Editorial

Mit dem Vorschlag, eine Allgemeine Erwerbsversicherung AEV zu etablieren, ist die Diskussion über eine umfassendere Sozialreform in der Schweiz lanciert. Gemeint ist hier ›Sozialreform‹ im ursprünglichen und guten Sinne des Wortes: Welche sozialen Leistungen müssen einer Reform unterzogen werden, um die sozialen Probleme der Gesellschaft zu lösen und die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern? Welche Lösung gliedert sich sinnvoll in die gesamte gesellschaftliche Entwicklung ein? Das ist ein anderes Verständnis der Reform, als es in den letzten, neoliberal geprägten Jahren vorgeherrscht hat. Neoliberale Kreise meinten damit meist einen Abbau der sozialen Netze, die »wir uns nicht mehr leisten können«. Damit missachteten sie den ursprünglich positiven Gehalt des Reformbegriffes. Der hier publizierte Vorschlag einer Allgemeinen Erwerbsversicherung will demgegenüber mit einem umfassenden Paket auf die neuen und zunehmenden Risiken der Arbeitenden eine Antwort geben.

Die Erwerbswelt hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert – die Sozialversicherungen, die die Risiken des Erwerbs absichern, hinken den grossen Entwicklungen hinterher: Feminisierung des Erwerbs und Zunahme der Teilzeitarbeit; Diskontinuität der Erwerbsbiografien mit häufigen Brüchen und Wechseln; Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Arbeitspensen; schliesslich die verschiedenen Formen der grassierenden Prekarisierung der Erwerbsarbeit, zum Beispiel die Schein-Selbstständigkeit. Alle diese Entwicklungen stellen neue Anforderungen an die soziale Sicherheit. Deren Systeme waren ursprünglich auf die relativ kontinuierlichen Arbeitsbiografien von Vollzeitangestellten und von standardisierten Arbeitszeiten ausgerichtet. Heute sind die Risiken für Erwerbstätige weit vielfältiger geworden. Die Wahrscheinlichkeit, davon betroffen zu werden, hat sich seit dem Ende der 30jährigen Hochkonjunktur der Nachkriegszeit massiv erhöht. Über ein Drittel der heutigen Erwerbstätigen sind im Laufe ihrer Biografie von einem unfreiwilligen Erwerbsausfall betroffen, über die Hälfte erlebt den Ausfall in der Familie mit. Dieser Entwicklung sind die sozialen Netze nicht gefolgt. Sichtbares Resultat sind die periodisch anschnellenden Zahlen der Ausgesteuerten, die massive Zunahme der InvaliditätsrentnerInnen und schliesslich die ungebremst wachsende Zahl von SozialhilfebezügerInnen. Gleichzeitig erweist sich das Fehlen einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung – die Schweiz gehört hier zu den Schlusslichtern Europas – als immer problematischer. Denn je flexibler‹ eine Arbeitskraft wird, je mehr sie dem herrschenden Imperativ gehorcht, desto geringer werden ihre Rechtsansprüche im Falle einer längeren Krankheit.

Die reale Entwicklung der Arbeits- und Erwerbsverhältnisse und die Ausgestaltung unseres aufgesplittert gewachsenen Sozialversicherungssystems klaffen weit auseinander. Hier gibt der Vorschlag einer Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV eine kohärente Antwort. Der Reformvorschlag umfasst folgende Kernelemente und Vorteile:

Mit der AEV wird eine einheitliche Versicherung für die ganze Erwerbszeit geschaffen. Das verhindert das Abschieben eines ›Falles‹ von einem Sicherungssystem ins andere und bringt mehr Effizienz.

Die AEV schliesst wichtige Lücken (Krankentaggeld, Ergänzungsleistungen für Familien mit geringem Einkommen, Einbezug der selbstständig Erwerbenden) und verbessert insbesondere die Lage von Frauen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien und von (Schein)Selbstständigen.

Die Beschränkung der Taggelder bei Arbeitslosigkeit wird aufgehoben. Das mildert die Angst vor Armut und die Furcht, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.

Die Sozialhilfe wird in die AEV integriert und damit auf eine schweizweit einheitliche Basis gestellt. Gleichzeitig wird sie wieder auf ihre angestammte Aufgabe zurückgeführt, nämlich Menschen in besonderen Notsituationen zu unterstützen.

Last but not least schafft eine einheitliche Erwerbsversicherung die Voraussetzung für wirksame Präventions- und Integrationsleistungen, wie sie bisher eigentlich nur die SUVA bietet.

Die gigantische Krise der Finanzwirtschaft und die daraus folgende Krise der Realwirtschaft fordern zu grundlegenden Überlegungen und Reformen heraus. Eine umfassende Sozialreform hat deshalb gerade in den letzten Monaten an Dringlichkeit gewonnen. Wie lautet die Standardbegründung neoliberaler ›Reformer‹, wenn es um Abbauvorschläge geht, etwa um die Reduktion der Taggelder und der Leistungsdauer in der Arbeitslosenversicherung, um die Kürzung von IV-Renten und so weiter? Stets wird der Imperativ der Selbstverantwortung angeführt. Jeder Einzelne habe als ›Ich-AG‹, als Manager seiner Arbeitskraft seine ›Employability‹ zu steigern und verbleibende Restrisiken allenfalls privat zu versichern, statt auf die Hängematte des Sozialstaates zu hoffen. Die Massenentlassungen, von denen heute auch ›topfitte‹ Belegschaften betroffen sind, machen jedoch deutlich, dass die Erwerbsrisiken in unserem System eben weitgehend fremdbestimmt und unberechenbar sind. Eigenverantwortung ist überall da gut, wo auch eigene Gestaltungsmöglichkeiten bestehen. Stimmen Verantwortung und Handlungsmacht nicht überein, dann wird unter dem wohlklingenden Deckmänntelchen der Eigenverantwortung die Überwälzung der Systemrisiken auf den Einzelnen kaschiert. Der Widerspruch droht immense Ausmasse anzunehmen: Die Grossverluste etwa einer UBS werden auf die Allgemeinheit überwälzt, die Folgen einer Wirtschaftskrise jedoch individualisiert. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Vorschlag einer umfassenden solidarischen Versicherung gegen Erwerbsausfall an Brisanz und Bedeutung.

Das Modell einer AEV wird in den Grundzügen vom Vorstand und der Kerngruppe des Denknetzes mitgetragen. Für die detaillierten Ausführungen stehen die jeweiligen AutorInnen der verschiedenen Beiträge mit ihrem Namen. Die Unterzeichnenden dieses Vorwortes begrüssen die Stossrichtung dieses Vorschlags einer wirklichen Sozialreform und wünschen sich, dass er von Politik und Gesellschaft aufgegriffen wird. Die Vorschläge geben hoffentlich zu vielen Diskussionen Anlass, Diskussionen, in denen einiges neu überdacht, verändert und verbessert wird. Denn wir brauchen einen echten reformerischen Elan, um aus den Klemmen herauszufinden, in die uns die neoliberale Reformblockade der letzten Jahre geführt hat.

Rosmarie Dormann

Therese Frösch

Carlo Knöpfel

Ueli Mäder

Andreas Rieger

Stéphane Rossini

Silvia Schenker

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AutorInnen

Rosmarie Dormann, Therese Frösch, Carlo Knöpfel, Ueli Mäder, Andreas Rieger, Stéphane Rossini, Silvia Schenker, Ruth Gurny, Beat Ringger, Urs Chiara, Silvia Domeniconi, Avji Sirmoglu

ISBN

HerausgeberInnen: Ruth Gurny und Beat Ringger; Die grosse Reform: Die Schaffung einer Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV; ISBN 978-3-85990-140-7; Verlag: edition 8, Quellenstr. 25, 8005 Zürich

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