat Putin bei der Aufrüstung – meist indirekt – geholfen haben, ist das doppelt schamlos. Dazu kommen noch die schleppende Umsetzung der beschlossenen Sanktionen und die Weigerung, über den russischen Rohstoffhandel ein Embargo zu verhängen.
Sachlich-militärisch macht die Aufrüstung ohnehin keinen Sinn. Abgesehen davon, dass Putins grossrussische Agenda die Länder gefährdet, die er in seinem Extremchauvinismus zu Russland zählt, zeigt seine Armee riesige Schwächen. Das macht sie nicht ungefährlicher für die Menschen in der Ukraine. Im Gegenteil verhält sie sich in der Defensive besonders barbarisch. Der eingangs zitierte Mantovani weist auf einen zusätzlichen Faktor hin: «Russland dürfte durch die westlichen Sanktionen auf lange Sicht geschwächt worden sein.»
Wenn Mantovani trotz dieser Einschätzung für die F35 ist, hat das mehr mit der Nato als mit der Schweizer Armee zu tun. Gegenüber der NZZ am Sonntag sagte er: «Auch stellt sich verstärkt die Frage einer Integration der Schweizer Luftverteidigung in das Luftverteidigungssystem der Nato und folglich in deren Befehls- und Kommunikationsstruktur.» Dass das mit Neutralität nichts mehr zu tun hat, weiss Mantovani sehr wohl.
Auch die FDP und – etwas zurückhaltender – Die Mitte unterstützen die «Annäherung», genannte Teilintegration in die Nato. Die mit Avenir Suisse verbundene Mehrheit des Freisinns hat sich schon lange von der Neutralität verabschiedet. Immerhin schreibt Avenir Suisse im Zusammenhang mit den F35: «Es gilt daher neutralitätspolitische Fragen zu klären.» (WoZ, 31.3.2022) Da ein solches Unterfangen Zeit braucht, ist die Stopp-F35-Initiative eine Chance zu einer demokratischen Diskussion. Ausser man will vor der demokratischen Klärung Faits accomplis schaffen.
Die SVP mit ihrem isolationistisch-egoistischen Verständnis von Neutralität hält dagegen. Allerdings befindet sie sich mit ihrer Unterstützung der aus einer Herzkammer der Nato, Lockheed Martin, stammenden F35 in einem Widerspruch. Dies erklärt, dass sie die Neutralitätsfrage am falschen Ort: an den Sanktionen, statt am richtigen: an den F35, aufhängt. Mittelfristig dürfte der forsche Nato-Kurs der FDP, der Mitte und GLP nachlaufen, die Bürgerlichen spalten. In den Nullerjahren führte diese Spaltung dazu, dass die friedenspolitische Linke Armeeeinsätze in Afghanistan und Afrika verhindern konnte.

Universell statt abendländisch

Es gibt eine Alternative zum Mitmachen bei der Nato: ein aktiveres Engagement in der UNO und in deren europäischen Ableger, der OSZE. Sie sind nicht abendländisch, sondern universell. Die UNO-Universalität ist, im Gegensatz zur sonderbündischen Nato-Partikularität, mit der Neutralität kompatibel. Wie wir – eigentlich seit Kant – wissen, kann nur eine universelle Organisation Frieden schaffen und garantieren. Die letzten 20 Nato-Jahre zeigen es – im Negativen. Die Katastrophe des «War on Terror» hat, wie Kant zugleich gelehrt hat, damit zu tun, dass Frieden auf Recht baut, während Machtpolitik immer wieder zu Kriegen führt.
Ein grosser Unterschied zu den Nullerjahren ist der, dass die Linke heute grossmehrheitlich auf friedenspolitischem UNO- und OSZE-Kurs ist. Für diese Haltung gibt’s auch eine programmatische Grundlage – den gemeinsamen Aufruf zur Friedensdemo vom 2. April in Bern. Er wurde von der Linken, von Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen von der GSoA bis zur Pfadibewegung und auch von GLP, Mitte und FDP unterschrieben. Dessen vierter Punkt lautet: «Aktive Friedenspolitik im Rahmen der OSZE und der UNO-Charta.»
Zur Person: Josef Lang ist Historiker, alt Nationalrat der Alternativ-Grünen Zug und GSoA-Vorstand.
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Fussnoten

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