Der Blick hinter die helvetischen Mythen
19.05.2025 | Wir kennen sie alle, die Mythen über die Schweiz: neutrale Friedensstifterin, Insel des Wohlstands, Hort der Menschenrechte. Keine Gelegenheit wird ausgelassen, sie zu zelebrieren. Doch können wir uns diese Mythen angesichts der aktuellen Bedrohungslage noch leisten? Ein aktuelles Buch zum Schweizer Kapitalismus liefert unbequeme Antworten.
Eine Rezension von „Schweizer Kapitalismus – Erfolgsmodell in der Krise“; Brügger, Lukas; Iten, Dominic; Spéth, Arman (Hrsg.), ISBN 978-3-99136-518-1; Verlag: mandelbaum Verlag.
Der von Lukas Brügger, Dominic Iten und Arman Spéth herausgegebene Sammelband wirft ein helles Licht auf die wirkliche Schweiz, auf ein Land, das tief im Kapitalismus verankert ist. Das Buch trägt zum Verständnis der gegenwärtigen Schweiz bei, damit wir tragfähige Lösungen für unser Zukunft finden können. Es geht darum die sozialen Verwerfungen der Gegenwart nicht als selbstverständlich zu betrachten und mit einer typisch schweizerischen Floskel «Uns geht`s doch gut» abzuwehren.
Der Sammelband gliedert sich in drei Teile mit 15 Beiträgen sachverständiger Autor:innen zu in sich abgeschlossenen Themen: Der erste Teil beschäftigt sich mit Geschichte und Gegenwart des Schweizer Kapitalismus. Im zweiten Teil wird den Sozialstrukturen und Klassenverhältnissen des Landes nachgegangen bevor schliesslich im dritten Teil ein kritischer Blick auf Staat, Politik und (Medien-)Öffentlichkeit geworfen wird.
Vielfältige Analysen
Eine grundlegende Eigenschaft des Kapitalismus ist seine krisenhafte Entwicklung, die sich anhand der Dynamik der Profitrate nachzeichnen lässt. Roland Herzog und Hans Schäppi gelingt es in ihrem Artikel, den tendenziell sinkenden Verlauf für die Schweiz nachzuweisen und die zahlreichen Krisenzyklen aufzuzeigen.
Ueli Mäder nimmt sich der Einkommens- und Vermögensungleichheit in der Schweiz an, eines weiteren wesentlichen Merkmals des Kapitalismus. Er erläutert, wie diese Ungleichheiten Lebensweisen und Bewusstsein prägen und wie sich das mittels Sozialstrukturen dokumentieren lässt.
Hans Baumann und Robert Fluder weisen in ihrem Beitrag diese Ungleichheiten für die Schweiz anhand von Schaubildern anschaulich nach. Eine ihrer Kernaussagen: «Das Wirtschaftswachstum habe zwar in der Nachkriegszeit die unmittelbare Armut beseitigt, doch gleichzeitig die Ungleichheit konserviert und akzentuiert». (S. 9)
Wie die Schweiz zum internationalen Finanzplatz wurde, ist das Thema von Michel Roberts. In jüngster Zeit hat jener allerdings seine internationale Dominanz eingebüsst, mit dem Untergang der Credit Suisse als letztem starken Beleg dieser Entwicklung.
Obwohl geographisch und demographisch klein sowie militärische schwach, ist die Schweiz eine internationale Wirtschaftsmacht, die sich zu ihrem Vorteil Profite aneignen kann und zur globalen «Reproduktion der ungleichen und hierarchischen Beziehungen» (s. 10) beiträgt. Wie es getrieben durch den Akkumulationsdrang dazu kam, und dadurch helvetische Spuren in allen einträglichen Ecken der Welt zu finden sind, zeigen Arman Spéth und Michael Graff in ihrem Beitrag auf.
Willi Eberle schildert die Geschichte des Schweizer Kapitalismus kurz und prägnant. Er hält fest, die Entwicklung des Kapitalismus sei zwar hierzulande weniger gewaltsam als in England gewesen, Klassenkonflikte und die Trennung von Produzent:innen und Eigentümer:innen der Produktionsmittel waren und sind aber auch eine schweizerische Realität. Die Klassentrennung führte zur Herausbildung des hiesigen kapitalistischen Systems, des schweizerischen Zentralstaats und der guten Integration der Schweizer Bourgeoisie in den globalen Kapitalismus.
Das ausbeuterische Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt, ein weiteres konstitutives Merkmal des Kapitalismus, wird von Juri Auderset analysiert. Im Beitrag zum «ökologisch ungleichen Tausch» wird aufgezeigt, wie die Schweiz davon mittels Aneignung von Ressourcen und Arbeitskraft in Form eines gehobenen Wohlstands profitiert.
Georg Kreis bringt das Verhältnis der offiziellen Schweiz zur Apartheid in Südafrika auf den Punkt. Er stellt deren entschiedene Verurteilung die strikte Weigerung der Wirtschaft daraus konkrete Konsequenzen abzuleiten gegenüber. Und folgert, das eine bedinge das andere, die Verurteilung sei rein kompensatorisch gewesen.
Zwar hat die offizielle Schweiz die Apartheid entschieden verurteilt, doch die Wirtschaft hat sich strikt geweigert, daraus konkrete Konsequenzen abzuleiten. Das eine bedinge das andere, die Verurteilung sei also rein kompensatorisch gewesen.
Mit dem aktuellen Thema Neutralität setzt sich Dominic Iten auseinander. Er geht ihrer historischen Entwicklung nach, die die Schweiz zu einem Land werden liess, bei der «die neutrale Helvetia die eine Hand zur Hilfe anbietet und die andere zum geschäftlichen Handschlag ausstreckt» (S. 11). Die schweizerische Neutralität ist seit jeher ein Kampfplatz verschiedener Interessen, in einem ökonomischen und geopolitischen Umfeld, das sich laufend wandelt.
Jaqueline Kalbermatten, eine der leider wenigen Autorinnen, nimmt den Mythos der Vorzeigedemokratie ins Visier und weist auf den Ausschluss eines Drittels der Bewohner:innen von politischen Rechten und Prozessen hin. Bemerkenswert ist ihr Verständnis der Migrationspolitik als ein Versuch, die Mobilität der Arbeitskräfte einzuschränken, um die Arbeitskosten im Interesse der Unternehmen möglichst tief zu halten.
Für Mascha Madörin ist der hohe Anteil von Sorge- und Versorgungsarbeit mit 85% der Gesamtarbeitszeit integraler Bestandteil des Geschäftsmodells Schweiz. Tiefe Unternehmenssteuern um «grosse Konzerne und vermögende Privatpersonen ins Land zu locken» (S. 12) sind nur möglich, da die Sorge- und Versorgungsarbeit nicht über Steuern finanziert wird, sondern grösstenteils von Frauen unbezahlt übernommen wird.
Sehr lesenswert ist auch der Beitrag von Stéphanie Ginalski und Matthieu Leimgruber zu den Eliten in der Schweiz. Sie sind mit Ende des «Ancien régime» nicht etwa verschwunden, sondern haben sich laufend gewandelt und sind bestimmend und mächtig geblieben.
Abschliessend äussert Franco Cavalli seine Gedanken zu einer wirksamen linken Politik in der Schweiz. Im Gespräch stellt er Ideen zu Strategien vor, um nicht in den «Mühlen des Schweizer Staates zermalmt zu werden» (s.13) – eines bürgerlichen Staates, der das Funktionieren einer kapitalistischen Wirtschaft zu gewährleisten hat.
Bei der Lektüre der kompetenten, gut lesbaren Beiträge, die mit Literaturangeben versehen sind und sich aufeinander beziehen, stellt sich auch dem informierten Leser manches Aha-Erlebnis ein.
Angesichts der sich aktuell zuspitzenden Krisen hätte er sich auch ein paar Gedanken zum Ausblick des Schweizer Kapitalismus oder mögliche Szenarien zu dessen weiteren Entwicklung gewünscht. Insgesamt vermitteln die Beiträge zu den verschiedenen Aspekten der kapitalistischen Schweiz ein stimmiges, aktuelles Bild: Der kritisch-analytische Blick hinter die wirkmächtigen Mythen zeigt ein realistisches Bild unseres Landes. Auf dieser Grundlage lassen sich Gedanken zur Gestaltung unserer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zukunft anstellen.
Autor | Martin Gallusser ist Ökonom und Informatiker. Er leitet die Fachgruppe Politische Ökonomie des Denknetz.