Editorial

Digitale Revolution, künstliche Intelligenz oder Industrie 4.0 sind Schlagworte, die die Debatte über die Zukunft wesentlich bestimmen. »Wir dürfen den digitalen Wandel nicht verschlafen, sonst werden wir abgehängt.« Solcherlei Mahnungen tauchen heute in fast jeder Programmrede, jedem Manifest oder jeder Agenda auf. In der Regel werden dabei die diagnostizierten Technologieschübe als unausweichliche Fakten dargestellt, denen sich die Gesellschaft dringend anzupassen habe, um ihre Zukunftsfähigkeit nicht zu verspielen. Diskutiert, geredet und geschrieben wird über digitale Technik also andauernd, doch bleibt der Horizont der gesellschaftlichen Debatte begrenzt.

So geht es etwa darum, ob nun die weitere Digitalisierung und Automatisierung Jobs vernichtet oder ob sie neue Geschäftsmodelle ermöglicht, die unterm Strich mehr Jobs schaffen. Ob sie zu mehr oder zu weniger individueller Freiheit führt, zu mehr Transparenz oder zu mehr Macht in den Händen jener, die den Steuerungszugriff auf die stetig wachsenden Datenmengen monopolisieren. Oder es wird befürchtet, die Digitalisierung münde in einen »technologischen Totalitarismus« oder die künstliche Intelligenz werde den Menschen in Kürze übertreffen und anschliessend ausbooten.

So wichtig diese Diskussionen im Einzelnen auch sein mögen, eine Frage wird kaum gestellt: Wie wollen, können und sollen wir denn eigentlich leben, und welche Technik brauchen wir dazu? Die Mainstream- Gesellschaft scheint vielmehr wie das Kaninchen vor der Schlange zu erstarren angesichts von Technologien, die sie nicht zu begreifen scheint, denen man aber offenbar – mal willig, mal weniger willig – die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zu überlassen bereit ist. Es scheint, als gebe die Mainstream-Gesellschaft ihren letzten Rest von Mündigkeit an der Garderobe ab, sobald sie online geht.

Doch woher kommt die Technik? Warum ist sie, wie sie ist? Wird sie getrieben von der menschlichen Neugierde, dem ErfinderInnengeist? Ist sie das laufende Produkt der eigenen Entwicklung, führt also Technik zu immer neuerer Technik? Ist sie geprägt von gesellschaftlichen Verwertungszwängen und Machtverhältnissen, in welcher Weise und in welchem Mass? Solche Fragen haben in einer von vermeintlichen Sachzwängen getriebenen Debatte kaum Platz. Technik ist einfach da. Dieses naturalistische Technikverständnis scheint Optimistinnen und Pessimisten zu einen. Auf diese Weise wird Technik zur Ideologie, hinter der soziale und ökonomische Widersprüche verschwinden. Technik wird gleichermassen zur Bedrohung wie auch zum universellen Mittel der Problemlösung stilisiert. Technik setzt uns Zwängen aus, die wir mit mehr Technik bewältigen können und sollen, vor allem auch deshalb, weil mit ihr grundlegende Probleme systemkonform bearbeitet werden können, wie sich in der Klimapolitik bestens nachzeichnen lässt. Warum das Produktions- und Konsummodell in Frage stellen, wenn die dabei entstehenden Emissionen durch neueste Technik gespeichert und unter der Erde eingelagert werden können?

Der Titel dieses Sammelbandes, ›Technisierte Gesellschaft‹, zielt auf genau jene Wahrnehmungsverschiebung von den Ursachen menschengemachter Probleme zu den technischen Möglichkeiten ihrer ›Lösung‹. Diese diskursive Verschiebung verstärkt wiederum die naturalisierte Wahrnehmung von Technik als Hilfsmittel oder gar Heilsbringerin, jedenfalls als entscheidender Motor der Entwicklung, in jedem Fall als ein neutrales Instrument. Doch drücken sich nicht bereits in der Beschaffenheit, der Logik und der nahegelegten Anwendung eines technischen Apparats bzw. einer Software und den ihnen zugrundeliegenden Algorithmen die gesellschaftlichen Verhältnisse aus, unter denen die Technik entwickelt wurde? Dies legt jedenfalls der Soziologe Christoph Müller im Gespräch mit der Redaktion ebenso nahe wie Daniel de Roulet, der in seinem einleitenden Essay wenig Hoffnung auf eine gesellschaftliche Emanzipation durch Technik erkennen kann.

Der naturalisierende Diskurs über die Technikentwicklung führt zu tiefer Lähmung. Ähnlich wie der Diskurs über die Globalisierung vermittelt er ein Gefühl vollständiger Machtlosigkeit. Das ist durchaus im Sinn und Interesse der wenigen, die in den Chefetagen der Technologiekonzerne und der Technikuniversitäten sitzen oder die Aussichten haben, mit ihrem Startup den grossen Reibach zu machen. Sie alle wollen die Technikentwicklung für ihre eigenen Interessen nutzen.

Doch die Lähmung ist nicht nur ein Mittel in den Händen der Herrschenden. Sie bedroht vielmehr die gesamten Gesellschaften. Die Ohnmacht in der Bevölkerung sucht sich ihren eigenen gesellschaftlichen und politischen Ausdruck. Und weil die Linke in den Augen von vielen (zumindest gegenwärtig) keine glaubhaften Alternativen zu bieten hat, wenden sich diese vielen nach rechts.

Dabei ist es noch gar nicht so lange her, als das Internet als eine Erfindung beschrieben worden ist, die der Demokratisierung der Gesellschaften enormen Schub verleihe und die Grundlagen für eine neue, den Kapitalismus transformierende Wirtschaftsweise (Open-Software, Share-Economy, Collaborative Computing) schaffe. Die bisherige Entwicklung ist nun allerdings gerade ein Lehrstück darin, wie wenig ›Technik an sich‹ auszurichten vermag und wie sehr gesellschaftliche Verhältnisse die Techniknutzung und -entwicklung zu prägen vermögen. Das Internet ist zum Aktionsfeld von Geheimdiensten und von Software- Giganten geworden, die die KonsumentInnen umgarnen, manipulieren und zu gläsernen BürgerInnen machen. Und in Form des Darknets ist sein ambivalenter Schatten entstanden, für viele ein Fluchtweg vor der Überwachung, für andere ein Tummelfeld ihrer Kriminalität.

Das Bestreben, die Gesellschaftlichkeit von Technik zu verstehen, setzt allerdings voraus, auch die stoffliche Seite der Technik zumindest in groben Zügen zu begreifen. Martin Gallusser und Beat Ringger versuchen in ihrem Beitrag, diese stoffliche Seite verfügbar zu machen. Zweifellos kommt es immer darauf an, in wessen Händen und unter welchen ökonomischen Voraussetzungen Technik angewendet wird, wie diverse Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten anschaulich zeigen. Mascha Madörin gibt sich im Gespräch pessimistisch, was den Gesundheitsbereich betrifft. Unter den bestehenden Prämissen der Kosteneinsparung und des privaten Profitmotivs würde der Einsatz von Robotik und Digitalisierung etwa in der Pflege eher dazu benutzt werden, Personal einzusparen bzw. die Arbeitsdichte noch weiter zu erhöhen, anstatt die allenfalls frei werdenden Ressourcen für gute Arbeit und gute Pflege zu nutzen.

Matthias Hartwich und Martin Kuhlmann kommen in ihrer Einschätzung der Digitalisierungsstrategien von Konzernen zu dem Schluss, dass die Belange der ArbeitnehmerInnen im und durch den Prozess der Digitalisierung noch stärker aus dem Blick geraten. Beide sehen jedoch auch die Chancen für die Gewerkschaften, sich auf internationaler Ebene auf diesen Wandel einzustellen und eine Demokratisierung der Arbeitsbedingungen zu erkämpfen.

Natalie Imboden und Christine Michel gehen einen Schritt weiter und fordern eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über die Qualität der Arbeit und die Implikationen der Digitalisierung insbesondere auf Frauen bzw. auf sogenannte Frauenberufe. Wie Digitalisierung sich auf welche Berufszweige auswirkt und welche Berufsbildungen in Zukunft überhaupt benötigt werden, beschäftigt Sheron Baumann und Ute Klotz. Und Christa Wichterich zeigt am Beispiel der profitablen Reproduktionstechnologien, wie in der Technologie soziale Ungleichheiten eingeschrieben werden.

Welche gesamtgesellschaftlichen Folgen die technologischen Umbrüche auf globale Macht- und Klassenverhältnisse haben, untersuchen Roland Herzog und Hans Schäppi. Verschärft die Digitalisierung den seit der Deregulierung der Finanzmärkte zu beobachtenden Trend, dass immer mehr Finanzmittel auf eben diesen Märkten angelegt werden und so dringende öffentliche Investitionen insbesondere im Care-Sektor fehlen? Verschärft sich also – so fragt Beat Ringger – die Krise der gesellschaftlichen Investitionsfunktion, oder wird die gegenwärtige finanzgetriebene Phase des Kapitalismus durch eine technologiegetriebene Phase abgelöst? Droht gar eine Algorythmisierung der Gesellschaft, so die Gruppe GAMBITTOG in ihrer Analyse Go Faster?

Die Macht der sogenannten Internetkonzerne über Daten ist das eine Problem, die Arbeitsbedingungen sind ein weiteres. Im Fokus stehen derzeit sogenannte Plattformen, über die Selbstständige Aufträge bekommen und abarbeiten – zu bekanntlich oftmals miserablen Bedingungen. Der Jurist Kurt Pärli rechnet mit einer weiteren Verbreitung solcher Plattformen und von prekären Arbeitsbedingungen wie beim Fahrdienstleister Uber. Während Pärli die Regulierung der Rahmenbedingungen solcher Modelle einfordert, sieht Kristy Milland Perspektiven vor allem in der Selbstorganisierung der Beschäftigten. In ihrem Artikel beschreibt sie diesbezügliches Initiativen in den USA.

Einem derzeit viel diskutierten Fragenkomplex um die zunehmende Bedeutung von digital gesammelten, gespeicherten und gar erzeugten Daten in den Händen von Privatunternehmen gehen Adrienne Fichter und Nicole Shepard nach: Wie können Freiheiten, Privatsphäre und demokratische Kontrolle erhalten respektive angesichts der Macht der Algorithmen wiederhergestellt werden?

Angesichts des eingangs beschriebenen – und auch im Beitrag von Helmut Knolle kritisierten – affirmativen Technikfetischismus einerseits, dem Big-Data-Totalitarismus anderseits bleibt die Frage, wo die Emanzipationsversprechen geblieben sind, die mit den neuen digitalen Technologien ursprünglich verknüpft worden waren. Bewegungen wie der Transhumanismus oder der Cyberfeminismus prognostizierten die Utopie einer Verschmelzung von Mensch und Maschine als Befreiung von Natur oder gesellschaftlichen Zuschreibungen. Andrea zur Nieden rekapituliert und kritisiert diese Theorien im Lichte aktueller Technikschübe. Trotz aller Ernüchterung verdienen Analysestränge jedoch weiterhin Beachtung, die in der Logik digitaler Technik Momente sehen, die tendenziell das kapitalistische Eigentum unterminieren und die Grundlagen für alternative Produktionsmodelle bieten. Durch die Verbilligung und Verfügbarmachung der Produktionsmittel berge Digitalisierung den Keim kommunistischer Produktion, die Technik forciere Kooperationen in einer Sharing-Economy, so Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller und Karin Werner in ihrem Beitrag zur postkapitalistischen Produktion.

Ausserhalb des Schwerpunkts bilanziert Beat Ringger den Kongress ›Reclaim Democracy‹, den das Denknetz in Kooperation mit dem Seminar für Soziologie der Universität Basel und 23 NGOs, Gewerkschaften, Zeitschriften und Thinktanks aus der Schweiz, Deutschland und Österreich organisiert hat. Hans Baumann, Rudolf Farys, Robert Fluder, Oliver Hümbelin und Ben Jann analysieren die jüngste Entwicklung der Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Schweiz und in Europa. Die Denknetz-Arbeitsgruppe Grundrechte schliesslich plädiert in einem Grundlagentext dafür, die Grundrechte – unter anderem gerade auch angesichts der digitalen Durchdringung des Alltags – neu zu vermessen, um ihrer Erosion erfolgreich entgegentreten zu können.

Redaktion Denknetz-Jahrbuch

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AutorInnen

Daniel de Roulet, Martin Gallusser, Beat Ringger, Mascha Madörin, Gruppe Gambittog, Christoph Müller, Christa Wichterich, Roland Herzog, Hans Schäppi, Adrienne Fichter, Nicole Shepard, Helmut Knolle, Natalie Imboden, Christine Michel, Kurt Pärli, Sheron Baumann, Ute Klotz, Matthias Hartwich, Martin Kuhlmann, Andrea zur Nieden, Kristy Milland, Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner, Stephan Bernard, Viktor Györffy, Philippe Koch, Magda Zihlmann, Hans Baumann, Robert Fluder, Rudolf Farys, Oliver Hümblin und Ben Jann

ISBN

HerausgeberInnen: Hans Baumann, Martin Gallusser, Roland Herzog, Ute Klotz, Christine Michel, Beat Ringger, Holger Schatz; Jahrbuch 2017: Technisierte Gesellschaft; ISBN 978-3-85990-326-5; Verlag: edition 8, Quellenstr. 25, 8005 Zürich

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