Die Schweiz unschädlich machen
Oder: Was wir auf dem Weg in die Zukunft verändern
15.05.2024 | Die Schweiz bietet Postkartenidylle von Arosa bis Zermatt und ist stolz auf ihre «humanitäre Tradition». Aber machen wir uns nichts vor, die Schweiz ist auf vielfältige Weise vor allem auch schädlich. Also bleibt nur eines: Sie sollte unschädlich werden! Ein Essay zu 20 Jahren Denknetz.
Im vom Mondschein bleich getünchten Zimmer liegt Helvetia schlaflos im Bett und reibt sich mit ihren grossen Händen die müden Augen. Wie so oft denkt sie über morgen nach, wenn sie den Schlaf verliert und an die milchig weisse Zimmerdecke starrt. «Verdammt, genug jetzt. Das muss doch alles irgendwie anders werden», fährt sie den Mond an. «100 Millionen für die Minenräumung in der Ukraine und dann für knapp 700 Millionen Kriegsmaterial exportieren? Das kann es doch nicht sein.» Gerade als das Zolpidem zu wirken beginnt, fragt sie noch in die Stille der Nacht hinein: «Wie kann ich denn nur mehr Verantwortung übernehmen? Die Welt weniger kaputt machen?» Aus dem Dämmerschlaf hören wir sie wieder und wieder murmeln: «Ich muss unschädlich werden. Unschädlich werden. Unschädlich werden …»
Unschädlichkeit als Fortschritt
In «Die überflüssige Schweiz»1 kam das Denknetz vor zehn Jahren zum Schluss, dass das Land im Würgegriff der neoliberalen Businessklasse und fremdenfeindlich-reaktionären Politik der SVP Gefahr läuft, überflüssig zu werden. Sie stimmen uns vielleicht zu, dass dieses Fazit – leider – noch immer Gültigkeit hat; aber auch, dass es in den vergangenen zehn Jahren zu einer Zuspitzung und Verschränkung der diversen Krisen gekommen ist. Insbesondere die rasante Klimaerhitzung schreckt auf und es fällt uns vielleicht allen schwer, nicht in eco-anxiety2 zu erstarren.3
Vor diesem Hintergrund wollen wir in diesem Essay zu 20 Jahren Denknetz über die in der Schweiz vorherrschende Produktions- und Lebensweise – Ulrich Brand und Markus Wissen nennen sie «imperial»4 – und ihre zerstörerischen Folgen nachdenken.
Halten wir gleich zu Beginn fest: Wir leben auf Kosten anderer und der Natur. Aber die Verantwortlichkeiten für diese Existenz auf Pump sind nicht gleichmässig verteilt. Auch in Bezug auf die Schädlichkeit unseres Lebens gibt es grosse Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen den Mächtigen und den weniger Mächtigen. Allerdings kommt wohl keine:r um die Einsicht herum, die Nikolaj Schultz, ein enger Mitarbeiter des 2022 verstorbenen Bruno Latour, in «Landkrank» beschreibt:
«Mein Tun hat Auswirkungen an Orten, an denen ich niemals gewesen bin und die zu besuchen mir wahrscheinlich auch nie in den Sinn gekommen wäre. Es betrifft Menschen, denen ich niemals begegnet bin und deren Leben ich mir allenfalls vage vorzustellen vermag. Aber ich bin da, mitten in ihrem Leben, und nehme Einfluss auf ihre Möglichkeiten zu essen, zu trinken, zu atmen und zu leben. Und das alles wegen meines Daseins, meiner Freiheit und meiner Lebensweise.»5
Wir fragen uns darum in diesem Text, wie die Schweiz und ihre mittlerweile über neun Millionen Einwohner:innen möglichst wenig Schaden anrichten können – zu Hause und anderswo. Das ist – selbstverständlich nicht nur für die Schweiz – eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit: Wie werden wir unschädlich? Und zwar gegenüber allem Leben auf der Erde; gegenüber all unseren Mitmenschen innerhalb und ausserhalb (national-)staatlicher Grenzen.
Die Schweiz unschädlich zu machen bedeutet nicht, sie oder uns, die wir in der Schweiz leben, von der Landkarte zu tilgen oder verschwinden zu lassen. Unschädlich machen heisst vielmehr transformieren: hin zu einer zukunftsfähigen Schweiz, hin zu nachhaltigen Produktionsweisen, hin zu unschädlichen Lebensweisen. Unschädlich machen und werden als wesentliche Bestandteile einer kollektiven Polykrisenkompetenz. Eine Kompetenz, die uns erlaubt, die Schweiz auf die sich verändernden Verhältnisse vorzubereiten, uns anzupassen, zur resilienten Gesellschaft zu werden.6 Es geht darum, als Gesellschaft ein neues, «unschädlicheres» Verständnis von Freiheit zu entwickeln und zu etablieren.7 Und es heisst, solidarisch zu sein, Verantwortung zu übernehmen und zum Motor eines globalen Wandels zu werden.
Der politische Kampf gegen die Schädlichkeit ist letzten Endes ein Kampf für eine nachhaltige Ausrichtung des menschlichen Wirkens auf diesem Planeten. Der Soziologe und Erziehungswissenschaftler Fritz Reheis spricht in Bezug auf «ernst gemeinte» Nachhaltigkeit von einem klugen, die Zeitdimension berücksichtigenden Umgang mit der Umwelt, der Mitwelt und der Innenwelt.8 «Nachhaltigkeit zielt auf den Frieden – mit der Natur, den Mitmenschen und sich selbst», so Reheis.9
In einem solchen Verständnis ist «Unschädlichmachen» auch eng mit einer neuen Definition von «Fortschritt» verbunden. Fortschritt wird aus Sicht des globalen Nordens meist mit dem – über lange Zeit durchaus erfolgreichen – Streben nach wirtschaftlichem Wachstum, technologischen Errungenschaften und Wohlstand verbunden. Heute kennen wir die diversen blinden Flecken, die dieser Sichtweise seit jeher innewohnen. Rahel Jaeggi findet darum in ihrem neuesten Buch einen anderen Zugang zur Fortschrittsthematik.10 Sie denkt ihn nicht als Fortschritt «hin zu» einem bestimmten gesellschaftlichen Ziel, sondern als Fortschritt «weg von» einem bestimmten Problem oder Missstand. Jaeggis Auffassung von Fortschritt ist nicht substanziell (abgeleitet von einer vorab bestimmten Vorstellung des «Guten»), sondern prozessual. Fortschritt lässt sich demzufolge nicht von einem utopischen Ende (wie dem Kommunismus) her denken oder beurteilen. Vielmehr ist er «eine bestimmte Weise, auf Krisen zu reagieren und Probleme zu bewältigen».11
Von Fortschritt kann gemäss Jaeggi dann die Rede sein, wenn eine Krise in einem sich durch gemeinsames Lernen und Erfahren anreichernden Prozess bewältigt wird. Ein auf diese Weise verstandener Fortschritt ist, so heisst es an einer Stelle, «der nie abgeschlossene Prozess der Emanzipation».12 Wenn das Unschädlichmachen – zumindest teilweise – gelingt, ist das Fortschritt. Insbesondere dann, wenn wir dabei die überkommenen, dem schädlichen Leben zugrunde liegenden Normen und moralischen Prinzipien, also unseren Bezugsrahmen, verändern und an die aktuellen Herausforderungen anpassen. Ob ein solcher Fortschritt tatsächlich erkämpft werden kann, ist keineswegs sicher. Auch die Regression ist eine Option. Jaeggi versteht Regression als Gegenbegriff zum Fortschritt, als systematisch blockierten Problemlösungsversuch. Angesichts der gegenwärtigen Polykrise keine unwahrscheinliche Option: Weltweit aufkeimender Faschismus, Nationalismus, «Migrationsabwehr» oder die einseitige Fokussierung auf einen «grünen Kapitalismus» stehen als reale Gefahren dafür.
Die schädliche Schweiz
Die Schweiz ist fester und trotz ihrer Kleinheit wichtiger Bestandteil des globalen kapitalistischen Räderwerks. Auf vielfältige Weise trägt auch sie zu diesem schädlichen und letztlich «kannibalischen» System bei.13 Wie die Philosophin Nancy Fraser zeigt, treibt das nimmersatte Kapital nicht nur auf der relativ gut ausgeleuchteten Hauptbühne die Ausbeutung der Lohnarbeit und die Unersättlichkeit der Finanzmärkte an. Quasi im Hintergrund und als Fundament immenser Profite kannibalisiert der Kapitalismus den ganzen Bereich der sehr oft von Frauen verrichteten Sorgearbeit. Dabei zerstört der Kapitalismus relativ unbekümmert die natürlichen Grundlagen des Lebens auf unserem Planeten. Er enteignet, übt Gewalt aus, befeuert den Rassismus. Nicht zuletzt untergräbt der Kapitalismus auch die real existierenden Demokratien, weil er ihnen wesentliche Gestaltungsspielräume entzieht. Es sind diese strukturellen Schädlichkeitsmuster des Kapitalismus, die massgeblich zur heutigen Polykrise beitragen, an ihrem Ursprung stehen.
Und die Schädlichkeit der Schweiz? Sie leitet sich eben zu grossen Teilen aus ihren politökonomischen Strukturen, den in der Schweiz vorherrschenden Produktions- und Lebensweisen und den politischen Mehrheitsverhältnissen im Land ab. Die Schädlichkeit der Schweiz äussert sich in ihrem ökologischen Fussabdruck, der 2,5-mal über der Biokapazität der Welt liegt. Sie zeigt sich darin, dass in der Schweiz die Hälfte der Lebensräume und ein Drittel der Arten bedroht sind, darin, dass der Rückgang der Artenvielfalt auf allen Ebenen der Biodiversität anhält.
Die hiesige Schädlichkeit widerspiegelt sich in der Tatsache, dass unter den reichsten 1 Prozent in der Schweiz jede Person jährlich für die Freisetzung von durchschnittlich 195 Tonnen CO₂ verantwortlich ist und die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung die Umwelt stärker verschmutzen als die 50 Prozent der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen. Die Schädlichkeit der Schweiz zeigt sich ebenso darin, dass die Konzentration der grossen Vermögen in der Schweiz immer extremer wird und gleichzeitig Hunderttausende Menschen im Land von Armut betroffen sind.
Die Schweiz ist schädlich, weil sie in der Schweiz ansässige Konzerne wie Glencore völlig verantwortungslos wirtschaften lässt und niemand dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Vom weltweit wichtigsten Handelsplatz für Rohstoffe praktiziert, ist der schädliche Einfluss solcher Schweizer Praktiken kaum zu überschätzen.
Schädlichkeit entsteht aber auch dadurch, dass in der Schweiz rund ein Viertel der Bevölkerung ohne Bürgerrecht ist und damit nicht demokratisch partizipieren kann. Sie manifestiert sich im Befund der letzten Pisa-Studie, dass die Bildungsungerechtigkeit in der Schweiz weiter zu- statt abnimmt.
Wie machen wir die Schweiz unschädlich?
Wie lässt Sie diese, bei Weitem unvollständige, Auflistung zurück? Wie fühlen Sie sich jetzt gerade? Wichtig scheint uns, dass wir uns gemeinsam entscheiden (wo uns dieses Privileg offensteht), nicht in der Frustphase steckenzubleiben, uns nicht ob all der Krisen in die Ohnmacht flüchten, nicht ob all der Schädlichkeit die Hoffnung verlieren. Vielmehr denken wir, dass wir fähig sind oder werden müssen, auf bestehende Rezepte zurückzugreifen und neue Ideen zu entwickeln, um den Weg in eine unschädliche Zukunft für uns alle zu finden.
Denken wir gemeinsam ein bisschen über diese Zukunft nach. In diesem Essay in Form einer unfertigen Skizze. In unserem Jubiläumsband, der kommenden Herbst erscheint, mit Hilfe von Aktivist:innen, Expert:innen, Politiker:innen und vielleicht Ihnen in vertiefter Form (siehe Box).
Der Weg in die unschädliche Zukunft für alle ist für uns zwingend ein demokratischer. Nur demokratisch verfasste Gesellschaften sind zu kollektivem Lernen, zu Fortschritt im Sinne Jaeggis, fähig. Die Demokratie ist unser Problemlösungsmechanismus zur Bewältigung der globalen Polykrise, «demokratisches Unschädlichmachen» ist die einzige Option. Allerdings braucht eine unschädliche, eine wirklich nachhaltige Gesellschaft auch eine andere Demokratie als die, die wir gegenwärtig haben. Die liberale Version gelangt an ihre Grenzen. Wir erachten die Ausweitung und Vertiefung von Demokratie deshalb als unabdingbar.
Von zentraler Bedeutung erscheint uns die Demokratisierung der wirtschaftlichen Sphäre. Es braucht eine stärkere Rolle des demokratischen Staates, der sein Handeln konsequent auf den sozial-ökologischen Umbau des «Wohlfahrtsstaatskapitalismus» ausrichtet. Dazu muss er nach Jahrzehnten des Neoliberalismus für mehr Rückverteilung sorgen und dieses Geld grosszügig investieren. Er muss den Unternehmen Leitplanken setzen und Investitionen steuern. Er wird Verbote und Rationierungen sozial gerecht durchsetzen müssen. Er muss also – davon hängt letztlich alles ab – in die privaten Eigentumsverhältnisse eingreifen, das Interesse des Gemeinwohls und des Planeten über die Interessen des Kapitals stellen.
Unschädlich machen ist eine kollektive Aufgabe. Wir müssen lernen, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Wir brauchen mehr Demokratie, also mehr Partizipation und Mitbestimmung, in den Unternehmen, vielleicht auch neue demokratische Verfahren und Institutionen wie Bürger:innenräte und ganz sicher auch mehr demokratische Mitbestimmungsrechte für das Viertel der Schweizer Bevölkerung ohne Bürgerrecht.
Neben der Notwendigkeit einer vertieften Demokratie, erreichen wir Unschädlichkeit auch durch:
Unschädlichkeit durch Dekarbonisierung
Mit dem Protokoll von Montreal gelingt 1987 das «vielleicht erfolgreichste internationale Einzelabkommen», mit dem sich 196 Länder und die EU verpflichteten die Produktion von Fluorchlorkohlenwasserstoffen zu halbieren, um das 1985 bestätigte Ozonloch zu reparieren. Inzwischen (und einige Folgeabkommen später), gehen Expert:innen davon aus, dass sich unsere Ozonschicht bis 2066 komplett erholt, auch über der Arktis und Antarktis. Auf dem Weg in die Unschädlichkeit stehen wir in Zeiten der Klimakrise wiederum vor der globalen Aufgabe, die Emission schädlicher Treibhausgase (auch mittels internationaler Zusammenarbeit) zu minimieren.
Die Dekarbonisierung, also die Reduktion von CO2-Emissionen dank dem Ausbau von erneuerbaren Energien, der Steigerung der Energieeffizienz sowie der Abkehr von fossilen Energieträgern, halten wir für die grösste und dringendste Aufgabe unserer Zeit. Technische Diskussionen diesbezüglich finden anderswo statt, wir wollen festhalten, dass es für tatsächliche Unschädlichkeit eine in unserem Verständnis sozialverträgliche Transformation braucht und dass auch ein Wandel sozialer Praktiken mitgemeint ist, der nur kollektiv gelingt.14 Forschung zeigt auch immer wieder, wie wichtig Gewerkschaften sind, wenn es darum geht, negative Auswirkungen von Dekarbonisierungsmassnahmen abzufangen – sie sollten darum aktiv einfordern, am Tisch zu sitzen, wenn sie diskutiert werden.15
Unschädlichkeit durch Kreisläufe
Wie können wir uns als Gesellschaft und Teil der natürlichen Kreisläufe so organisieren, dass wir möglichst unschädlich sind?
Im diesjährigen Jahrbuch des Denknetz, das dieser Tage erscheint, machen wir uns beispielsweise für Transformationsagenturen stark, die sicherstellen sollen, dass zumindest die Kreislaufwirtschaft nicht zu einer neuen Variante des Greenwashings verkommt, sondern sie zu «einem der zentralen, unhintergehbaren Prinzipien ökonomischer und gesellschaftlicher Gestaltung»16 wird. Die Agenturen sollen Teil des Service publics werden und die Koordination und Steuerung von Wirtschaftskreisläufen zur Aufgabe haben. Ein weiteres Beispiel für eine solche Transformationsagentur findet sich im Denknetz-Modell «Klimabank – Klimaagentur», die einen ökologischen Umbau von Energieversorgung und Gebäuden um ein Vielfaches beschleunigt werden sollen.
Unschädlichkeit durch andere Mobilität
Mobilität ist eine wichtige Form von Freiheit, zweifellos. In ihrer heute in Ländern wie der Schweiz vorherrschenden Form hat sie aber keine Zukunft. Von einer «Bleibefreiheit», die es zu entdecken gilt, schreibt die Philosophin Eva von Redecker.17 Weniger Mobilität ist ein Weg – auf jeden Fall aber braucht es eine andere Mobilität. Also endlich eine wirksame Reduktion des motorisierten Individualverkehrs, auch in seiner elektrifizierten Form und vor allem auch gegen Widerstand. Vielleicht tatsächlich Flüge rationieren sowie Inlandsflüge und Privatflugzeuge verbieten. Ganz sicher kein Ausbau von Autobahnen und Flughäfen. Stattdessen den öffentlichen Verkehr und Langsamverkehr konsequent fördern, intelligente Mobilitätskonzepte und Kombi-Angebote durchsetzen, bei der Stadtentwicklung auf kurze Wege und lebendige Quartiere achten. Und dann schon auch selbst damit beginnen, unschädlicher zu werden, etwa lieber «terran» unterwegs sein als im Flugzeug.
Unschädlichkeit durch soziale Gerechtigkeit
Ein Zukunftsprojekt kann nur ein linkes sein, wenn es für alle ist und alle auf dem Ritt ins Morgen mitnimmt. Wir denken hier an weniger Armut und Prekarität, gerechtere Steuerpolitik und mehr Rückverteilung, aber auch Wohnen, Partizipation, Teilhabe und soziale Sicherheit für alle.
Als eine Leitplanke eignet sich hier vielleicht die Idee der Allgemeinen Erwerbsversicherung, wie das Denknetz sie im Büchlein «Für alle und für alle Fälle» vorstellt: Eine Versicherung, die alle Erwerbstätigen (auch bisher nicht berücksichtigte Kategorien wie selbstständig Erwerbende oder Sans Papiers) und alle Arten von Erwerbsausfall bis zur Pensionierung abdeckt.
Auch durch mangelhafte Rückverteilung aufgrund ungerechter Steuerpolitik und Erbschaftssteuern wird viel Schaden angerichtet, nicht zuletzt weil die Konzentration von Vermögen bei einigen wenigen es diesen wieder und wieder erlaubt das demokratische System auszuhebeln.18
Unschädlichkeit durch Bildung
Unschädlich werden ist beileibe kein Selbstläufer, es muss gelernt werden. Eine Art «Polykrisenkompetenz» zur Stärkung individueller und gesellschaftlicher Resilienz – das ist es, was Bildung heutzutage eben auch vermitteln muss. Bereits in der Volksschule, einer der wenigen Institutionen, die Kinder und Eltern aus den unterschiedlichsten Schichten und Milieus zusammenbringt und erreicht, sollte eine solche transformative Bildung ausgebaut werden.
Mehr «Bildung für nachhaltige Entwicklung» (siehe etwa die Angebote von éducation21) macht uns zukunftsfähiger als ein zunehmend einseitiger Fokus auf MINT-Fächer im Interesse «der Wirtschaft». Mehr Partizipationserfahrungen ermöglichen und mehr Bildungsgerechtigkeit sind für eine unschädliche Schweiz wichtiger als noch mehr Exzellenzinitiativen, Konkurrenz- und Leistungsdenken.
Unschädlichkeit durch internationale Kooperation und Verantwortung
Die Schweiz unschädlich machen ist kein nationalistisches Rückzugsprojekt – im Gegenteil! Die globale Polykrise verlangt nach globalen Antworten, nach global koordinierter Politik. Eine unschädliche(re) Schweiz ist eine Schweiz, die mehr internationale Verantwortung übernimmt. Eine Schweiz, die sich nicht hinter ihrer Neutralität versteckt. Eine Schweiz, die Europa und die Welt aktiv mitgestaltet. Eine Schweiz, die dafür sorgt, dass «ihre» global tägigen Konzerne verantwortungsbewusst wirtschaften. Eine Schweiz, die sich als Teil der Weltgemeinschaft für solidarische und nachhaltige Lösungen auf einem sich erhitzenden Planeten einsetzt.
Unschädlichkeit durch Care
Für was wollen wir in Zukunft Zeit haben? Damit wir diese Frage möglichst frei von kapitalistischen und patriarchalen Zwängen reflektieren können, brauchen wir eine Aufwertung von Sorgearbeit und gleichzeitig auch möglichst schnell eine Erwerbsarbeitszeitverkürzung – im Denknetz denken wir immer wieder über diese Zusammenhänge nach, gerade jetzt wieder in einem Kapitel in unserem aktuellen Jahrbuch.
Unter Care verstehen wir auf dem Weg in eine unschädliche Welt aber auch, dass wir Zeit füreinander haben und dafür, füreinander zu sorgen. Wie wir im Jahrbuch schreiben, ist gerade auch in (persönlich und kollektiv) schwierigen Zeiten Care in einem solchem Sinne nicht apolitische Wohlfühlpraktik, sondern Ausdruck und Quelle von Widerstand.19
Unschädlichkeit durch andere Arbeit
«Stop hating Monday. Be a professional and hate the whole week», schreibt @Jessx_09 auf X und befeuert damit vielleicht einen weiteren der unzähligen Zeitungsartikel, in denen über die Gen Z geklagt wird, die ihre mentale Gesundheit höher werte als ihre Erwerbsarbeit. Die Arbeitsunwilligkeit der zwischen 1996 und 2012 geborenen Gen Z, die seit relativ kurzer Zeit am Arbeitsmarkt partizipiert, ist aber doch nur folgerichtig, wenn wir bedenken, wie schleppend es gerade in der Schweiz mit Mindestlöhnen, Arbeitszeitverkürzung, Mitbestimmung am Arbeitsplatz und anderen Massnahmen, die Arbeit weniger schädlich machen würden, vorangeht.
Es ist nicht so, dass es an politischen Forderungen, theoretischen Modellen oder auch praktischen Erfahrungen mit unschädlicheren Arbeitsverhältnissen mangeln würde – auch wenn Letztere oftmals eher in Nischen als «reale Utopien»20 gelebt werden. Wirtschaftsdemokratische Konzepte, Gesamtarbeitsverträge, die lange Geschichte der Genossenschaften, aber auch Organisationsmodelle wie die Soziokratie oder Unternehmen, die von sich aus auf eine Vier-Tage-Woche setzen, stehen dafür.21
Nie auseinander gehen
In Zeiten der globalen Polykrise verstehen wir das Unschädlichmachen in Anlehnung an Rahel Jaeggi als Fortschrittsperspektive. Ob und inwieweit damit verbundene Problemlösungsprozesse gelingen und tatsächlich als Fortschritt gewertet werden können, ist eine offene Frage. Sicher ist, dass diese Prozesse konfliktiv sein werden und es zu politischen Auseinandersetzungen zwischen progressiven und regressiven Kräften kommen wird.
Auf progressiver Seite sehen wir die grosse Herausforderung darin, die verschiedenen emanzipatorischen Anliegen zu verbinden, statt sich in die jeweils eigene Bubble zurückzuziehen. Wir sind mit Nancy Fraser einig, dass es die vorherrschende kapitalistische Weltordnung ist, die soziale Ungerechtigkeiten, ökologische Zerstörung, Rassismus und die Untergrabung der Demokratie strukturell antreibt. Die konkreten Auseinandersetzungen gegen die vielschichtige Schädlichkeit des Systems und der Akteur:innen, die davon profitieren, müssen darum in einen gemeinsamen Kampf gegen diese Strukturen münden. Die unschädliche Schweiz, die unschädliche Gesellschaft, sie liegt jenseits des Kapitalismus, sie liegt bei uns allen und wir sind bereit, sie gemeinsam mit Ihnen zu denken und einzufordern.
Autor:innen | Nadja Mosimann ist Geschäftsführerin des Denknetz; Pascal Zwicky ist wissenschaftlicher Sekretär des Denknetz.
Weitere Beiträge in dieser Reihe:
Kategorie | Essay
Fussnoten
1. Denknetz: Die überflüssige Schweiz, Zürich 2014.
2. Albrecht, Glenn: Chronic Environmental Change: emerging «Psychoterratic» Syndromes, in: Weissbecker, Inka (Hrsg.): Climate Change and Human Well-Being: Global Challenges and Opportunities, New York 2011, S. 43–56.
3. Für eine Zusammenfassung des Konzepts der Polykrise siehe Zwicky, Pascal: Die Polykrise als historisch neuartige Situation, in: Franzini, Luzian/Mosimann, Nadja/Ringger, Beat/Zwicky, Pascal (Hrsg.): Noch Hoffnung? Von den Möglichkeiten der Solidarität im Wirbel von Krisen, Zürich 2024, S. 13–22.
4. Brand, Ulrich/Wissen, Markus: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München 2017.
5. Schultz, Nikolaj: Landkrank, Berlin 2024, S. 22.
6. Bendell, Jem/Read, Rupert (Hrsg.): Deep Adaptation: Navigating the Realities of Climate Chaos, Cambridge/Medford 2021; Folkers, Andreas: Nach der Nachhaltigkeit. Resilienz und Revolte in der dritten Moderne, in: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaften 2/2022, S. 239–262.
7. Schultz: Landkrank, S. 53 ff.; Redecker, Eva von: Bleibefreiheit, Frankfurt a. M. 2023.
8. Reheis, Fritz: Erhalten und Erneuern. Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht, Hamburg 2022.
9. Ebd., S. 19.
10. Jaeggi, Rahel: Fortschritt und Regression, Berlin 2023.
11. Ebd., S. 11.
12. Ebd., S. 12.
13. Fraser, Nancy: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin 2022.
14. Guilbert, Alice/Sahakian, Marlyne: Ungleich in Krisenzeiten, in: Das Denknetz 14, November 2023, S. 5–7.
15. Bolet, Diane/Green, Fergus/González-Eguino, Mikel: How to Get Coal Country to Vote for Climate Policy: The Effect of a «Just Transition Agreement» on Spanish Election Results, in: American Political Science Review, 4.12.2023, S. 1–16.
16. Bub, Laurenz/Cerri, Alberto/Gallusser, Martin/Leins, Stefan/Ringger, Beat (2024): Kreislaufwirtschaft: Greenwashing oder transformatives Konzept?, in: Franzini et al. (Hrsg.): Noch Hoffnung?, S. 135–143.
17. von Redecker: Bleibefreiheit.
18. Baumann, Hans/Fluder, Robert: Verteilungsbericht 2024: Reiche Schweiz? Mehr als die Hälfte der Bevölkerung besitzt nichts oder fast nichts, in: Franzini et al. (Hrsg.): Noch Hoffnung?, S. 173–188.
19. Helena/Nadja/Zoé: Von den Möglichkeiten feministischer Hoffnung, in: ebd., S. 103–113.
20. Wright, Erik Olin: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Berlin 2017.
21. Ferreras, Isabelle/Battilana, Julie/Méda Dominique (Hrsg.): Democratize Work. The Case for Reorganizing the Economy. Chicago/London 2022; Gurny, Ruth/Tecklenburg, Ueli (Hrsg.): Arbeit ohne Knechtschaft. Bestandsaufnahmen und Forderungen rund ums Thema Arbeit, Zürich 2013.