Revolution in China?
26.01.2023 | Konnte dies wahr sein? Proteste in Shanghai und Peking. Ich traute meinen Augen nicht, als ich die Nachrichten Anfang Dezember las. Seit vielen Jahren träumen wir tibetischen Aktivist:innen davon, dass sich auch die Chines:innen endlich gegen ihr eigenes Regime erheben. Tibeter:innen und Uigur:innen leisten seit Jahrzehnten Widerstand gegen das chinesische Regime, das ihre Länder besetzt. Die Covid-Strategie Chinas hat nun seit Ende November 2022 selbst in den chinesischen Metropolen zu grossen Protesten und radikalen Forderungen geführt. Die Beweggründe der protestierenden Gruppen sind in Ursprung und Inhalt verschieden, doch im Gesamtbild ergibt sich eine politische Situation, die für das chinesische Regime zur existenzbedrohenden Krise werden könnte. Der Versuch einer Einordnung.
Die Proteste in China hatten im November 2022 begonnen, als vor allem chinesische Wanderarbeiter:innen von der chinesischen Regierung ein Ende ihrer Null-Covid-Strategie forderten, welche die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse gefährdete. Es ging um Arbeit, Medikamente, Wohnen und Essen. Kurz später breiteten sich die Proteste aus und es demonstrierten vor allem jüngere Menschen und Student:innen in den chinesischen Städten für einen Regimewechsel und gegen Xi Jinping. Diese Protestierenden forderten nicht nur die Absetzung Xi Jinpings, sondern der gesamten Kommunistischen Partei Chinas. Das ist von historischer Bedeutung. Auch nach Lockerungen in den chinesischen Covid-Massnahmen am 7. Dezember – zu denen die Proteste gemäss einer Analyse von Huang und Han entscheidend beigetragen haben1 – sehen wir weiterhin Protestaktionen überall in China, was auf einen gesellschaftlichen Wandel und eine neue Qualität öffentlicher Proteste hindeuten.
Seit der kommunistischen Machtübernahme 1949 hat China eine solch breit abgestützte Protestwelle nicht mehr gesehen. Die Forderungen könnten eine nicht zu unterschätzende Gefahr für den Machterhalt der Kommunistischen Partei darstellen. Selbst 1989 hatten die Studierenden in Peking «lediglich» demokratische Reformen gefordert – Forderungen wie «Nieder mit der Kommunistischen Partei!», wie wir sie heute hören, gehörten damals nicht zur Agenda der Bewegung. In China bedeutet Dissens, auch wenn er in subtilster Form geäussert wird, dass man mit dem eigenen Wohlergehen dafür bezahlen könnte. Wieso nehmen das Zehntausende von Menschen in Kauf, um in China auf die Strasse zu gehen? Wie so oft in der Menschheitsgeschichte ist die eigene Existenzsicherung Auslöser des Protests. Es geht um Brot, um ein Dach über dem Kopf, also um Grundbedürfnisse, die unter der Null-Covid-Strategie nicht gedeckt werden konnten, weil die Leute in ihren Wohnungen und Schlaflagern eingesperrt wurden. Die daraus resultierenden Existenzprobleme haben zu den ersten Protesten geführt.
Die Leidtragenden der Corona-Politik Chinas sind die Schwächsten der chinesischen Gesellschaft: die Wanderarbeiter:innen. Seit Jahrzehnten verkündet das chinesische Regime der Welt, dass es Millionen von Menschen aus der Armut befreit hätte. Tatsächlich hat es aber eine neue Schicht Armer geschaffen. Es sind Menschen aus ländlichen Regionen, die als rechtslose Arbeiter:innen das Wirtschaftswachstum Chinas angetrieben haben. In den Städten werden sie sozial diskriminiert und haben weder Zugang zum Gesundheitssystem, noch verdienen sie dieselben Löhne wie Städter:innen. Ihre Kinder lassen sie in den abgelegenen Dörfern zurück, weil sie in den Städten nicht zur Schule dürfen. Dort werden sie von den Grosseltern erzogen. Wo es keine Angehörige gibt, verwahrlosen Millionen von Kindern. Eins von fünf Kindern in China gehört zu diesen «zurückgelassenen» Kindern, die ohne Eltern aufwachsen. Schon 2010 schätzte das Standford Center on China’s Economy and Institutions ihre Zahl auf 60 Millionen.2 Kindersuizide wurden zu einem Phänomen auf dem Land. So berichtete The Guardian 2015 von vier Kindern derselben Familie, die Pestizid tranken, um kollektiven Suizid zu begehen. «Danke für eure Gutmütigkeit. Ich weiss, ihr meint es gut, aber wir müssen jetzt gehen,» stand gemäss des staatlichen chinesischen Nachrichtensenders im Abschiedsbrief der Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren.3
Nun waren diese Arbeiter:innen eingesperrt und wurden am Arbeiten gehindert, so dass sie ihre Mieten nicht bezahlen konnten und hungerten. Wenn der Mensch hungert, gibt es kein Zurück mehr, was auch die ersten Proteste gegen Chinas Covid-Politik antrieb. In der grössten iPhone-Fabrik Foxconn in Zhengzhou kam es am 24. November zu Protesten von Hunderten Arbeiter:innen, die die strengen Corona-Massnahmen und ausbleibende Lohnzahlungen anprangerten. Die Polizei schlug auf die Protestierenden ein; die Firma rekrutierte neue Angestellte.
Schon Ende Oktober hatten Tibeter:innen gemeinsam mit chinesischen Wanderarbeiter:innen in Lhasa demonstriert, drei Monate nachdem der dortige Lockdown begonnen hatte. Zum ersten Mal gingen Tibeter:innen und Chines:innen gemeinsam auf die Strasse.
Die chinesischen Wanderarbeiter:innen wurden über Jahrzehnte für die koloniale Politik des Regimes missbraucht. Die chinesische Siedlungspolitik in tibetischen und uigurischen Gebieten würde ohne die Masse der chinesischen Arbeiter:innen nämlich nicht funktionieren. Aber das Regime hatte sich seiner Covid-Strategie verrechnet und der politische Preis ist hoch, denn genau die Menschen, die es für seine koloniale Politik missbraucht, haben sich 2022 zum ersten Mal gegen die Führung in Peking gewendet.
White Paper Protests
Golog Jigme, ein tibetischer Flüchtling in der Schweiz und ehemaliger politischer Gefangener des chinesischen Regimes, meinte Anfang Dezember im persönlichen Gespräch: «Am Anfang ging es um wirtschaftliche Anliegen und es war lediglich eine Kritik an den Covid-Massnahmen. Ende November ist aber etwas passiert, was nun das Regime politisch gefährden wird. Die chinesischen Studenten haben sich den Protesten angeschlossen, um Demokratie und Freiheit zu fordern sowie das Ende der kommunistischen Partei.» Tatsächlich versammelten sich die Studierenden Ende November an zahlreichen Universitäten, wie zum Beispiel der Tsinghua University in Peking (ironischerweise die Alma Mater von Xi Jinping), und hielten leere, weisse Papierblätter in die Luft «um das zu sagen, was wir nicht sagen dürfen». Sie forderten Demokratie, Redefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Forderungen, die seit 1989 verstummt waren. «Nieder mit der Kommunistischen Partei! Nieder mit Xi Jinping!» Forderungen, die 1989 noch undenkbar waren.
Einer der Auslöser der Proteste war ein Brand am 24. November in Urumqi, Hauptstadt der Uiguren. Ein Brand in einem aufgrund der Covid-Massnahmen verriegelten Wohnblock forderte zehn Todesopfer. Die Uiguren im Exil sprechen von über dreissig Toten. Auf Twitter kursierten Fotos von den Opfern, darunter eine Mutter mit ihren drei Kindern. Der Vater ist nicht zu sehen. Sein Name ist Eli Metniyaz und er befindet sich seit 2017 in einem Internierungscamp. Er wurde zu zwölf Jahren verurteilt. Auch der älteste Sohn der Familie wurde zu zehn Jahren Internierungscamp verurteilt. Vielleicht leben die beiden noch, vielleicht sind sie auch schon tot. Die Mutter hat ihre drei Kinder allein grossgezogen und ist mit ihnen im Feuer gestorben. Der Brand wurde in der Öffentlichkeit als Folge der Null-Covid-Politik des chinesischen Regimes wahrgenommen und führte zu massiven Protesten führte.
Schon im September und Oktober kursierten Videos im Internet, die zeigten, dass Hunderte von Uiguren an Hunger, Krankheit und fehlender Pflege gestorben sind, weil sie von den Behörden in ihren Wohnungen eingesperrt wurden. Nach dem Brand kam es am selben Abend zu Protesten von Uigur:innen und chinesischen Wanderarbeiter:innen, die sich in Urumqui zum Arbeiten niedergelassen hatten.
Dass eines Tages Chines:innenen und Uigur:innenen in Urumqi; Chines:innenen und Tibeter:innen in Lhasa gemeinsam auf die Strasse gehen würden. Wer hätte das gedacht? Auch wenn die Gründe sich unterscheiden, die Hoffnung, die in dieser ungewohnten Allianz liegt, ist einmalig.
Im Widerstand vereint
In der Gesamtanalyse der Proteste darf man die Tibeter:innen und Uigur:innen nicht vergessen. In ihren Ländern, die von China nach 1949 besetzt wurden, zeigte das Regime schon immer seine ausgeklügelte und brutale Fähigkeit zur Unterdrückung. Die Repression, die gegen diese Völker seit Jahrzehnten ausgeübt wird, hat mit Xi Jinpings Internierungscamps in Ost-Turkestan (chinesisch: Xinjiang) nur ihre schlimmsten Auswüchse gezeigt und die staatlich organisierte Gewalt gegenüber den Uigur:innen so offensichtlich gemacht, dass sie niemand mehr leugnen konnte. Die Tibeter:innen und Uigur:innen leisten seit über sieben Jahrzehnte Widerstand für Freiheit und Unabhängigkeit. Die Machtansprüche Chinas wurden immer wieder durch Aufstände angefochten. Zuletzt fanden diese 2008 in Tibet und 2009 in Ost-Turkestan statt. Das Militär hatte sofort mit Gewalt reagiert und auf unbewaffnete Protestierende geschossen. Noch heute kennt man die genauen Opferzahlen nicht.
Es ist wichtig zu verstehen, wie sich der aktuelle Widerstand gegen das chinesische Regime formiert hat. Die Gründe einen Umsturz des chinesischen Regimes zu fordern, sind für verschiedene Gruppen unterschiedlich. Für die tibetischen und uigurischen Gemeinschafte geht es um das kulturelle Überleben, politische Selbstbestimmung und die Unabhängigkeit ihrer Länder. Für die chinesischen Wanderarbeiter:innen geht es um ein würdevolles Leben, das Recht auf Existenzsicherung und sichere Arbeit. Für die chinesischen Student:innen geht es um politische Freiheiten, Menschenrechte und Demokratie.
Das, was uns vereint, ist der Widerstand gegen dieses Regime.
Autorin | Migmar Dhakyel ist tibetische Aktivistin
Kategorie | Kommentar
Fussnoten
2. Stanford Center on China’s Economy and Institutions. 2018. «‘Our parents are all gone : Understanding the impacts of migration on a generation of Chinese children,» https://sccei.fsi.stanford.edu/reap/docs/left-behind-children-intern-introduction [26.1.2023].