Ruth Gurny
Diskussion
„Das Rentendebakel“
20.04.2023 | Für die Autoren, Mario Nottaris und Danny Schlumpf, des Buchs ist das System der schweizerischen beruflichen Vorsorge zu einem Selbstbedienungsladen für die Finanzindustrie geworden. Jährlich verlieren demnach die Versicherten 20 Milliarden Franken an die Finanzindustrie. Ruth Gurny wollte es genauer wissen und stellte Danny Schlumpf 10 Fragen zu diesen beunruhigenden Zahlen.
Zusammenfassung des Buches
50 Jahre ist es her, seit die Stimmberechtigten der Schweiz die Volksinitiative der damaligen PdA „für eine wirkliche Volkspension“ mit der überdeutlichen Mehrheit von 83% verworfen haben. Stattdessen wurde dem Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament zugestimmt und damit die sogenannte zweite Säule, die berufliche Vorsorge, zu einem Obligatorium erhoben.
Das Buch von Nottaris und Schlumpf ist also ein Buch zum 50-jährigen Jubiläum, allerdings alles andere als ein Jubelgesang auf die zweite Säule. In ihrem Vorwort schreiben die Autoren, dass das System der schweizerischen beruflichen Vorsorge zu einem Selbstbedienungsladen für die Finanzindustrie geworden ist. Das titelgebende Rentendebakel besteht für die beiden Autoren in den jährlichen 20 Milliarden Franken, die die Versicherten an die Finanzindustrie verlieren. Dass das unter dem Radar der Öffentlichkeit und der Versicherten passiert, hat mit dem intransparenten Gebührensystem der Banken und Versicherungen zu tun. Sie verrechnen Gebühren für Administration, Marketing, Vermittlung, Immobilienbewirtschaftung und weitere Dienstleistungen im Umfang von jährlich 2 Mia Franken. Dazu kommen weitere 5 Mia Franken für Vermögensverwaltungskosten.
Doch dabei bleibt es nicht – es kommen noch geschätzte 12 Mia Franken dazu, weil die Finanzindustrie in den letzten Jahren einen wachsenden Anteil vom Kuchen abschneiden konnte. Gemäss den Autoren nahm diese Entwicklung nach der Finanzkrise von 2008 ihren Anfang. Im Zuge dieser Krise schrumpften die Margen der Finanzindustrie empfindlich. Diese suchte deshalb nach neuen, profitablen Geschäftsfeldern und fand diese im Pensionskassenmarkt. Damit bei der Anlage der Vorsorgevermögen auch gute Renditen herausschauen, brauche es – so die Finanzdienstleister – ein aktives Management der Anlagen, was Marktbeobachtung, Analyse und Recherche und die Entwicklung ständig neuer Anlagelösungen und –instrumente beinhaltet. Die Kosten für dieses aktive Anlagemanagement werden von den Pensionskassen allerdings nicht ausgewiesen und bleiben damit im Dunkeln. Im Buch werden sie auf jährlich 12 Mia CHF geschätzt – Gelder, die der Finanzindustrie zufliessen.
Dieses aktive Management – so argumentieren Schlumpf und Nottaris – ist überdies keineswegs besser als eine passive Vermögensanlage, bei der in existierende Fonds investiert wird. Was für die Finanzdienstleister ein grosses Geschäft geworden ist, bedeutet für die Versicherten deshalb eine erhebliche Verringerung ihrer Renten. Wären die Vorsorgevermögen passiv und damit kostengünstig investiert worden, dann wäre das Gesamtvermögen der zweiten Säule heute um 200 Mia Franken höher, nämlich 1400 Mia Franken statt „nur“ 1200 Mia.
Die Kaperung der zweiten Säule durch die Finanzindustrie wird im Buch am Beispiel des Skandals rund um die Pensionskasse Phoenix aufgerollt. Der Fall weist auch sehr deutlich auf die Schwäche der gesetzlichen Aufsicht und Regulierung hin. Die Autoren schreiben: „Das Phoenix-Debakel offenbart exemplarisch die Macht der Finanzindustrie und die Ohnmacht der Stiftungsräte in diesem Markt. Dass das System solche Skandale zulässt, ist alarmierend.“ Ihre Folgerung: Die jetzigen Reformvorhaben im Rahmen der BVG21 – Beratungen gehen einzig zulasten der Versicherten. Es ist an der Zeit, die Finanzindustrie in die Pflicht zu nehmen. Dazu muss das Parlament die Gemeinschafts- und Sammelstiftungen umfassend regulieren und passives Anlegen zum Standard machen.
10 Fragen an Danny Schlumpf
Ruth Gurny: In Ihrem Buch führen Sie aus, dass die Anlagevermögen zu wenig angestiegen sind wegen der verfehlter Anlagepolitik (Stichwort aktive und damit teure Anlagepolitik anstelle einer passiven Anlagepolitik). Ihre Gegner:innen sagen, dass diese Rechnung nicht stimme, u.a. seien passive Anlagen zu Beginn BVG noch gar nicht möglich gewesen. Was ist zu diesem Vorwurf zu sagen?
Danny Schlumpf: Wir werfen niemandem vor, die Gelder nicht schon ab 1985 passiv angelegt zu haben. Klar ist: Spätestens seit den 90er Jahren gab es breite Möglichkeiten zum passiven Anlegen. Unsere Wahl, die Entwicklung seit dem Jahr 1985 zu analysieren, hängt damit zusammen, dass seit diesem Jahr die Leute verpflichtet sind, sich zu versichern. Wir können aber gerne auch 1998 einsetzen: Seit diesem Jahr hätte die passive Strategie uns 150 Milliarden mehr eingebracht als die tatsächlich praktizierte aktive Strategie. Es gibt einfach nichts daran zu rütteln: Der Unterschied zwischen aktivem und passivem Anlegen ist massiv. Aber die Vergangenheit soll vor allem in die Zukunft weisen: Wenn sich die Überlegenheit des passiven Anlegens im Rückblick derart krass belegen lässt, müssen wir jetzt umdenken und den Schalter von Aktiv auf Passiv kippen. Denn angesichts der Tatsache, dass das anzulegende Vermögen aus den Pensionskassen immer grösser wird, wächst auch die Renditedifferenz der beiden Strategien stetig.
Warum wird das denn nicht schon längst auf breiter Front gemacht?
Weil die Finanzindustrie damit viel weniger verdient. Passives Anlegen ist viel kostengünstiger als aktives Management.
Ihre Kritiker:innen führen auch an, dass gut diversifizierte Pensionskassen mit der aktiven Anlagepolitik im Jahr 2021 rund 5 Prozent verloren haben, passive mit rund 15 Prozent dreimal so viel.…
Was niemanden überrascht, der unser Buch gelesen hat. Dort steht nämlich, dass in krisenhaften Jahren wie 2008 im Zuge der Finanzkrise die passive Strategie stärker leidet – sie geht ja mit den Märkten mit. Dort steht aber auch, dass bis unmittelbar vor einem solchen Jahr und schon kurz darauf die Sache wieder ganz anders aussieht: Passiv schwingt sofort wieder obenaus – vom langfristigen Horizont ganz zu schweigen. Und dieser Horizont ist bei der Anlage von Vorsorgevermögen, das über mehrere Jahrzehnte entwickelt wird, entscheidend.
Gemäss Ihren Aussagen wäre die Senkung des Umwandlungssatzes nicht nötig, wenn die Finanzindustrie nicht massiv Gelder abzocken oder abzweigen und von einer aktiven zu einer passiven Anlagenpolitik wechseln würde. Wie schätzen Sie das ein: Würden die von Ihnen ausgewiesenen Gelder, die mit der aktuellen Anlagepolitik verloren gehen, reichen, um den jetzigen Umwandlungssatz von 6,8% für die (ausschliesslich) obligatorisch Versichertenbeizubehalten?
Wir reden von 200 Mia Franken, die den Versicherten entgangen sind. Dieser Fehlbetrag wird künftig noch schneller wachsen, weil das Vorsorgevermögen immer grösser wird. Wenn wir diese 200 Milliarden heute hätten, würden wir wohl kaum über den Umwandlungssatz diskutieren. Das ist aber genau der Punkt: Wir streiten ununterbrochen darüber, welche Versicherten den Gürtel wie eng schnallen müssen. Es geht stets um Massnahmen, die den Versicherten wehtun – nicht aber der Finanzindustrie, die unser Geld verwaltet. Das ist das Resultat eines ausgesprochen erfolgreichen Lobbyings der Finanzbranche, deren bürgerliche Vertreter:innen im Parlament alles abschirmen, was die Gewinne dieser Branche schmälern könnte.
In Ihrem Buch prangern Sie den massiven Anstieg der Verwaltungskosten an. Der Schweizerische Pensionskassenverband ASIP wie auch das Vorsorgeforum stellen diese Zahlen in Frage. Wie kommt das? Was wird in der offiziellen Pensionskassenstatistik ausgewiesen? Was nicht?
Die Verwaltungskosten und insbesondere die Vermögensverwaltungskosten steigen immer weiter. Das sagen nicht nur wir, sondern auch die in der Branche selbst breit akzeptierte Swisscanto-Studie, hinter der die Zürcher Kantonalbank steht. Es ist irritierend, dass der ASIP sich gegen unsere Analyse in die Bresche wirft. Wir greifen ja nicht die Pensionskassen an, sondern reden über die Finanzindustrie, die mit Geldern aus den Vorsorgeeinrichtungen Gewinne erzielt. Für die Pensionskassen ist das Buch vielmehr eine Chance, die Kosten für ihre Versicherten zu senken. Dazu gehören auch Milliarden versteckter Gebühren, die jedes Jahr an die Finanzindustrie fliessen – und in keiner Pensionskassenstatistik ausgewiesen werden. Die Versicherten wissen schlicht nicht, dass es sie gibt.
Warum nicht?
Weil die Finanzdienstleister, die das Vorsorgevermögen anlegen, und mit ihnen die Pensionskassen nur einen Teil der Gebühren als solche ausweisen. Der Rest sind versteckte Transaktionskosten. Sie werden auf jeden Kauf und Verkauf eines Wertpapiers oder einer Immobilie erhoben, aber den Versicherten gegenüber nicht offengelegt. Ein Beispiel: Kauft ein Fonds im Auftrag einer Pensionskasse ein Haus für 4 Millionen Franken und verrechnet dafür eine Gebühr von 2,5 Prozent, kostet der Kauf die Versicherten 4,1 Millionen. Dass 100’000 Franken davon Gebühren sind, sehen sie nicht. Wir schätzen, dass auf diese Weise rund 12 Milliarden Franken Gebühren pro Jahr generiert werden. Zusammen mit den publizierten Vermögensverwaltungskosten sind das 17 Milliarden. Nimmt man die restlichen Verwaltungskosten von 3 Milliarden hinzu, landen wir bei 20 Milliarden pro Jahr – nicht 7 Milliarden, wie es offiziell heisst. Und damit auch nicht 1500, sondern 4500 Franken pro Versicherten. Wir lassen uns bei dieser Schätzung gerne eines Besseren belehren. Dazu müsste die Finanzindustrie diese Kosten allerdings offenlegen.
Wo sehen Sie den grössten Mangel in Bezug auf Aufsicht und Transparenz im Bereich des BVG?
Die zweite Säule leidet unter einem Geburtsfehler. Seit dem Inkraftreten des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) von 1985 werden alle Angestellten in der Schweiz zur Einzahlung in die zweite Säule gezwungen. Ihre Pensionskasse aber können sie nicht selber wählen. Bei den Anbietern hingegen tut der Staat so, als ob es sich um einen freien Markt handelt. Die Anbieter geniessen weitestgehend freie Gestaltungsmöglichkeiten. Deshalb ist die Aufsicht über sie schwach und die Transparenz ungenügend. Das hat sich in den letzten 20 Jahren sogar noch verschlimmert.
Inwiefern?
Die Pensionskassen durchlaufen einen massiven Konzentrationsprozess. 1985 verwalteten 18’000 Betriebspensionskassen ein Vermögen von 150 Milliarden Franken. Das sind 8,3 Millionen Franken pro Pensionskasse. Heute betreuen noch 1400 Vorsorgeeinrichtungen rund 1200 Milliarden Franken. Das sind 857 Millionen Franken pro Einrichtung. Diese Einrichtungen sind nicht mehr Firmen-Pensionskassen, sondern grösstenteils Gemeinschafts- und Sammelstiftungen. Es sind riesige Gebilde, an die 1985 niemand gedacht hat. Aber sie werden bis heute vom Gesetz praktisch nicht erfasst. Die Pensionskassen-Oberaufsicht des Bundes sagt, sie habe keine Möglichkeit, wirklich in diese Gebilde reinzuschauen. Aber sogar wenn sie die Kompetenzen dazu hätte – die Oberaufsicht zählt gerade einmal 28 Volllzeitstellen. Zum Vergleich: Die Finanzmarktaufsicht Finma verfügt über 500 Vollzeitstellen.