Editorial
Im Jahre 2016 findet in der Schweiz die Abstimmung über die Volksinitiative ›Für ein bedingungsloses Grundeinkommen‹ statt. Die Volksinitiative will – wie ihr Name sagt – den schweizerischen Staat dazu verpflichten, der gesamten Bevölkerung ein bedingungsloses Grundeinkommen auszurichten.
Das Thema polarisiert wie kaum eine andere sozialpolitische Idee und löst eine intensive Debatte über den Wert der Arbeit aus, über Wachstum und Konsumgesellschaft, über prekäre Lebensverhältnisse in einem der reichsten Länder der Welt und nicht zuletzt über das Recht auf ein würdiges und erfülltes Leben jenseits der Verwertbarkeit der Arbeitskraft für die Vermehrung von Kapital.
Die Befürworter führen an, dank einem BGE könne niemand mehr zu prekärer Arbeit gezwungen werden. Dank dem BGE könnten sich Menschen denjenigen Tätigkeiten widmen, die ihnen am sinnvollsten erscheinen und ihnen am meisten Befriedigung bieten. Die Befreiung von entfremdeter, prekärer oder gar verknechtender Arbeit steigere die Arbeitsmotivation und die Wirtschaft könne von freigesetzten Innovationsimpulsen profitieren. Menschen, die unbezahlte Arbeit leisten, würden endlich die notwendige finanzielle Unabhängigkeit erhalten und schliesslich könne man davon ausgehen, dass die zivilgesellschaftlichen, demokratischen Institutionen gestärkt würden, weil sich die Leute dank mehr zeitlicher und psychischer Ressourcen stärker engagieren können. Menschen, die am Rand oder unter dem Existenzminimum leben, müssten dank dem bedingungslosen Grundeinkommen nicht mehr den schwierigen Gang zum Sozialamt antreten, Entwürdigende Zwänge und Sanktionen bei der Sozialhilfe würden entfallen und der hässlichen Debatte über Missbrauch beim Bezug von staatlichen Unterstützungsleistungen der Boden entzogen, weil ja alle das BGE beziehen.
Die Idee eines BGE zieht aber auch viel Kritik auf sich, nicht zuletzt auch aus gesellschaftspolitisch fortschrittlichen Kreisen oder aus feministischer Sicht. Für manche ist das BGE eine Falle, denn zum einen droht die Gefahr des Lohnabbaus und des Lohndumpings, weil ein Teil der Existenzsicherung ja bereits durch das BGE gesichert erscheint. Für viele FeministInnen entpuppt sich das BGE als Herdprämie und zementiert damit die Diskriminierung der Frauen, weil die Grundfesten der gesellschaftlichen, auf dem Faktor Gender basierenden Machtverteilung nicht angegangen wird. Statt bezahlte Erwerbsarbeit und die unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit auf alle zu verteilen, wird gemäss dieser Kritik mit dem BGE eine Art Ablassprämie für die Frauen installiert. Diese Kritik kann noch verallgemeinert werden: Das BGE kann auch als Ablassprämie für die Überflüssigen oder nicht Arbeitswilligen und -fähigen verstanden werden. In dieser Perspektive fördert das BGE die Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die weiterhin Erwerbsarbeit leisten und diejenigen, die nur noch das tun, was ihnen ›Spass macht‹.
Zu Sorgen Anlass gibt auch die Einschätzung, dass die heutigen Sozialversicherungen durch die Einführung eines BGE Gefahr laufen abgeschafft zu werden resp. im Bereich der überobligatorischen Leistungen privatisiert und der Logik der Gewinnmaximierung unterstellt zu werden.
Ebenso ins Gewicht fällt das Risiko des Abbaus der immateriellen sozialen Unterstützungsleistungen. Das ist besonders gravierend für diejenigen Menschen, deren Unterprivilegierung nicht nur im Mangel an materiellen Gütern besteht. Ihnen mangelt es oft an Ausbildung, beruflicher Qualifikationen und Sozialkontakten. Auf immaterielle Leistungen sind auch diejenigen Menschen angewiesen, die aufgrund von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall von körperlichen, geistigen und psychischen Beeinträchtigungen betroffen sind.
Ein weiterer Kritikpunkt fokussiert auf die finanziellen Aspekte des Unterfangens. Kritisch ist die Tatsache, dass die Initiative keine Aussage zur Höhe des BGEs macht, 9 obwohl diese Definition von grösster Wichtigkeit für die Beurteilung des Vorhabens ist. Auch zur Frage der Finanzierung macht die Initiative keine Aussage. Beide Aspekte werden auf die Ebene des Gesetzgebers verschoben. In Diskussionsbeiträgen – aber nicht in der Initiative – wird pro erwachsene Person ein BGE von CHF 2500 pro Monat vorgeschlagen. Damit entstehen jährliche Kosten von gut 200 Milliarden Franken, von denen (nach Querabgleichen mit Einsparungen bei Löhnen und Sozialversicherungen) eine geschätzte Finanzierungslücke von rund 20 Milliarden verbleibt, wenn das Niveau der Einkommen aus Löhnen und Sozialversicherungen erhalten werden soll. Auf diese Schätzung kommen die AutorInnen eines von den BGE-Befürwortern herausgegebenen Buches (Bien Schweiz, 2010). Angesichts dieses nicht unerheblichen Betrages interessiert natürlich, wie dieser Ausgabenposten auf der Einnahmenseite kompensiert werden soll. Von Seiten der Befürworter wird oft eine Erhöhung der Mehrwertsteuer genannt, was auf Seiten der Linken zu breiter Ablehnung führt, denn die Mehrwertsteuer als lineare Konsumsteuer ist im Vergleich zu progressiv gestalteten Einkommens- oder Vermögenssteuern und zu proportionalen Sozialabgaben (AHV/IV/EO) unsozial. Würden die Vorstellungen der InitiantInnen zur Finanzierung umgesetzt, so käme es wohl zu einer erheblichen Umverteilung von unten nach oben – und nicht etwa umgekehrt.
Die vorliegende Publikation widmet sich diesen Fragen indem sie die Diskurslandschaft rund um das BGE breit auffächert. Sie ist denn auch keine Einladung für einen vorschnellen Positionsbezug pro oder contra BGE. Vielmehr will sie mithelfen, die Diskussion informiert zu führen, die Potentiale wie auch die Gefahren sachlich abzuwägen und die fortschrittlichen Impulse, die mit dem BGE verbunden werden, aufzunehmen.
Im ersten Kapitel geht es um die ›grossen Fragen‹, die an sozialpolitische Projekte gestellt werden müssen. Gibt es dank dem bedingungslosen Grundeinkommen mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Inklusion? Die Antworten fallen erwartungsgemäss zweideutig aus. Das führt zum Inhalt des zweiten Kapitels, das den Titel trägt: ›Eine Vision vor dem Diebstahl retten‹. Da geht es zuerst einmal um eine Reflexion des Begriffes der Bedingungslosigkeit. Kann es im Rahmen sozialer Systeme und im gesellschaftlichen Zusammenleben überhaupt so etwas wie Bedingungslosigkeit geben? Der zweite Beitrag fragt nach den Bedingungen, die an ein bedingungsloses Grundeinkommen zu stellen wären, wenn es denn ein fortschrittliches, emanzipatives Projekt sein soll, das tatsächlich einen Beitrag zu mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Inklusion leistet. Das dritte Kapitel steht unter dem Titel ›Den emanzipativen Impuls weiter denken‹. Bedingungslose Existenzsicherung heisst mehr als ›nur Geld‹, es heisst auch bedingungslose Sicherung der gesellschaftlichen Infrastruktur. Und letztlich ist es gleichbedeutend mit dem Bekenntnis zur Care Gesellschaft, zu der es – so unsere AutorInnen – keine verantwortbare Alternative gibt. Das vierte und letzte Kapitel des Buches lädt schliesslich dazu sein, Modelle zu diskutieren, die als (Teil-)Konkretisierungen des bedingungslosen Grundeinkommens verstanden werden können und die wir mit dem Begriff des Mosaik-BGE einfangen.
Nach wie vor gilt, was Heisenberg, der bekannte Physiker, formulierte: »Die Ideen sind nicht verantwortlich für das, was die Menschen aus ihnen machen«. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens kann deshalb auch nicht ›einfach so‹ gewürdigt werden, es kommt auf ihre Umsetzung in konkreter Zeit und konkretem politischem Raum an. In diesem Sinn ist der Weg dorthin alles andere als voraussetzungsfrei und eben nicht bedingungslos. Das Ziel hingegen dient uns als sicherer Kompass: Ein würdiges Leben für alle, hier und weltweit. Eben: Würde – bedingungslos. Das vorliegende Buch ist dank vieler Diskussionen im Rahmen des Denknetzes zustande gekommen, insbesondere im Rahmen der Fachgruppe Sozialpolitik. Die Herausgeberin und die Herausgeber danken allen, die mitgedacht und mitgeschrieben haben.
Ruth Gurny, Beat Ringger, Ueli Tecklenburg
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Cover
AutorInnen
Ruth Gurny, Beat Ringger, Ueli Tecklenburg, Cordula Bieri, Saskia Jäggi, Ueli Mäder, WIDE-AutorInnengruppe, Bettina Wyer, Denknetz Fachgruppe Sozialpolitik, Silvia Domeniconi, Iris Bischel
ISBN
Redaktion: Ruth Gurny, Beat Ringger, Ueli Tecklenburg; Würde, bedingungslos: Wie die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen fruchtbar gemacht werden kann; ISBN 978-3-85990-273-2; Verlag: edition 8, Quellenstr. 25, 8005 Zürich
Medientext
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