Hans Baumann
Robert Fluder

Kommentar

In der Schweiz wird viel und lang gearbeitet
28.09.2023 | Seien es rechte Ökonomen wie der Luzerner Professor Schaltegger oder rechte Politiker wie der FDP-Präsident Burkart: Man(n) will uns weismachen, dass in der Schweiz immer weniger gearbeitet wird und wir alle wieder fleissiger sein müssen. Dabei stimmt das Gerede über die angeblich sinkenden Arbeitsstunden überhaupt nicht. Die offiziellen Zahlen ergeben ein ganz anderes Bild.
Im letzten Jahr stieg die Anzahl aller geleisteten Arbeitsstunden in der Schweiz um 1,3 Prozent auf 7,9 Milliarden Stunden. Damit wurde das Vor-Corona-Niveau wieder erreicht, vor allem weil die Zahl der Arbeitsstellen zunahm und Frauen mehr (und nicht weniger) Erwerbsarbeit leisten.
Zwar ist die wöchentliche Regelarbeitszeit in den letzten Jahren leicht gesunken. In Europa liegt die Schweiz aber mit einer Vollzeit-Arbeitswoche von über 42 Stunden nach wie vor einsam an der Spitze , im europäischen Durchschnitt wird 38.3 Stunden gearbeitet. In den nordischen Ländern beträgt die Arbeitszeit zwischen 36 und 37 Stunden, in unseren Nachbarländern liegt sie bei 38 oder 39 Stunden.
Um neben der vertraglichen Vollarbeitszeit die tatsächlich gearbeiteten Stunden aller Erwerbstätigen zu ermitteln, werden die Teilzeitbeschäftigten mitberücksichtigt. So beträgt die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit in der Schweiz knapp 36 Stunden. Dies liegt ziemlich genau im europäischen Durchschnitt. Der Unterschied ergibt sich, weil in der Schweiz überdurchschnittlich viel Teilzeit gearbeitet wird. Die tiefere, tatsächliche Arbeitszeit muss zum Teil selbst finanziert werden, indem vor allem Frauen viel unbezahlte Betreuungsarbeit leisten und auf einen Teil des Lohnes verzichten!

Rekordhohe Erwerbsbeteiligung

Es stimmt auch nicht, dass es überwiegend Beschäftigte mit einem hohen Bildungsgrad und hohen Löhnen sind, die Teilzeit arbeiten, weil sie sich das angeblich leisten können. Die meisten Teilzeitbeschäftigten arbeiten in Stellen ohne Hoch- oder Fachhochschulabschluss. Viele Teilzeit beschäftigte Frauen finden sich in Sektoren mit bescheidenen Löhnen, wie dem Gastgewerbe, den persönlichen Dienstleistungen oder im Verkauf. Hier gibt es einen hohen Anteil von Arbeitnehmenden, die länger arbeiten möchten, jedoch keinen besseren Arbeitsvertrag bekommen und im Prinzip teilarbeitslos sind. Dies unter anderem, weil die Arbeitgebenden bei kleinen Pensen Sozialleistungen sparen können.
Auch bei der Erwerbsquote, also dem Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren, ist die Schweiz an der Spitze. Mit 67,5 Prozent liegt diese Quote fast 10 Prozent über dem europäischen Durchschnitt. Nur die Niederlande erreicht einen ähnlich hohen Wert. Grund für diesen Spitzenplatz ist eine überdurchschnittlich hohe Erwerbsbeteiligung der Frauen mit Teilzeitpensen und der älteren Beschäftigten zwischen 55 und 65 Jahren.
Quelle: Eurostat, BfS.

Auch unbezahlte Arbeit zählt!

Setzt man das gesamte Arbeitsvolumen im Verhältnis zur Bevölkerung über 15 Jahren, ergibt sich ein gutes Mass für die Arbeitsleistung im Erwerbssektor einer Volkswirtschaft. In der Schweiz ergeben sich dabei pro Woche 22,8 Arbeitsstunden. Im europäischen Vergleich ist dies ein Spitzenplatz: im Durchschnitt aller Länder sind es nur 19,5 Stunden. Kein Wunder ist auch die Arbeitsproduktivität, gemessen im Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätige:n, in der Schweiz sehr hoch. Sie ist rund ein Viertel höher als im europäischen Durchschnitt.
Quelle: OECD.
Bezeichnend ist, dass die rechten Kritiker:innen in Bezug auf die Arbeitsmoral nie erwähnen, dass es eine riesige Anzahl von unbezahlter Arbeit in Haushalt, Familie und Pflege gibt, die vor allem von Frauen geleistet wird. Das Ausmass dieser unbezahlten Arbeit übersteigt mit fast 10 Milliarden Stunden sogar das Arbeitsvolumen der Erwerbsarbeit. Und die Anzahl der unbezahlten Stunden nahm in den letzten 20 Jahren noch mehr zu als das Volumen der Erwerbsarbeit.

Arbeitszeitpolitik ist Verteilungskampf

Rechte Ökonom:innen und neoliberale Politiker:innen wissen das sehr wohl: Bei der Arbeitszeit geht es um die Verteilung des Sozialprodukts, um den Anteil, den die Lohnabhängigen davon bekommen und um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Schweiz gehört nach wie vor zu den Ländern mit der längsten Arbeitszeit und der höchsten Erwerbsbeteiligung. Zudem leistet jede:r Erwerbstätige immer mehr. Die rekordhohe Arbeitsproduktivität würde es längst erlauben, die bezahlte und nicht bezahlte Arbeit gerechter zu verteilen, damit alle mehr freie Zeit haben, Familie und Beruf besser vereinbar sind und die Arbeitszeitverkürzung nicht zu Lasten der Frauen geht. Dazu braucht es unter anderem einen neuen Anlauf für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbusse. Ein Ansatz hierfür ist die Einführung der 4-Tage-Woche, wie sie jetzt in einigen Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen diskutiert oder bereits erfolgreich erprobt wird.
Autoren | Hans Baumann ist Ökonom, Publizist und Autor. Robert Fluder ist emeritierter Professor der Berner Fachhochschule. Beide sind im Denknetz aktiv.
Kategorie  |  Kommentar