Zeitenwende! Zeitenwende?
11.04.2022 | Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine ist immer wieder von einer Zeitenwende die Rede, vom Ende pazifistischer Illusionen. Das Denknetz-Mitglied Fitzgerald Crain setzt sich in seinem Beitrag mit dem Begriff der Zeitenwende auseinander und blickt dabei auf die gerade heute aktuelle Geschichte der Friedensbewegung zurück. Er schliesst: “Die Idee einer Schweiz ohne Armee ist Putins wegen nicht überholt – im Gegenteil.”
„Zeitenwende“, das Wort ist „in“ seit dem 24. Februar, dem Tag des Einfalls russischer Truppen in die Ukraine. Seither, heisst es, sei nichts mehr, wie es war. „Zeitenwende“ steht unter anderem für das Ende der Illusion einer Welt, in der man darauf verzichtet, im Krieg ein Mittel der Konfliktlösung zu sehen. Es gilt wieder: „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.“ Also muss massiv aufgerüstet werden, wie es die rot-grün-liberale Regierung in Deutschland vormacht. Auch für die Schweiz gilt, dass die Armee modernisiert wird und dass die Kampfjets angeschafft werden. In der Basler Zeitung vom 11. März schrieb die Sozialdemokratin Anita Fetz: „Es gibt eine Zeit vor und eine nach dem brutalen Überfall Putins auf die Ukraine.“ Und sie fährt fort: „die Idee von einer Schweiz ohne Armee – alles zerbombt von Putin.“ Die Idee einer friedlichen Welt ohne Krieg, sie ist am Ende.
Ich erinnere mich an die frühen 1980er Jahre. Es war die Zeit des NATO-Doppelbeschlusses. Innerhalb der NATO-Staaten war man sich einig: Man würde Verhandlungen mit der UdSSR aufnehmen, sollten diese allerdings scheitern, würden weitere atomar bestückte Raketen und Cruise Missiles an den Grenzen zu den Ostblockstaaten stationiert. Es war eine Zeit, in der viele Angst hatten. Ich las damals Jonathan Schell’s 1982 erschienenes Buch „Das Schicksal der Erde“. Schell beschrieb minutiös die Auswirkungen, die ein Atomkrieg haben würde. 1981 meinte Ronald Reagan, „Armageddon“, in der Offenbarung des Johannes der mythische Ort des Endkampfs zwischen Gut und Böse, stehe nahe bevor. 1983 nannte er erstmals, ganz im Sinne der evangelikalen Fundamentalisten, die Ostblockstaaten öffentlich das „Reich des Bösen.“ Ein apokalyptischer atomarer Weltkrieg erschien als eine Möglichkeit.
Aber die frühen 1980er Jahre waren auch eine Zeit der Hoffnung und des Widerstandes. Es gab eine starke internationale Friedensbewegung. 1982 – vor 40 Jahren – wurde die GSoA in Solothurn gegründet. 1983 trat ich der GSoA bei. Mein bürgerlich-liberales Umfeld zeigte keinerlei Verständnis, mein sozialdemokratisches Umfeld in Basel sprach sich ebenso dezidiert gegen diese Initiative aus und warnte, die Initiative werde zum „Eigentor des Jahrhunderts“, da sie den Militarismus stärke. Ich war immer wieder sehr verunsichert. Lag ich mit meinem pazifistischen Engagement vielleicht ganz daneben? Die öffentliche Meinung änderte sich erst mit Perestroika und Glasnost in den letzten Jahren vor 1989. Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin. Und dann kam der 26. November 1989, der Tag der Abstimmung über die GSoA-Initiative. Die Bundesverfassung sollte wie folgt geändert werden: „Die Schweiz hat keine Armee“ – und weiter hiess es: „Die Schweiz entwickelt eine umfassende Friedenspolitik, welche die Selbstbestimmung des Volkes stärkt und die Solidarität unter den Völkern fördert.“ 35.6% sagten Ja zur Initiative. Ich erinnere mich an das damalige Hochgefühl, als wäre nun wirklich eine Zeitenwende angebrochen, eine Zeit, in der man den Krieg als Mittel der Konfliktlösung endgültig ächten würde.
Die Zeit der Hoffnung und des Optimismus dauerte allerdings nur wenige Jahre. 1992 sammelte die GSoA in nur 32 Tagen eine halbe Million Unterschriften gegen den Kauf der F/A-18. In den frühen 1990er Jahren begannen aber auch die Jugoslawienkriege. Sie veränderten die Stimmungslage in der Öffentlichkeit. 1993 lehnten Volk und Stände die F/A-18-Initiative mit 57,2% der Stimmen deutlich ab. 2001 scheiterte, wenige Wochen nach den Terroranschlägen auf die Twin Towers, die zweite Armee-Abschaffungs-Initiative sehr deutlich. Das Abstimmungsergebnis war, im Vergleich zu 1989, ein Fiasko.
Rückblickend bin ich der Meinung, dass die Friedensbewegung und dass die Linke insgesamt die Ergebnisse der ersten Abstimmung überschätzt haben. Es hat sich, meine ich, von den 1990er Jahren bis heute nicht allzu viel verändert, was die globalen militärischen Denk- und Handlungsmuster betrifft. Vergleichen wir die frühen 1980er Jahre mit heute, so ist die Bedrohungslage quantitativ und qualitativ keineswegs geringer geworden. Im Gegenteil: Die weltweite Aufrüstung schreitet woran, die Waffensysteme werden immer raffinierter, die Vorwarnzeiten noch kürzer, die Bedrohungssituationen noch komplexer, so dass menschlicher Verstand sie irgendwann nicht zu erfassen vermag, weshalb die Verantwortung für eine militärische Reaktion an Algorithmen, an selbstdenkende, autonom entscheidende Waffensysteme übergeben werden könnte. Seit dem Jugoslawienkrieg hat auch der Westen fortwährend brutale, teilweise vom Völkerrecht nicht sanktionierte Kriege geführt, im pervertierten Namen der Demokratie. Deshalb erkenne ich im Jahr 1989 auch keine Zeitenwende. Die Kritik an der Armee war nach 1989, von Ausnahmen abgesehen, tendenziell punktuell, nicht wirklich radikal. Ein Krieg in Europa schien kein Thema mehr zu sein. Auch die Linke hatte sich gut eingerichtet in einer Welt, in der ein atomarer Weltkrieg undenkbar schien. Die Friedensbewegung: wo war sie in den letzten Jahren?
Es wird im Allgemeinen zu wenig beachtet, dass die Armee weit mehr ist als ein materielles Gesamt von Soldaten und Soldatinnen, von Raketen, Panzern, Kampfjets, Drohnen oder schwerer Artillerie. Vielmehr war und ist sie nicht zuletzt eine Einstellungsstruktur, ein strukturiertes Ensemble von Bildern, Erwartungen, von Alltagstheorien, Ängsten und Formen der Angstabwehr. Die Armee befürworten heisst zum Beispiel, dass man von der Annahme ausgeht, dass ein Krieg geführt werden kann, dass es bei einem konventionellen Krieg bleiben wird, dass Kriege mit einem Sieger und einem Verlierer zu Ende gehen und dass es einen Verhandlungsfrieden geben kann. Dass ein Krieg, im schlimmsten Fall sogar ein Atomkrieg, begrenzt und kontrolliert werden kann. Dass, irgendwann, die Vernunft die Oberhand behält. Wenn es aber nicht so wäre? Dann wäre die Armee nicht zuletzt ein emotional-kognitives Abwehrdispositiv, das uns davor schützt, das Unvorstellbare, das Grauen einer atomar verseuchten Welt an uns heran kommen zu lassen.
Zeitenwende? Die gab es durchaus, auch wenn sie vielleicht in weiten Teilen der Öffentlichkeit nicht als solche wahrgenommen wird. Die entscheidende Zeitenwende fand am 6. und am 9. August 1945 statt. „Zeitenwende“: der Begriff verbindet sich mit dem Bild der von Atombomben vollständig zerstörten, radioaktiv verseuchten Städte Hiroshima und Nagasaki. Seither sollten wir wissen: Ein atomarer Krieg ist möglich, er kann jederzeit ausbrechen. Wenn er aber ausbricht, wird er, so fürchte ich, mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht kontrollierbar und darum auch nicht rational beendbar sein. Wenn er zu Ende geht, dann mit Zerstörungen, die wir uns gar nicht vorzustellen vermögen. Irgendwann und sehr bald im Verlauf eines Weltkriegs wird die militärische Zerstörungslogik dominieren, die Zivilgesellschaft wird die Kontrolle verloren haben. Die Geschichte der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zeigt: Kriege werden auch dann nicht beendet, wenn die Weiterführung des Krieges völlig sinnlos geworden ist. Das sah man im 1. und noch mehr im 2. Weltkrieg.
Auch wenn es wie ein Affront erscheint, angesichts des mutigen Abwehrkampfes der Ukrainerinnen und Ukrainer: die militärische Logik muss gerade heute und sie muss radikal in Frage gestellt werden. Es ist eine Illusion zu meinen, man könne weiterhin aufrüsten, ohne dass es irgendwann – heute oder morgen in der Folge des Krieges in der Ukraine, in zehn Jahren oder in zwanzig oder in fünfzig Jahren – zu einem zerstörerischen, nicht kontrollierbaren und nicht begrenzbaren Weltkrieg kommt. Es ist in höchstem Mass unwahrscheinlich, dass ein dritter Weltkrieg nicht ein Atomkrieg sein wird. Ein dritter Weltkrieg könnte aus Versehen ausbrechen. Die Menschheitsgeschichte, schrieb Erich Fromm, begann mit Evas Ungehorsam gegen Gott. Sie begann mit einem Akt der Freiheit. Sie könnte durch einen Akt des Gehorsams zu Ende gehen – weil ein Untergebener auf Befehl den Knopf drückt und damit eine Atomrakete losschickt. Ein Atomkrieg könnte aus böswilliger Absicht ausgelöst werden. Hitler war ebenso wenig einzigartig wie andere Diktatoren mit ihren Allmachtphantasien. Wir müssen aufpassen, dass wir Hitler – oder Stalin oder Putin – nicht allzu sehr vereinzeln, als wäre der Kontext, in dem Diktatoren ihre scheinbar absolute Macht ausüben, unwichtig. Hitler wurde auch von den Eliten des deutschen Reichs gefördert. Am Krieg verdienten die Waffenschmiede aller Welt, die schweizerischen inklusive. Über den politischen und wirtschaftlichen Kontext, in dem sich der Putinismus entwickelte, ist viel geschrieben worden.
Der Krieg in der Ukraine ist das Ergebnis einer fortwährenden Aufrüstung seit Jahrzehnten. Er ist die Folge davon, dass sämtliche modernen Gesellschaften weiterhin einer militärischen Logik folgen, die seit 1945 im Grunde völlig unhaltbar geworden ist. Wie sehr hat man sich an eine seltsame Logik gewöhnt: Dank „der Bombe“, welche die weltweite Vernichtung zur Folge hätte – durch kriegerische Zerstörung, durch nuklearen Winter und unvorstellbare Hungersnöte – habe es keine Kriege zwischen den Grossmächten und also auch keinen Atomkrieg gegeben. Aber die Drohung mit der Atombombe wirkt nur, wenn beide Seiten überzeugt sind, dass die andere Seite die Bombe tatsächlich einsetzen würde. Warum man denn die Bombe habe, wenn man nicht bereit sei, sie einzusetzen, fragte Trump, mit brutaler Naivität.
Der Krieg in der Ukraine ist im Weiteren eine Folge davon, dass zu spät erkannt wurde, welche Bedeutung nationale und persönliche Allmachtphantasien haben, wie gefährlich es ist, wenn Macht nicht demokratisch geteilt wird. Zu viele haben Putin bewundert. Zu viele lassen sich von den Vorteilen autoritärer, undemokratischer Gesellschaften überzeugen. Zu viele haben die wirtschaftlichen Interessen vorangestellt. Ich kritisiere die militärische Logik. Aber in dieser Logik sind wir momentan gefangen. Es ist schwierig, die bewaffneten Kämpfer und Kämpferinnen in der Ukraine nicht zu bewundern, sie nicht zu unterstützen, was zugleich der Aufforderung zum Heldentod gleichkommt. Es besteht ja eine Möglichkeit, dass ein schlecht laufender Eroberungskrieg das Ende von Putin besiegeln könnte. Ist es deshalb aber richtig, wenn die Agonie der ukrainischen Bevölkerung verlängert wird? Oder müsste, um der militärischen Logik eine andere Logik entgegenzusetzen, ein Verhandlungsfriede angestrebt werden, der allerdings fragwürdige Kompromisse auf der ukrainischen Seite bedingen würde?
„I want you to panic“, rief Greta Thunberg den Mächtigen dieser Welt zu. Wir haben tatsächlich zu wenig Angst, vor der Klimakatastrophe – aber auch vor einem weltweiten atomaren Krieg. Es ist wichtig, dass wir uns fürchten, dass wir uns der Möglichkeit und der Folgen eines weltweiten Krieges bewusst sind. Aber zu viel Angst führt dazu, dass die Angst abgewehrt, dass sie verdrängt und verleugnet wird. Man muss dieser atomaren Realität deshalb eine „umfassende Friedenspolitik“ entgegensetzen. Es zeigte sich allerdings bei der ersten GSoA-Abstimmung, dass es schon damals sehr viel einfacher war, die Abschaffung der Armee zu verlangen, als zu verdeutlichen, was eine umfassende Friedenspolitik hätte sein sollen. Der zweite Teil der Initiative aber war und ist entscheidend. Der zweite Teil der Initiative ist viel radikaler. Da geht es auch um globale ökonomische Ungleichheit, um radikale Demokratie, um strukturelle Gewalt, um eine ganz andere „Weltbeziehung“ im Sinne von Hartmut Rosa. Vor allem und vorerst braucht es eine radikale Abrüstung. Die jetzt im Gefolge des Kriegs in der Ukraine beabsichtigte Aufrüstung verschlingt zudem Unsummen von Geld, das andernorts fehlt: bei den Armen dieser Welt, bei der Bewältigung der Klimakatastrophe. Man muss mit allen möglichen politischen und wirtschaftlichen Massnahmen dem nationalistischen Grossmachtsanspruch von Putins Russland entgegentreten. Die zugrunde liegende Haltung muss aber von einem langfristigen und unbedingten Friedenswillen getragen sein. Die Idee einer Schweiz ohne Armee ist Putins wegen nicht überholt – im Gegenteil.
Zur Person: Prof. em. Fitzgerald Crain war Dozent an der Universität Basel und Professor an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz mit dem Schwerpunkt psychoanalytische Pädagogik und Praxisberater in Kinder- und Schulheimen.
Kategorie | Kommentar