Pascal Zwicky

Diskussion

Die Welt brennt und das Denknetz sucht nach Zukunft
29.08.2025 | Ein immer heisserer Planet; ein wuchtiger reaktionärer Backlash; unglaubliche soziale Ungleichheiten; eine immer unmenschlichere Migrationspolitik, Tech-Konzerne, die zur Spaltung der Gesellschaft beitragen; Kriegsgräuel und Militarisierung; ein am palästinensischen Volk begangener Genozid vor den Augen der Weltöffentlichkeit – es läuft gerade völlig aus dem Ruder. Es gibt so vieles zu verstehen, miteinander zu verbinden und zu verändern. Das Denknetz kann und soll die schweizerische Linke dabei unterstützen. Gedanken von Pascal Zwicky nach der Zukunftswerkstatt des Denknetz im Juni 2025.

Eigentlich braucht es das Denknetz. Wahrscheinlich mehr denn je. Und trotzdem tut sich der «der linke Thintank der Schweiz» schwer. Fehlende Mitglieder und fehlendes Geld machen dem Denknetz zu schaffen. An einer Zukunftswerkstatt im Anschluss an die Mitgliederversammlung vom 20. Juni haben sich Mitglieder über die aktuelle globale Situation und Entwicklungsperspektiven für das Denknetz ausgetauscht. Der vorliegende Text fasst die wichtigsten Punkte aus dieser Diskussion zusammen.
«Noch Hoffnung?» – beim Schreiben des Denknetz-Jahrbuchs 2024 haben wir in der Herausgeber:innen-Gruppe rege über die Bedeutung von Hoffnung diskutiert. Gibt es sie noch, bei all den Krisen und Schreckensnachrichten? Wir kamen zum Schluss, dass es Hoffnung geben muss, dass wir nicht im Negativen verharren dürfen. Hoffnungsvoll zu sein ist seither nicht einfacher geworden. Aber der Imperativ bleibt: Ohne Hoffnung ist alles nichts.
Noch vor wenigen Jahren gab es eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung, in der Schweiz hat sie sich etwa bei den Eidgenössischen Wahlen 2019 manifestiert. Die Klimabewegung, die feministische Bewegung waren präsent, plötzlich schien eine sozial-ökologische Wende, ja vielleicht sogar ein System Change, möglich. Rückblickend war das wahrscheinlich naiv. Heute ist der reaktionäre Backlash in vollem Gang. Statt progressive Erfolge zu feiern, finden wir uns in – existenziellen – Abwehrkämpfen wieder.
Aber Geschichte ist niemals eine Einbahnstrasse. Die gesellschaftliche Entwicklung lässt sich nicht einfach zurückdrehen. Soziale und demokratische Errungenschaften der letzten Jahrzehnte werden auch geschätzt und verteidigt. Das zeigen die Mobilisierungen gegen Rechts auf der ganzen Welt. Die Hoffnung lebt – trotz allem.

Was passiert da gerade?

Es gibt in der Literatur zahlreiche Ansätze, um die Zeit, in der wir leben, analytisch zu fassen. Auf drei davon sind wir an der Zukunftswerkstatt kurz eingegangen.
Ulrich Brand und Markus Wissen (2024) sehen den Kapitalismus am Limit und den reaktionären Backlash als Folge dieser bislang unbekannten Situation. Erstens fehlt es dem kapitalistischen System heute an einem dynamischen und mehr oder weniger stabilen Akkumulations- und Wachstumsmodell. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot dies der «Fordismus», später zumindest teilweise der «Neoliberalismus». Der designierte Nachfolger, der «Grüne Kapitalismus», ist nun aber nicht in der Lage, das zu leisten. Das Modell ist innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Eliten umstritten, die fossilen Kräfte sind wieder im Aufwind. Zweitens funktioniert die bisherige Externalisierung der Folgen der «imperialen Lebensweise» nicht mehr wie zuvor. Im globalen Süden regt sich zunehmend Widerstand, fossile Energieträger können nicht mehr politisch folgenlos verbrannt werden. Und in Ländern wie China breitet sich die „imperiale Lebensweise“ ebenfalls aus – was zu einem verschärften Wettbewerb um billige Rohstoffe in anderen Weltregionen führt. Das «Aussen», das es für die Externalisierung braucht, wird immer kleiner. Und drittens nehmen die klimabedingten Reparaturkosten infolge von Stürmen, Überschwemmungen, Dürren oder Bergstürzen (Beispiel Blatten) massiv zu. Fortschritt und steigender Wohlstand (zumindest für viele) sind das integrierende Versprechen des Kapitalismus. Wenn nun das Wiederherstellen zur primären Zukunftsperspektive wird, dann wird dieses Versprechen untergraben und das System gerät an eine Grenze.
Der Soziologe Andreas Reckwitz (2024) begreift den Verlust als die prägende Erfahrung unserer Zeit. Reckwitz konstatiert eine regelrechte «Verlusteskalation» mit der sich moderne Gesellschaften heute konfrontiert sehen: Die Verluste des Übergangs von der regulierten Industriegesellschaft zum liberalen Postindustrialismus («Modernisierungsverlierer:innen»); die durch den Klimawandel bereits verursachten oder prognostizierten Verluste; politisch-demokratische Regressionen, die sich im Aufkommen eines autoritären Rechtspopulismus verdichten; die Artikulation historischer Wunden, die im Zuge der Moderne verursacht wurden (z.B. Restorative Justice); die zunehmende Verlustsensibilisierung im Rahmen der postmodernen «Subjektkultur», in der Selbstverwirklichung und Emotionen wichtiger werden; und schliesslich die demographische Entwicklung, durch welche die Gesellschaft wieder stärker mit – lange verdrängten – Themen wie Altern, Vulnerabilität und Tod konfrontiert wird.
Verlusterfahrungen sind nichts Neues, heute lassen sich individuelle Verluste aber nicht mehr durch den modern-kapitalistischen Zukunftsoptimismus auffangen. Es sind «Erschöpfungsverluste», die gekommen sind, um zu bleiben. Das zentrale Problem dabei ist, dass moderne (westliche) Gesellschaften gemäss Reckwitz keinen produktiven Umgang mit Verlusten gelernt haben – und das hat politische Folgen. Trump und Co. sind Profis des «Verlustunternehmertums». In ihrem Verlustnarrativ verbinden sie Opferkult, Schuldzuweisungen und Rachefantasien. Es ergeben sich aber auch Handlungsspielräume für eine sozialkonservative Politik, die von Mitte-links genutzt werden können. Die Erfolge im Bereich der Rentenpolitik sind Belge dafür. Die wesentliche Herausforderung, die sich auch Reckwitz‘ Analyse ergibt, lautet: Wie finden wir als Gesellschaft zu einem produktiven Umgang mit Verlusten und wie kann eine sozial-ökologische Transformationspolitik aussehen, die auf das legitime Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität reagiert?
Schliesslich analysieren Naomi Klein und Astra Taylor (2025) das Zusammenspiel zwischen der MAGA-Bewegung um Donald Trump und den Tech-Bros, Männern wie Elon Musk, Mark Zuckerberg oder Peter Thiel, und erkennen darin den «Aufstieg eines Endzeitfaschismus». Klein und Taylor schreiben: «Um zielgerichtet voranzukommen, müssen wir zunächst diese einfache Tatsache verstehen: Wir stehen einer Ideologie gegenüber, die nicht nur die Prämisse und das Versprechen der liberalen Demokratie aufgegeben hat, sondern auch die Bewohnbarkeit unserer gemeinsamen Welt – ihre Schönheit, ihre Menschen, unsere Kinder, andere Arten. Die Kräfte, gegen die wir ankämpfen, haben sich mit dem Massensterben abgefunden. Sie sind Verräter an dieser Welt und ihren menschlichen und nichtmenschlichen Bewohnern» (S. 59).
Die Superreichen, allen voran die Tech-Bros, entledigen sich den Bindungen an gesellschaftliche Werte und kollektive Verantwortlichkeiten. Für sie ist die Apokalypse nicht der ökologische Kollaps – sondern staatliche Regulierung. Den Kampf gegen den Klimawandel haben sie längst aufgegeben. Musk et al. setzen auf Anpassung und technologiegetriebene Akzeleration, auf die Illusion einer Marsbesiedlung und digitale Spiegelwelten. Damit heben sie die «imperiale Lebensweise» auf ein nächstes Level: Mit ihren extrem elitären und ressourcenverschwendenden Fantasien treiben sie die Zerstörung unseres Planeten an. Nach-mir-die-Sintflut auf Steroiden.
US-Präsident Trump und andere von seinem Schlag können als politische Erfüllungsgehilfen dieser lebensverachtenden Ideologie gesehen werden. Mit ihrer Steuer- und Wirtschafts- bzw. Subventionspolitik (KI, Rüstungsgüter, Raumfahrt usw.) sichern sie die Profite der Tech-Konzerne. Der Fokus von Trump und MAGA liegt zudem darauf, die eigene Nation auf die Katastrophe vorzubereiten, ohne Anflug von Mitgefühl und Solidarität, ohne ein gemeinsames und geteiltes Verantwortungsbewusstsein. «Die gebunkerte Nation ist das Herzstück der MAGA-Agenda und des Endzeitfaschismus» (S. 52), so die beiden Aktivistinnen. Die aktuelle US-Politik setzt diese Agenda ganz konkret um: Man versucht die nationalen Grenzen zu befestigen, alle «Feinde» (im In- und Ausland) auszuschalten, und strategisch wichtige Ressourcen zu sichern – in Grönland, der Ukraine und sogar Kanada. Was Trump betreibt, lässt sich als neuer Imperialismus beschreiben, als «Preppen für den Nationalstaat».

Was heisst das für uns?

Der besorgniserregende globale Kontext ist selbstverständlich auch unser Kontext. Wenn der Kapitalismus am Limit ist, betrifft das auch uns. Die fehlende Kompetenz, produktiv mit Verlusten umzugehen, ist auch ein Schweizer Problem. Und der Endzeitfaschismus ist eine reale Gefahr für alles Leben auf der Erde. Umso wichtiger ist es, darin waren sich die Anwesenden einig, dass sich die progressiven Kräfte nicht in ihren je eigenen Bubbles und «internen» Kleinkriegen verlieren. Es braucht eine gemeinsame linke Perspektive, überzeugende linke Narrative auch – und genau die fehlen. Zudem ist leider auch die Energie der sozialen Bewegungen hierzulande etwas verpufft.
Die gemeinsame Perspektive: In diversen Ländern, in denen autoritäre, teils faschistische Parteien immer mehr Zulauf erhalten oder gar an der Macht sind, erwacht der zivilgesellschaftliche Widerstand als antifaschistische Bewegung, die die Errungenschaften der (liberalen) Demokratie verteidigt. Gleichzeitig ist es aber wichtig, so verschiedene Stimmen, dass sich die Linke nicht darauf beschränkt, den Status quo zu bewahren. Es sind nicht zuletzt die Unzulänglichkeiten der liberal-kapitalistischen Demokratie, die den gegenwärtigen sozialen und ökologischen Verwerfungen zugrunde liegen. Es braucht also eine Vorwärtsstrategie für eine Vertiefung und Ausweitung der Demokratie. Für eine Demokratie, die insbesondere auch die wirtschaftliche Sphäre umfasst und einen nachhaltigen Umgang mit der Natur ermöglicht.
Wie könnte eine zeitgemässe kollektive Identität aussehen? Wo ist es, das (verlorene) transformative politische Subjekt? Ein intersektionales Proletariat 2.0 – ist das mehr als Wunschdenken? Diese Fragen tauchen in den meisten theoretisch-strategischen Diskussionen der Linken eher früher als später auf. Abschliessende Antworten fanden auch die Denknetz-Mitglieder nicht. Aber klar, die kontinuierliche intellektuelle und praktische Arbeit zu diesen Fragen ist unumgänglich. Wir müssen immer und immer wieder versuchen, das, was ist, zu verstehen, gemeinsame Perspektiven zu entwickeln, Bündnisse zu schmieden und politisch (auf der Strasse, in den Betrieben und im Parlament) wirksam zu werden. Das Denknetz kann einen wichtigen Beitrag zu diesen anspruchsvollen Prozessen leisten. Das Potenzial dafür ist da, es müsste aber noch stärker zum Tragen kommen.
Eine Herausforderung für das Denknetz ist die Altersstruktur des Vereins. Viele Mitglieder, aktive wie passive, sind schon über das Pensionsalter hinaus. Im Austausch wurden verschiedene Aspekte thematisiert: Lässt sich das Denknetz verjüngen? Sollte der Fokus auf den desillusionierten Jungen liegen, die gemerkt haben, dass die Versprechungen des Kapitalismus für sie nicht (mehr) gelten? Ist ein Verein wie das Denknetz, sind längerfristige Mitgliedschaften und im besten Falle auch Engagements in Fachgruppen für sie überhaupt attraktiv? Und ja, verfügen sie über die Mittel, um das Denknetz auch finanziell auf stabile Beine zu stellen? Oder ist das Zielpublikum eher die Generation zwischen 55 und 65, die aus der «Rush Hour» des Lebens raus ist, und über mehr Zeit und Geld verfügt? Und generell: Mit welchen Themen und über welche Kanäle sind welche Zielgruppen zu erreichen? Auf solche Fragen gilt es in den nächsten Monaten Antworten zu finden.
Apropos Themen: Demokratie und Verteilungsfragen sind seit Beginn Schwerpunkte des Denknetz. Sie sind auch heute topaktuell. Der gegenwärtige Faschismus etwa ist ein zutiefst oligarchischer Faschismus – dazu haben wir etwas zu sagen. Und nicht nur dazu: Auch Soziale Sicherheit, Wohnen, Klima und Umwelt, Finanzpolitik, Europa, Care-Arbeit, Migration und Rassismus oder Feminismus sind Themen, mit denen sich das Denknetz beschäftigt (hat) und die heute relevant sind. Anderem, wie der Militarisierung, der Friedensfrage und Geopolitik, muss zukünftig wohl vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Im Hinblick auf die Zukunftswerkstatt hat sich auch der Berner Rapper und Aktivist Simon Küffer (aka Tommy Vercetti) einige Gedanken gemacht: Er meint, dass linke Organisationen wie das Denknetz mehr in die Vermittlung von ökonomischem Wissen investieren, und auch das Privateigentum grundsätzlich(er) infrage stellen sollten. Nur so, wenn wir weit links einen Pflock einschlagen, erreichen wir ihm zufolge auch zufriedenstellende Kompromisse, etwa in Richtung eines ausgebauten Service public. Und, so sein ceterum censeo, er sieht es als Fehler, dass sich die Linke nicht mit Kunst und Kultur (ihrer Produktion, ihrer Vermarktung, ihrem Konsum) beschäftigt, obwohl heute fast alle Menschen Kultur (Musik, Serien usw.) in enormen Mengen konsumieren.

Zuhören, verbünden, Aufgaben teilen

Wir leben in einer Zeit der verhärteten Fronten. Klare Kante und rote Linien allenthalben, scheint es manchmal. Vielfach gibt es durchaus gute Gründe dafür. Aber müssten wir uns nicht verstärkt um Alternativen zur scheinbar endlosen Empörungs- und Wutspirale, zum lauten Schreien, zum Wir gegen Sie kümmern? Wie sollen sich auf diese Weise zukunftsfähige kollektive Perspektiven entwickeln lassen? Wie können wir lernen zuzuhören, um dann gemeinsam weiterzukommen? Der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen (2025) schreibt: «Wirkliches Zuhören ist … gelebte Demokratie im Kleinen, Anerkennung und Akzeptanz von Verschiedenheit, Suche nach dem Verbindenden, Klärung des Trennenden, gemeinschaftliche Erfindung einer Welt, die überhaupt erst im Miteinander-Reden und Einander-Zuhören entsteht» (S. 276). Oder mit anderen Worten: Das demokratische Navigieren durch die komplexe und krisenbehaftete Realität des 21. Jahrhunderts verlangt nach einem konstruktiven Umgang mit Unsicherheiten, Mehrdeutigkeit und Widersprüchen. Fehlt es an dieser Fähigkeit, an Ambiguitätstoleranz, haben die autoritären Populist:innen leichtes Spiel und es droht ein Scheitern der Demokratie. Das Denknetz kann und soll nicht zuletzt ein Ort sein, um diese – individuelle wie gesellschaftliche – Kernkompetenz zu trainieren.
Daran anknüpfend und zum Schluss die Frage der Bündnisse. Bei Naomi Klein und Astra Taylor (2025) heisst es: «In diesem Moment, in dem der Endzeitfaschismus an allen Fronten Krieg führt, sind neue Bündnisse unerlässlich. Doch anstatt zu fragen, «Teilen wir alle dieselbe Weltanschauung?», fordert Adrienne [Maree] uns auf, zu fragen: «Schlägt dein Herz und planst du zu leben? Dann komm hier entlang und wir werden den Rest auf der anderen Seite klären» (S. 60). Das Denknetz könnte als Plattform für solche neuen Bündnisse funktionieren. Der Plattformcharakter entspricht dem Selbstverständnis des Denknetz und widerspiegelt sich auch in seiner Struktur. Die Kollektivmitglieder – Parteien, Gewerkschaften, NGOs etc. – tragen das Denknetz finanziell mit und sind in den Gremien vertreten. Es gibt hier aber Verbesserungspotenzial, das Verhältnis des Denknetz zu den wichtigen linken Akteuren sollte geklärt werden. Im kleinen Schweizer «Politik-Markt» braucht es eine klarere Aufgabenteilung. Die Zukunft des Denknetz hängt auch davon ab.
Autor | Pascal Zwicky ist wissenschaftlicher Sekretär des Denknetz.

Literatur

Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2024): Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven. oekom.
Klein, Naomi/Taylor, Astra (2025): Aufstieg des Endzeitfaschismus. Die Politik mit dem Untergang – und wie wir sie noch stoppen können. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2025, S. 47-60.
Pörksen, Bernhard (2025): Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Hanser.
Reckwitz, Andreas (2024): Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp.