«Der zündende Funke des Solidaritätsgedankens»: Die Rettung der Credit Suisse zwischen Notrecht und selektivem Staatsinterventionismus
30.03.2023 | «Wir sind überzeugt, dass (…) das Schweizervolk, das so oft und mit Recht nach straffer Führung ruft, nach Überwindung erster Interessenhemmungen das Verständnis für das Gebot des raschen Handelns aufbringen wird, besonders wenn ihm aus dem Beispiel von Bundesversammlung und Bundesrat, aus der grosszügigen Behandlung des Finanzproblems, das für die Zukunft des Landes von entscheidender Bedeutung ist, der zündende Funke des Solidaritätsgedankens entgegenspringt.» So begründete der Bundesrat am 2. September 1933 seinen Antrag an die eidgenössischen Räte, die Finanzpolitik des Bundes bis auf weiteres dem Referendum zu entziehen und somit dem Notrecht zu unterstellen.
Der selektive Interventionismus der Eidgenossenschaft: ein geschichtlicher Abriss
Andere Zeiten, andere Sitten? Wohl eher nicht. Denn beim Geld hört der Spass schnell auf und mit ihm auch die Hochhaltung hehrer liberaler Prinzipien wie etwa dasjenige des freien Spiels der Marktkräfte oder der strengen Trennung von Staat und Wirtschaft. Beide vor bald hundert Jahren während der bisher grössten Krise des Kapitalismus zur Anwendung gebrachten Instrumente – der Rückgriff auf Notrecht, um aus bürgerlicher Sicht als vital erachtete Landesinteressen zu schützen, beziehungswiese, sie durchzudrücken, und der massive Staatsinterventionismus zur Unterstützung des Finanzplatzes – gehören zum Grundgerüst des Staatsverständnisses des Bürgerblocks und prägten auch die Rettung der Credit Suisse qua Übernahme durch die UBS.
Dieser Beitrag versucht, die Rolle des Staates bei den jüngsten Ereignissen aus einer historischen Perspektive einzuordnen und gleichzeitig die Geschichte des, selektiven, Staatsinterventionismus der Schweiz darzustellen.
Entgegen eines hartnäckigen, vom bürgerlichen Mainstream seit Jahrzehnten genährten Mythos, war der schweizerische Bundesstaat seit seiner Gründung 1848 ein zentraler Akteur in der Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten.
Zunächst auf die Handelspolitik beschränkt, nahm dieser Interventionismus im Kontext der grossen Depression Ende des 19. Jahrhunderts neue Formen an. Die Grundlagen im Bereich der Landwirtschaft und des Gewerbes wurden gelegt. Während der Wachstumsperiode vor dem Ersten Weltkrieg waren die Verstaatlichung der Eisenbahn und die Gründung der schweizerischen Nationalbank (SNB) der deutlichste Ausdruck einer verstärkten Präsenz des Bundes in der Wirtschaft.
Mit dem Ersten Weltkrieg wurde ein wichtiger Wendepunkt erreicht. Die Landesregierung übernahm früher unbekannte Kontrollfunktionen auf dem Gebiet der parastaatlichen Regulierung des Aussenhandels. Das Krisenmanagement der Nachkriegsjahre von 1920 bis 1923 wurde seinerseits von der direkten Unterstützung dreier wichtiger Zweige der schweizerischen Wirtschaft durch den Bund geprägt: Hotellerie, Stickereiindustrie und Landwirtschaft.
Während der Krise der 1930er-Jahre erlebte dies Politik eine nachhaltige Verschärfung. Der damals praktizierte selektive Staatsinterventionismus sollte die Schweiz bis in die 1990er-Jahre prägen. Die Eidgenossenschaft beteiligte sich zum ersten Mal am Betriebskapital von zwei zentralen Sektoren der Privatwirtschaft, der Uhrenindustrie und den Banken. Die wichtigsten Arbeitgeber der Uhrenindustrie riefen zu einer korporatistischen Reorganisation ihrer Branche auf und forderten die Gründung einer «Superholding der Uhren», der ASUAG. Bundesrat und Parlament unterstützten die Mitzeichnung des Kapitals dieser Holding und delegierten einen Vertreter des Vorläufers des heutigen Seco in ihren Verwaltungsrat. Damit waren die Grundlagen des Korporatismus in der Uhrenindustrie – also der massiven Zurückdrängung des «freien Wettbewerbs» – gelegt, welcher die Branche bis in die 1970er- Jahre prägen sollte, nämlich die Verflechtungen zwischen dem Bund, den organisierten Interessen der Branche und den Banken.
Angesichts der Gefahr einer allgemeinen Bankenkrise intervenierte der Bundesrat mit Rückgriff auf das Notrecht in den 1930er-Jahren ebenfalls massiv. Um diese Krise zu verhindern, beschlossen Regierung und Parlament zwei damalige Grossbanken direkt mit Bundesmitteln – in der Höhe der Hälfte eines Jahresbudgets, was heute mehr als 40 Milliarden Franken entsprechen würde – zu unterstützen und vor dem Konkurs zu bewahren. Die schweizerische Diskontbank konnte nicht vor dem definitiven «Grounding» bewahrt werden. Die Schweizerische Volksbank schon. Um die adäquate Verwendung der Staatsmillionen zu begleiten, nahm damals auch ein Direktor der Schweizerischen Nationalbank Einsitz in die Generaldirektion der Volksbank.
Die Reaktion der Eidgenossenschaft auf die damalige Krise in der Landwirtschaft war in erster Linie politisch motiviert. Ab Ende des 19. Jahrhunderts konsolidierten die Bürgerlichen ihre Allianz mit dem Bauernstand innerhalb des Bürgerblocks durch eine zunehmend interventionistische Agrarpolitik. Während der 1930er-Jahre ruhte diese Politik auf zwei Säulen. Die erste betraf die Abschottung des Binnenmarktes durch die Aussenhandelspolitik. Die zweite bezog sich auf die Subventionspolitik durch öffentliche Gelder. Zuerst intensivierte der Bundesrat seine Politik der Stützung des Milchpreises stark. Dann strebte der Bund danach, die einheimische Getreideproduktion durch eine Aufkaufpolitik mit festem Preis zu unterstützen.
Im Unterschied zum landwirtschaftlichen Interventionismus und der direkten Unterstützung von Teilen der Exportindustrie und des Finanzplatzes war die eidgenössische Politik gegenüber dem Binnenhandel und dem Gewerbe charakterisiert als etwas das mit «Intervention durch Nichtintervention» bezeichnet werden kann. Tatsächlich liess die Eidgenossenschaft die wachsende Kartellierung des schweizerischen Gewerbes einfach zu und unterstützte diese teilweise aktiv. Auch hier ging es darum, die privilegierte Verbindung mit einem wichtigen sozialen und politischen Akteur zu erhalten.
Die energischen Aktionen des Staates zugunsten der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes standen in starkem Gegensatz zu den äusserst schwachen Antworten auf die soziale Krise. «Trotz des grossen Einsatzes privater Hilfsorganisationen ist die Armut in vielen Regionen des Landes gross», stellte der Bundesrat 1933 lakonisch fest. Die Arbeitslosenversicherung und die Altersvorsorge waren schwach entwickelt und schützten meist nicht vor bitterer Armut und dem Gang auf das Fürsorgeamt.
Das in den 1930er-Jahren konsolidierte Modell des selektiven Staatsinterventionismus prägte und prägt die Schweiz seither. Nach Ende des zweiten Weltkriegs und dank des Drucks der politischen und gewerkschaftlichen Linken konnte zwar der teilweise massive Rückstand im Bereich der Sozialversicherungen und der sozialen Sicherheit reduziert werden, die Schweiz blieb jedoch hier bis in die 2000er-Jahre im (west-)europäischen Vergleich unterentwickelt.
In Bezug auf Gewerbe und Landwirtschaft wurde der selektive Protektionismus zu Beginn der 1990er-Jahre unter dem Druck des international ausgerichteten Flügels der Arbeitgeber («Weissbücher») durch die Revision des Kartellgesetzes und vor allem durch die Reorientierung der staatlichen Massnahmen gegenüber der Landwirtschaft teilweise aufgehoben.
Die Rettung der UBS 2008, die grösste Staatsintervention im Bankensektor seit den 1930er-Jahren, wurde ihrerseits nach grundsätzlich bekannten Mustern abgewickelt. Erstens, die diskrete enge Zusammenarbeit zwischen Bundesrat, hohen Beamten der Finanzverwaltung, der Generaldirektion der SNB und der Bankenleitung im Vorfeld der Öffnung des Rettungsschirms. Zweitens, die Entscheidfindung in einem engen Kreise Eingeweihter mit dem Argument der Dringlichkeit. Drittens, das Verhindern einer demokratisch breit abgestützten Debatte – insbesondere der durch die politische Linie eingeforderten direkten Beteiligung des Bundes an der UBS. Und, schliesslich, viertens, die aus finanzpolitischer Warte effizient umgesetzte Interventionspolitik, welche dem Bund Zinserträge in Milliardenhöhe auf den gewährten Krediten und Darlehen in die Kasse spülte.
Im Falle der Credit Suisse kamen die ersten beiden Punkte identisch zur Anwendung. Ob sich die massive Staatsintervention auch finanzpolitisch auszahlen wird, können wir erst in ein paar Jahren genauer wissen. Das Risiko für die Eidgenossenschaft und damit für die schweizerische Demokratie, ist jedoch aufgrund der horrenden Summen, die auf dem Spiel stehen, gross.
Bankeninterventionismus aufgrund der innenpolitischen und aussenpolitischen Polizeigeneralklausel («Notrecht»)
2008 berief sich der Bundesrat auf Artikel 184, Absatz 3 und 185, Absatz 3 der Bundesverfassung, welche Verfassungsrechtler:innen als innen- und aussenpolitische Polizeigeneralklausel bezeichnen, um die Notrechtsmassnahmen zur Rettung der UBS zu legitimieren. Es lohnt sich, den Wortlaut der jeweiligen Bestimmungen zu zitieren.
Artikel 184 der BV betrifft die Beziehungen zum Ausland. Absatz 3 bestimmt: «wenn die Wahrung der Interessen des Landes es erfordert, kann der Bundesrat Verordnungen und Verfügungen erlassen».
Artikel 185 handelt von der äusseren und inneren Sicherheit des Landes. Im Wortlaut des Absatzes 3: Der Bundesrat «kann, unmittelbar gestützt auf diesen Artikel, Verordnungen und Verfügungen erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen». Absatz 4 des Verfassungsartikels, der nicht zur Anwendung kam, bestimmt im Übrigen: «in dringlichen Fällen kann er (der Bundesrat) Truppen aufbieten».
Der am 17. März 2023 durch den Bundesrat kommunizierte massive Staatseingriff in den Finanzplatz mittels der Zurverfügungstellung von finanziellen Mitteln beziehungsweise der Sprechung von Staatsgarantien für finanzielle Mittel in Höhe von rund der Hälfte des Bruttoinlandproduktes der Schweiz verlief verfassungsrechtlich nach einem identischen Schema, dessen Wurzeln in die 1930er-Jahre reichen. Kurz: im Falle der Wahrung der Interessen des Finanzplatzes wird die Demokratie als Störfaktor erachtet und nimmt die Landesregierung Rückgriff auf Verfassungsbestimmungen, die Verfassungsrechtler:innen als «Polizeigeneralklauseln» definieren, was bedeutet, dass es sich um Instrumente handelt, die eigentlich nur im Falle einer massiven Bedrohung der äusseren und inneren Sicherheit angewendet werden sollen. Ob dies im Falle einer drohenden Bankenkrise gerechtfertigt ist, muss hinterfragt werden.
Die Brutalität des selektiven Interventionismus
Der hohe Grad an Selektivität des schweizerischen Staatsinterventionismus zeigt sich jedenfalls in den vergangenen Wochen mit irritierender Klarheit. Da sind einerseits die Milliarden, die innert kurzer Zeit aus dem Boden gestampft werden und die dem Bundesrat das Schulterklopfen der Finanzminister:innen und Währungshüter:innen der Welt bescheren. Da ist andererseits die bürgerliche Mehrheit, welche eine Revision der zweiten Säule durch das Parlament peitscht, mit dem Ziel die Renten zu senken und gleichzeitig die Lohnabzüge zu erhöhen. Da ist ein bürgerlich dominierter Bundesrat, der dem Bundeshaushalt Sparmassnahmen im Bereich der AHV aufhalsen möchte. Da ist ein Bürgerblock, der sämtliche staatliche Massnahmen zur Bekämpfung der Inflation mittels Regulierung der Energiepreise und der Mieten oder die Verbilligung der Krankenkassenprämien für die Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen mit einem arrogant-müden Lächeln vom Tisch wischt.
So nackt stand uns die Brutalität des selektiven Staatsinterventionismus der bürgerlichen Mehrheit schon lange nicht mehr vor Augen. Es liegt in den Händen der Linken dies zu nutzen, um ihr politisches und gesellschaftliches Gewicht zu stärken und dafür zu sorgen, dass der «zündende Funke des Solidaritätsgedankens» in die richtige Richtung überspringt.
Autor
Philipp Müller ist promovierter Wirtschaftshistoriker und Mitglied des Vorstands des Denknetz