Josef Lang

Diskussion

Solidarität von unten gegen Spannungen von oben
03.01.2022   |   Wie sind die gestiegenen Spannungen zwischen den USA und China, dem Westen und Russland einzuschätzen? Droht ein neuer Kalter Krieg? Wie soll die Linke darauf reagieren? Diese Fragen stellen sich immer dringender. Und ihre Antworten darauf fallen – wie auch die Artikel zum Schwerpunkt Internationalismus in der letzten Denknetz-Zeitung zeigen – höchst kontrovers aus. Nachfolgend eine Analyse aus universalistisch-emanzipatorischer Sicht.
Die Verschärfung der globalen Spannungen ist die Folge von zwei Entwicklungen, die ihren Anfang am Ende des Kalten Kriegs nahmen. Einerseits entschieden sich die USA, die NATO und in ihrem Gefolge die EU, Gorbatschows Vision eines „Gemeinsamen Hauses Europa“ mit allen denkbaren Mitteln zu vereiteln. Andererseits hatte die Zerschlagung der chinesischen Demokratie-Bewegung globale Folgen, die 1989 niemand erahnen konnte.
Michael Gorbatschow lancierte das „Gemeinsame Haus Europa“ im Herbst 1985 bei seinem ersten Auslandsbesuch in Paris. Dass dies in Frankreich geschah, war kein Zufall. Bereits Charles De Gaulle hatte die Idee eines Europas „vom Atlantik bis zum Ural“ verteidigt, wobei sie auf der Überwindung des „Kommunismus“ baute. Gorbatschows gesamteuropäischer Vorschlag gründete in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, heute OSZE). Ihr verdanken wir letztlich, dass der Sturz der Ostblock-Diktaturen 1989 friedlich verlaufen ist. Am 21. November 1990 kam es auf dem historischen Gipfel der KSZE in Paris zum feierlichen Bekenntnis aller Mitglieder, das „Gemeinsame Haus Europa“ in die Tat umzusetzen. Wenige Monate zuvor hatte der damals populärste Politiker Europas, Vaclav Havel, zum Entsetzen der USA die Auflösung der beiden Militärbündnisse verlangt.

Nach 1989: Geschwächte Nato gegen eine gestärkte UNO

Globalpolitisch bedeutete der politische Prozess, der damals in Europa im Gange war, eine massive Stärkung der UNO und eine Existenzkrise der Nato, die durch die Auflösung des Warschauer Paktes 1991 zusätzlich verschärft wurde. In seinem Überlebenskampf konzentrierte sich der Nato-Sonderbund des reichen Nordwestens unseres Planeten darauf, den UNO-Bund der Völker, die einzige legitime Globalinstanz, zu schwächen. Dabei erwies sich der grossserbische Kriegsherr Slobodan Milosevic gleichsam als diabolus ex machina.
Der US-amerikanische Sicherheitsexperte Robert Kagan schrieb in seinem neokonservativen Kultbuch „Macht und Ohnmacht“ über den Kosovo-Krieg 1999: „Die Wahrung des Zusammenhalts und der Existenzfähigkeit des Bündnisses (…) gehörte zu den Hauptzielen der amerikanischen Intervention, so wie die Erhaltung der Allianz ein Hauptmotiv der früheren Intervention der USA in Bosnien gewesen war.“1 Der von Milosevic angezettelte Bosnienkrieg (1992 bis 1995) wurde von der Nato benützt, um die UNO richtiggehend vorzuführen. Bereits im Mai 1992 erteilte die Nato der Forderung von UNO-Generalsekretär Boutros-Ghali, die UNO mit ausreichenden Kapazitäten für Operationen unter Führung des Sicherheitsrates auszustatten, im Geheimdokument MC 327 eine klare Absage. Das vom NATO-Militärausschuss ausgearbeitete Konzept beinhaltete im Wesentlichen vier Punkte: a) Interventionen nur dort, wo es um eigene Interessen geht (also nicht in Ruanda); b) die völlige militärische und politische Kontrolle der Nato über den Einsatz; c) von Nato-Staaten gewonnene Aufklärungserkenntnisse werden nicht an die UNO weiter gegeben (was sich in Srebrenica besonders verhängnisvoll auswirkte); d) die Nato bestimmt, wann ein vom Sicherheitsrat beschlossener Einsatz beendet wird.2

Ab 1999: Gestärkte Nato ohne die geschwächte UNO

Am Anfang des Balkankrieges standen eine starke UNO und eine schwache NATO. Am Ende standen im Frühjahr 1999 der völkerrechtswidrige Kosovokrieg, die Verwandlung der NATO in ein globales Offensivbündnis und die politische wie militärische Marginalisierung der UNO. Damit waren die Bedingungen geschaffen für den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg, die Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts. Ebenfalls verheerend waren die Folgen in China und in Russland, wo der westliche Globalmilitarismus die nationalistischen Kräfte massiv stärkte. Auch wenn die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad in der Nacht vom 7./8. Mai 1999 durch die USA ein Irrtum war, hat sie der chinesischen Führung und Bevölkerung die Aggressivität der Nato, die ohne UNO-Mandat eine Hauptstadt bombardierte, vor Augen geführt. In Russland benützte Ministerpräsident Putin im Herbst 1999 den Kosovokrieg, um den Zweiten Tschetschenienkrieg zu starten und dank diesem Staatspräsident zu werden. Nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim durch Staatspräsident Putin 2014 konstatierte dessen Freund Gerhard Schröder, der erste deutsche Kriegskanzler seit 1946: „Der Kosovokrieg war die Blaupause für die Annexion der Krim.“ 3
Dass der grossrussische Nationalist Putin überhaupt zur autokratischen Machtfülle gelangte, verdankt er zusätzlich einer anderen Strategie der Nato: der Osterweiterung. Diese war ein Bruch des Versprechens, das Bundeskanzler Helmut Kohl, US-Präsident Georg Bush sen. und deren Aussenminister Hans-Dietrich Genscher und James Baker gegenüber Gorbatschow wiederholt gemacht hatten. Wer deren formale Verbindlichkeit vermisst, verharmlost die imperialen Absichten westlicher Hardliner. Der für die Nato-Osterweiterung zuständige US-Ausschuss wurde präsidiert vom Vizepräsidenten des Rüstungskonzerns Lockheed Martin. Eine zusätzliche Ausweitung der Nato bedeutete die Partnersphip for Peace, der die Schweiz 1997 beitrat – gegen den Widerstand friedenspolitischer Linker.

Erste Lehre für Linke

Die interventionistische Nato- und vor allem US-Hybris haben den Westen militärisch und politisch letztlich geschwächt. Aber zuvor haben sie die Friedenschancen nach dem Ende des Kalten Krieges zerstört und in Russland den Chauvinismus und Militarismus wieder gestärkt. Im entfernteren China, wo die politische Regression seit Mitte 1989 im Gange war, erleichterten sie der Parteiführung die Repression und die Aufrüstung. Allerdings tätigen die Nato-Staaten, allen voran die USA, immer noch mehr als die Hälfte aller weltweiten Militärausgaben von fast 2000 Milliarden USD (2020). Auf China fallen 13%, auf Indien 4% und auf Russland 3%. Die Ablehnung der Abrüstung unter Hinweis auf die Aufrüstung Chinas ist schlicht und einfach lächerlich. Erst recht, wenn man die Kriegsausgaben in Afghanistan 2002 bis 2021 von 840 Milliarden Dollar und deren katastrophalen Folgen bedenkt.
Die erste Lehre für eine universalistische und emanzipatorische Schweizer Linke lautet aus meiner Sicht: Entmilitarisierung und Entspannung, Frieden und Freiheit, Demokratie und Menschenrechte kann nur glaubwürdig fordern, wer das Mitmachen bei der Nato (beispielsweise KFOR oder PfP) ablehnt, wer von allen Armeen, insbesondere von der schweizerischen und den westlichen, die Abrüstung verlangt und wer sich der Spannungspolitik verweigert.

1989: Tienanmen und Kuba

Die westliche Hybris nach dem Ende des Kalten Krieges hatte noch eine weitere unbeabsichtigte Folge: Die neoliberale Globalisierung wurde für China, das weitaus bevölkerungsreichste Land der Welt, zur grossen wirtschaftlichen und militärischen Chance. Die Zerschlagung der Demokratie-Bewegung im Juni 1989 schuf die Voraussetzungen für den Aufstieg Chinas zum zweitmächtigsten kapitalistischen UND imperialistischen Staat. Dabei wurde eine Insel, die uns Linken in den kommenden Jahren besonders Kopfzerbrechen bereiten dürfte, zum politischen Trittbrettfahrer dieser Entwicklung: Kuba.
Der Zufall wollte es, dass ich nach einer zweimonatigen Reise durch Zentralamerika, Mexiko und Kuba in der Tienanmen-Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 von Havanna nach Madrid flog. Als ich Kuba verliess, hoffte ich noch, dass es in Peking nicht zur Zerschlagung der Demokratie-Bewegung kommt, machte mir aber keine Illusionen über die Reaktion der kubanischen Regierung, sollte dies geschehen. Als ich in Europa ankam, hatten die Panzer den Platz des „Himmlischen Friedens“ geräumt sowie in Peking und andernorts Massaker angerichtet. Die Kubanische Führung machte das, was zu befürchten war. In der Folge wurden auf der Karibik-Insel Partei- und Staatsmacht noch mehr gestärkt, die Freiräume für die Gesellschaft, insbesondere die der Andersdenkenden, noch mehr eingeschränkt. Bei den Protesten im vergangenen Juli in Kuba war Tienanmen ein Thema – bei den Demonstrierenden und bei den Behörden.

Keine fünfte Modernisierung in China

Die strukturellen vier Modernisierungen Chinas in den 1980er Jahren (Industrie, Landwirtschaft, Armee, Wissenschaft/Technik) weckten Bestrebungen von unten nach einer fünften Modernisierung: der politischen Demokratisierung. Ab 1987 gab es – auch ermuntert durch die sowjetische Perestroika – Massenkundgebungen in zahlreichen Städten. 1989 entwickelte sich daraus ein revolutionärer Prozess, der durch die Spaltung der Parteiführung zusätzlich befeuert wurde. Dessen Ausmass wird sowohl in seiner geographischen Weite wie in seiner sozialen Breite arg unterschätzt. Besonders unterschätzt wird die Arbeiter:innen-Bewegung, die sich in unabhängigen Gewerkschaften organisierte. Dabei war die Angst des autoritären Teils der Parteiführung vor einer chinesischen Solidarnosc (1980/81) das Hauptmotiv für den Armeeeinsatz.
Die Niederlage der Revolution im Sommer 1989 hatte zur Folge, dass das wichtigste Hindernis für eine (staats-)kapitalistische Dynamik im Sinne des Manchestertums beseitigt werden konnte: das offiziell hochgeschätzte, sozial gut geschützte und vor allem selbstbewusste Industrieproletariat. Dieses konnte dank der massiven Landflucht in den 1990er Jahren durch ein neues papier- und damit rechtloses Proletariat ersetzt werden – vor allem in den Freizonen. Es bildete die klassische Reservearmee für die ursprüngliche Kapitalakkumulation. Dessen Nachfolgegeneration nahm den Kampf für die rechtliche Besserstellung und Lohnerhöhungen wieder auf. Trotz einigen Erfolgen konnte bislang aber das alte Kräfteverhältnis nicht wiederhergestellt werden.
Was der wirtschaftlich liberale und politisch repressive Deng Xiaoping bereits in den 1980er Jahren eingeleitet hatte, konnte er nun beschleunigen: die globale Ausweitung des chinesischen Kapitalismus. Dieser folgte eine Kehrtwende im Militärischen. Die maoistische Defensivarmee, die auf die Volksmassen und die Landmasse vertraute, mutiert zu einer modernen Hightech-Armee, die sich auf die Meere ausrichtet. Im Innern des Landes passiert dasselbe, was wir von den klassischen Imperialismen im Westen und in Japan kennen: Ein aggressiver Han-Nationalismus bedrängt und verdrängt Minderheiten wie die Tibeter:innen, die Uigur:innen und hebt das Zugeständnis „Ein Land-Zwei Systeme“ gegenüber Honkong auf. Zudem konzentriert sich die Partei- und Staatsmacht, wie der französische Asienkenner Pierre Rousset schreibt, immer mehr in der „Clique um Xi Jinping“.4

Ein neuer Kalter Krieg?

Ebenfalls klassisch ist, was wir global erleben: Der dominante US-Imperialismus wird herausgefordert durch einen viel schwächeren, aber aufsteigenden China-Imperialismus. Dabei benützen beide Lager die aussenpolitischen Konflikte, um von innenpolitischen Problemen abzulenken und die Aufrüstung voranzutreiben. Dass die Rüstungs- und Kriegsgewinnler dabei einen neuen Kalten Krieg beschwören, ist nachvollziehbar. Stimmt aber die Analogie zu den vier Jahrzehnten von 1948 bis 1989?
Der erste wichtige Unterschied ist die Grösse und Dynamik der chinesischen Wirtschaft und deren Verflechtung mit der US-amerikanischen. China ist der grösste Gläubiger der USA und für die meisten Staaten der wichtigste Handelspartner. Die Vorstellung einer Konfrontation eigenständiger und wirtschaftlich völlig getrennter Blöcke, wie es im Kalten Krieg der Fall war, machte da keinen Sinn. Zudem ist China politisch-militärisch viel einsamer, als es die Sowjetunion war. Diese verfügte über den Ostblock und eine Militär-Allianz namens Warschauer Pakt. Chinas mächtigste Nachbarn, Japan, Indien und Australien, bilden mit den USA den quadriliteralen Sicherheitsdialog (Quad). Symbolisch ist die Annäherung Vietnams, das mit dem benachbarten Riesen China konfliktuelle Ansprüche im Südchinesischen Meer hat, an die USA.
Die Unwahrscheinlichkeit einer umfassenden Blockkonfrontation schliesst heisse Konflikte nicht aus. Der denkbarste ist ein Angriff Chinas auf Taiwan. Der paradoxe Hintergrund dieser Frage ist die Tatsache, dass der – neben Japan – historische Feind des chinesischen Kommunismus, die Kuomintang, den Inselstaat ebenfalls als Teil Chinas betrachtet. Offensichtlich sieht das die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger des wohl demokratischsten Staates in Asien anders. Wie soll sich die Linke in einem solchen Konflikt verhalten?

Die Linke und China

Der Ausganspunkt einer emanzipatorischen Linken sind nicht Blöcke oder Staaten oder Ideologien, sondern konkrete Menschen, ihre Bewegungen und Vernetzungen, ihre individuelle und kollektive Selbstbestimmung. Ob Taiwan selbstständig bleibt oder ein Teil der Volksrepublik China wird, darüber haben einzig und allein die Bürgerinnen und Bürger Taiwans zu entscheiden. Der erwähnte Grundsatz sollte aber auch für Honkong, Ostturkestan/Xinjiang, Tibet und ganz China gelten. Wenn Franco Cavalli und Kurt Seifert in ihrem Beitrag in der Denknetz-Zeitung vom November 2021 den Begriff „autoritär“ für China ablehnen mit dem Argument, „dessen Führung“ scheine sich „mehr um die Belange des Volks zu kümmern“, ist das ein höchst fragwürdiger Paternalismus. Dass diese Führung nicht aufgrund demokratischer Wahlen nach einer offenen Diskussion ihre Macht errungen hat, ist ihnen keine Kritik wert. Und die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen an Hunderttausenden von Uigur:innen werden relativiert mit dem Hinweis auf die Unglaubwürdigkeit der „westlichen Staaten, die solche Vorwürfe erheben“.5 Nur lassen sich so die linken Kritiken nicht kontern.
Linke Solidarität mit China heisst Solidarität mit den Chinesinnen und Chinesen, die für die klassischen Ziele der Linken kämpfen: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Zur Freiheit gehört überall auf der Welt das Recht, seine Meinung zu äussern, seine Kultur und seinen Glauben zu praktizieren, die Obrigkeit zu kritisieren und beispielsweise wegen sexuellen Übergriffen oder Korruption anzuprangern, sich gewerkschaftlich und politisch unabhängig von Kapital und Staat zu organisieren, die Behörden zu wählen. Was die Gleichheit betrifft, ist diese in China weder formell-rechtlich noch materiell gegeben. In keinem Land gibt es so viele Milliardäre. Seit 2004 ist ihre Zahl von 3 auf 1185 gestiegen. Etliche von ihnen sitzen in Führungsgremien der Kommunistischen Partei.6 Was die Solidarität betrifft, gehört dazu ein materieller Ausgleich, den es ansatzweise gibt, aber auch das Recht, mit Ausgebeuteten, Unterdrückten, Misshandelten Solidarität zu üben.
China war ein Opfer des westlichen und japanischen Kolonialismus. Es hat alles Recht, westliche und japanische Kritiker:innen darauf hinzuweisen und von ihnen die Anerkennung ihrer imperialistischen Verbrechen zu verlangen. Und es verdient dabei unsere Unterstützung. Aber das bedeutet nicht, dass wir zum aktuellen Unrecht schweigen.
Dazu ein Rückblick auf die 1970er Jahre: Als China gemeinsam mit dem Westen das kambodschanische Pol-Pot-Regime unterstützte und als es nach dessen Sturz Vietnam überfiel, war da nicht Kritik angebracht? Und ein Ausblick auf die Zukunft: Wenn Peking eine erstarkte und damit gefährliche Klimabewegung unterdrücken sollte, ist da der Platz der Linken nicht selbstverständlich an der Seite der Bewegten?

Kuba und sein Einparteiensystem

Eine der weltweit stärksten 68er Bewegungen, die in Mexiko, startete am 26. Juli 1968. Der Anlass war der fünfzehnte Jahrestag der von Fidel Castro geführten Bewegung gegen die Batista-Diktatur. Er symbolisiert die grosse Ausstrahlung, die die Kubanische Revolution weltweit, insbesondere in Lateinamerika hatte. Noch heute verdient ein Land, das der Blockadepolitik der USA seit 63 Jahren die Stirn bietet, unsere Hochachtung. Aber verdient sie auch ein Regime, das sich wirtschaftlich als unfähig, gesellschaftlich als unbeweglich und politisch als undemokratisch erweist?
Die unfaire und unmenschliche Blockade Kubas durch die USA ist ein wichtiger Grund für die blockierte Wirtschaftsentwicklung. Aber nicht der einzige. Das Abwürgen von Privatinitiativen, insbesondere in der Landwirtschaft, aus Angst vor sozialen und politischen Freiräumen, hat für die alltägliche Versorgung mit Lebensmitteln eine verheerende Wirkung. Zudem ist die US-Blockade kein Grund für die politische Blockierung. Der Hinweis, auch die Schweiz habe während der Weltkriege Vollmachtenregimes gehabt, ist doppelt fragwürdig. Erstens gingen die Einschränkungen für die Medien oder die Parteien (Mehrzahl!) nicht so weit, wie sie in Kuba gehen. Und zweitens stand ein Grossteil der Linken den schweizerischen Vollmachten höchst kritisch gegenüber.
Die Monopolisierung der Macht in einer Partei, genauer Parteispitze, baut auf der Vorstellung der Nation als geschlossenem „Körper“. Da auch die kubanische Gesellschaft eine vielfältige ist, in der es unterschiedliche Interessen, Ideen, Identitäten gibt, führt Eingrenzung automatisch zur Ausgrenzung von „Fremdkörpern“. Dementsprechend werden Kubaner:innen, die protestieren und demonstrieren, als „Schädlinge“ und „Agenten des Feindes“ verunglimpft. Gegen die Kundgebungen vom vergangenen Juli, eine Kombination von Sozialprotesten und Demokratiebewegung, hat das Regime eine Art von Bürgerwehren mobilisiert, welche sich mit Gewaltmitteln der Protestbewegung entgegenstellten.
Das Einparteiensystem und die damit verbundene Unterdrückung von Dissidenz macht ein Regime auch schwerhörig. Die Ohrkanäle zwischen Gesellschaft und Staat, zwischen Basis und Behörden, sind verstopft. Deshalb waren die kubanischen Autoritäten am 11. Juli 2021 derart überrascht über die soziale Explosion. Und es nimmt die Bürgerinnen und Bürger nicht als das ernst, wozu sie in der politischen Moderne, also seit 1789, berufen sind: als mündige Träger:innen der Volkssouveränität und letztlich der Staatlichkeit. Der autoritäre Staat verzichtet auf Wissensquellen, Anregungen und unzählige Stützen. Und, wie die kubanische Historikern Alina Barbara Lopez Hernandez in der Zeitschrift „La Joven Cuba“ vom 30. Juli 2021 schrieb: „Jeder bürokratische Einparteien-Sozialismus (…) führte bislang zu einem verhüllten Staatskapitalismus mit den Eigenschaften Korruption und Elitismus.“7

Zweite Lehre für Linke

In Jochen Steinhilbers Artikel in der letzten Denknetz-Zeitung über „Die Zukunft des Internationalismus“ werden zahlreiche Bewegungen erwähnt – aber keine gegen „linke“ Regimes.8 Damit verpasst er eine der wichtigsten Lehren aus dem Kalten Krieg: Eine emanzipatorische Linke ist primär eine emanzipierte Linke. Emanzipiert gegenüber den verlogenen Freiheits- und Friedens-Diskursen der USA, der Nato oder einer EU, aber auch gegenüber den ebenso verlogenen Sozialismus- und Fortschritts-Diskursen von Jinping, Putin, Lukaschenko et al.
Eine freiheitlich-solidarisch-ökologische Linke stützt sich auf die weltweiten Demokratie-, Frauen-, Gewerkschafts-, Klima- und anderen Sozial- und Umweltbewegungen. Sie engagiert sich für deren Stärkung und weltweite Vernetzung. Und sie weiss, dass sich Bewegungen gegenseitig dynamisieren und befruchten. 1968 gab es eine Dialektik zwischen der vietnamesischen Tête-Offensive im Februar, den Antikriegs- und Bürgerrechtsbewegungen in den USA, dem Mai 68 in Frankreich, dem Prager Frühling, dem Volksaufstand vor der Olympiade in Mexiko.
Während es damals zu einer gegenseitigen Dynamisierung kam, obwohl das Hauptthema in jedem Weltteil ein anderes war, gibt es heute zwei Themen, die überall eine zentrale Rolle spielen: die Klima- und die Frauenfrage. Die Voraussetzungen einer globalen Verknüpfung und Vernetzung sind heute besser als 1968 – sofern sich alle mit allen solidarisieren. Das passiert aber nur, wenn jegliches Blockdenken überwunden wird.
So lautet die zweite Lehre für Linke: Die globale Verbindung von Bewegungen und die global gültige Verbindlichkeit der universellen und unteilbaren Menschenrechte sind die beste Antwort von unten auf die Spannungspolitik von oben.

Fussnoten

1. Kagan, Robert: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003, S. 58
2. Zumach, Andreas: Die Geschichte der Sieger. Zur neuen Strategie der Nato, in: Reinecke, Stefan (ed): Die neue NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Interventionsmacht?, Hamburg, 2000, S. 48-65
3. Zumach, Andreas: Globales Chaos Machtlose UNO. Ist die Weltorganisation überflüssig geworden? Zürich 2015, S. 108f.
4. Rousset, Pierre: La Chine. Nouvel impérialisme émergé, in: https://La Chine, nouvel impérialisme émergé | L’Anticapitaliste (lanticapitaliste.org), 22.11.2021, (abgerufen am 22. 12. 2021)
5. Das Denknetz, Nr. 10, November 2021, S. 17f.
6. Anzahl der chinesischen US-Dollar-Milliardäre von 2004 bis 2021 (abgerufen am 27.12.2021)
7. Lopez Hernandez, Alina Barbara: Cuba. Le parti unique face à la crise, 2.8.2021 (abgerufen am 21.12.2021)
8. Steinhilber, Jochen, Die Zukunft des Internationalismus, in: Das Denknetz Nr. 10, November 2021, S. 3-7

Weitere Texte zum Thema

1. Achcar, Gilbert: Weniger Soldaten, mehr Drohnen. Welche Lehren die USA aus den gescheiterten Militäreinsätzen der letzten Jahrzehnte für die Kriege der Zukunft ziehen, in: Le Monde diplomatique, November 2021, S. 14
2. Castets, Rémi: Bleierne Zeit in Xinjiang. Folter, Umerziehungslager, digitale Kontrolle: Die muslimische Minderheit der Uiguren in China wird brutal unterdrückt, in: Le Monde diplomatique, März 2019, S. 16f.
3. Faber, Samuel: Reflexiones sobre el 11 de julio y lo que viene después – Viento Sur, 12.11.2021
4. Lang, Josef: „The long global war“ und die Schweizer Linke, Denknetz-Jahrbuch 2006, Zürich 2006, S. 5-12
5. Lang, Josef: Das Wiedererstarken der NATO auf Kosten der UNO, in: Widerspruch 70, Militarisierung, Krieg und Frieden, Zürich 2017, S. 75-84
6. Moya Gonzalez, Lisbeth: Llamamiento a la solidaridad por la causa de los presos políticos del 11 de julio. El caso del joven artista Abel Lescay – Viento Sur, 2.12.2021
7. Rousset, Pierre: En Chine, Xi Jinping chante ses louanges au comité central du PCC | L’Anticapitaliste (lanticapitaliste.org), 17.12.2021
Zur Person: Josef Lang ist Historiker, alt Nationalrat der Alternativ-Grünen Zug und GSoA-Vorstand.
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