Putins Krieg oder warum der grossrussische Chauvinismus die Ukraine besonders hasst
28.02.2022 | Die Nato trägt eine Mitverantwortung für den Aufstieg Putins. Aber für den Krieg gegen die Ukraine trägt Putin die Alleinverantwortung. Dahinter steckt ein grossrussischer Chauvinismus, der aufgeladen ist mit zaristischen und stalinistischen Erbschaften.
Als ich Putins Hassrede vom 21. Februar 2022 gegen die Ukraine ein erstes Mal las, hörte mein inneres Ohr einen spanischen Frankisten gegen Katalonien hetzen. Was Putin als „Wladimir-Lenin-Ukraine“ bezeichnet, sind für den Frankisten die republikanischen „Rojos“. Wenn jener die Ukraine als „integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums“ postuliert, ruft dieser „España Una Grande Libre“. Beide, Putin und der Frankist, betrachten ihre „Vaterländer“ als höhere und ewige Wesen. Trennungs-Tendenzen sind deshalb ein „Verbrechen“, wobei Putin das berühmte Zitat eines französischen Ministers nicht vollendet: Das Sezessionsrecht sei „nicht nur ein Fehler, sondern, wie man sagt, viel schlimmer gewesen“. Während der Grossrusse der Ukraine vorwirft, „Derussifizierung“ zu betreiben, moniert der Grossspanier, Katalonien marginalisiere das Spanische. Beide betrachten als Sprachnationalisten das Ukrainische und das Katalanische bloss als „Dialekte“. Jener predigt eine „echte Entkommunisierung“, dieser den Antikommunismus. Putin wie der Frankist leiden unter dem Phantomschmerz eines einstigen Imperiums. Jener glaubt, ihn mit der Zwangsrückkehr der Ukraine, dieser mit dem Zwangsverbleib Kataloniens lindern zu können.1
Das zaristische Verbot der ukrainischen Schriftsprache
Bei der zweiten Lektüre las ich Putins Rede aus ukrainischer Perspektive. Die Ukraine ist älter als die UdSSR. Wie in den meisten Ländern Europas entstand die Nationalbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie andernorts war sie aus Gründen der Repression in Geheimgesellschaften organisiert. In Italien waren es die „Carbonari“, in der Ukraine die „Hromadas“. Typisch für Osteuropa spielten Dichter eine Schlüsselrolle. In der Ukraine hiess er Taras Schewtschenko, der noch als Leibeigener aufgewachsen war. Putins grosses Vorbild, Zar Alexander III., verschärfte die Russifizierungspolitik, unter anderem das von seinem Vater 1876 erlassene Verbot des Ukrainischen als Schriftsprache. Vor dem Hintergrund der Revolution von 1905 wurde der ukrainische Nationalismus zu einer Massenbewegung – übrigens praktisch gleichzeitig mit dem baskischen. Die ukrainische Nationalbewegung gehörte im europäischen Rahmen zu den Spätzündern, aber nicht zu den Nachzüglern. Parallel zum russischen Teil der Ukraine entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine ukrainische Nationalbewegung im österreichischen Galizien.2
Nach dem Ersten Weltkrieg, der Russischen Revolution und dem Bürgerkrieg war die Ukraine in vier Staaten aufgeteilt: Die Sowjetukraine, eine der Gründungsrepubliken der UdSSR, die polnische Westukraine, die Karpato-Ukraine in der Tschechoslowakei und die Nord-Bukowina in Rumänien. Für Lenin war die Ukraine tatsächlich ein Bollwerk gegen den ihm verhassten „grossrussischen Chauvinismus“. Die Schwäche seines föderalistischen Konzepts, das das Recht auf Sezession gewährte, lag nicht im territorialen Konzept, sondern im Einparteiensystem. Dieses schliesst letztlich auch territoriale Machtteilung aus. Aber in den zwanziger Jahren übte die sprachliche und kulturelle Ukrainisierung der Sowjetrepublik eine grosse Anziehung vor allem auf die bäuerlichen Mehrheiten in den drei anderen ukrainischen Gebieten aus.3
Der stalinistische Holodomor
Das änderte sich ab 1929 schlagartig mit der stalinistischen Zwangskollektivierung, die in der Ukraine zusätzlich das altzaristische Ziel der Auslöschung „aller ukrainischen Besonderungen und Traditionen“ (Stölting)4 verfolgte. Die Kombination von wirtschaftlich bedingter Hungersnot und politisch motivierter Aushungerung kostete mindestens 4 Millionen Menschen das Leben. Der Holodomor (auf Ukrainisch: „Tötung durch Hunger“) ist die dramatischste Bezeugung der abgrundtiefen Feindlichkeit des grossrussischen Chauvinismus gegenüber der ukrainischen Nation. Der sowjetische Teil der ukrainischen Bevölkerung war schwer traumatisiert. In den anderen drei Teilen fanden klerikal und faschistisch orientierte Nationalisten Zulauf auf Kosten der bislang starken Linken.5
Mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938/39 durch die Nazis, die unter anderem zur Bildung einer „autonomen“ Regierung der Karpato-Ukraine führte, kam plötzlich eine Diskussion über die Schaffung eines gesamtukrainischen Staates auf. Die Nazis spielten anfänglich eine zweideutige Rolle, übergaben aber dann die Karpato-Ukraine im März 1939 Ungarn.
Im Rahmen der kurzzeitigen, aber weltweiten Debatte forderten Angehörige der in Kanada starken ukrainischen Diaspora, den in Mexiko lebenden Leo Trotzki zu einer Stellungnahme heraus. Noch zu Beginn der 1930er Jahre hatten Ukrainer einen Drittel der Kommunistischen Partei Kanadas gestellt. In einem Artikel, der am 9. Mai 1939 im „Socialist Appeal“ erschien, verglich Trotzki die „Situation“ der Ukraine mit Polen im 19. Jahrhundert: „gekreuzigt zwischen vier Staaten“. Diese Analogie war bewusst gewählt: Praktisch alle Linken unterstützten im 19. Jahrhundert ein vereinigtes und unabhängiges Polen, obwohl dessen konservativ-katholische Prägung offensichtlich war.
Eine unabhängige Ukraine hätte den Nazi-Vorstoss verzögert
Neben historischen und grundsätzlichen Ausführungen für die nationalen Rechte der Ukraine (die er selber als Machthaber verletzt hatte), brachte Trotzki ein prophetisches Argument. Auf die Frage: „Aber würde das nicht eine militärische Schwächung der UdSSR (gegenüber Hitler) bedeuten?“ antwortete der Gründer der Roten Armee: „Eine unabhängige Sowjetukraine wäre (…), schon aufgrund ihrer eigenen Interessen, im Südwesten ein mächtiges Bollwerk für die UdSSR.“ Als gut zwei Jahre später die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, wäre ihr der Vormarsch einiges schwerer gefallen, wenn sie zuerst eine „vereinigte, freie und unabhängige“ Ukraine hätte erobern müssen.6
Diese Denkmethode, die das Politische über das Militärische, das Psychologische über das Strukturelle stellt, erinnert an die des US-Diplomaten George F. Kennan gegen die Osterweiterung der Nato im Februar 1997. In seinem berühmten Artikel in der New York Times gegen deren – von Lockheed und anderen Rüstungsfirmen gepuschten – Expansion verwies der Chefideologe des Kalten Krieges auf die sicherheitspolitisch „verhängnisvollen“ Folgen: „Eine solche Entscheidung droht die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen öffentlichen Meinung zu entflammen und eine schädliche Wirkung auf die Entwicklung der russischen Demokratie zu haben.“ (5.2.1997)
Zweieinhalb Jahre nach Kennans Warnung wurde der Nationalist und Militarist Putin Ministerpräsident. Als solcher entfesselte er im Oktober 1999, ein halbes Jahr nach dem völkerrechtswidrigen Kosovokrieg der Nato, den Zweiten Tschetschenienkrieg. Dank diesem wurde er im Mai 2000 Staatspräsident. Nach der Ukraine ist der Islam das zweite Feindbild des orthodox geprägten grossrussischen Chauvinismus.
Stalinozaristische Zuspitzung des grossrussischen Chauvinismus
Mit der Machtübernahme Putins war der Weg in die heutige Katastrophe vorgezeichnet. Die westliche Hybris der Nuller Jahre mit den Afghanistan-, Irak- und anderen Interventionen erleichterte ihm den Machterhalt. Zuerst weil die globale Schwächung des Rechtsprinzips zugunsten des Machtprinzips ihm zu pass kam. Dann weil die politische und militärische Schwächung der USA und der Nato nach all den Debakeln in Afghanistan, Irak, Afrika ihm insbesondere in Syrien relativ leichte Erfolge ermöglichten. Allerdings dürfte Putin mit der Ukraine-Invasion dasselbe erleben, was der Nato in den letzten 20 Jahren passiert ist: Militärische Hybris führt zu politischer Schwächung. Da Putins Basis wirtschaftlich und gesellschaftlich prekär ist, könnte sie dessen Sturz bedeuten.
Die Nato trägt eine grosse Verantwortung für den Aufstieg Putins. Aber für den Ukraine-Krieg trägt Putin die Alleinverantwortung. Wer die Gründe für dessen Auslösung ausserhalb des Kremls sucht, übersieht den Charakter des grossrussischen Chauvinismus in dessen stalinozaristischen Zuspitzung. Das Paradox ist, dass die Hauptprofiteurin von Putins Angriffskrieg die Nato ist, die stärkste Folge die Aufrüstung werden könnte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass von den 2000 Milliarden USD, die 2020 für Rüstung und Militär ausgegeben wurden, mehr als die Hälfte auf Nato-Staaten fallen. Zudem: Was haben die 840 Milliarden, welche die USA 2002 bis 2021 für den Afghanistan-Krieg ausgaben, militärisch gebracht? Jeder Franken, Euro, Dollar, Rubel, Renminbi, der für Waffen und Soldaten und Kriege ausgegeben wird, fehlt der Rettung des Planeten vor der Klimaerwärmung. Wer den Frieden will, tut alles, um die UNO, den Bund der Völker zu stärken. Aus diesen Grund ist der Beitritt der Schweiz zum UNO-Sicherheitsrat unterstützenswert.
Glaubwürdig die Nato und die Aufrüstung kritisieren, kann aber nur, wer den Verantwortlichen des Ukrainekrieges beim Namen nennt: Wladimir Putin! Und wer dessen Ideologie als das bezeichnet, was wir spätestens seit seiner Rede vom 21. Februar 2022 wissen: ein stalinozaristisch verschärfter grossrussischer Chauvinismus.
Fussnoten
1. Link, abgerufen am 25. 2. 2022; Goldstein, Daniel: Es lohnt sich, Putins Rede zu lesen, in: Infosperber 24.02.2022 (abgerufen am 25.2. 2022);
2. Stölting, Erhard: Eine Weltmacht zerbricht. Nationalitäten und Religionen der UdSSR, Frankfurt am Main, 1990, S. 80f.; Rosdolsky, Roman: Zur nationalen Frage: Friedrich Engels und das Problem der „geschichtslosen“ Völker, Berlin 1990, S. 5f., 51-73. (Rosdolsky, dessen Buch „Zur Entstehung des Marxschen ‚Kapital‘“ (1939-1941, Frankfurt am Main 1974) ein Standardwerk der Marxforschung ist, wurde 1898 im galizischen Lemberg geboren. Seine beiden Grossväter waren als griechisch-katholische Priester Pioniere des ukrainischen Nationalbewusstseins. 1942 bis 1945 verbrachte er in deutschen Konzentrationslagern, 1947 wanderte er in die USA aus.
3. Stölting, ebenda, S. 82
4. Stölting, ebenda, S. 82
5. Applebaum, Anne: Red Famine. Stalins War on Ukraine, NY 2017, S. 280ff.; Rosdolsky, S. 13f..
6. Trotzki, Leo: Schriften 1 Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Band 1.2. (1936-1940), Hamburg 1988, S. 1168 – 1184, hier 1169, 1178f.. Weitere Texte zur Ukraine-Debatte, S. 1238-1271). Über die hier übersprungene Zeit ab 1942 bis 2021 siehe u.a. Stölting, S. 83-90; Dzyuba Ivan: Internationalism or Russification?, New York, 1974, S. 99-126, 186-201, 222-225; Snyder, Timothy: Verantwortung. Warum Deutschland die Wahrheit über die Ukraine nicht vergessen darf, in: Lettre International, 119, Winter 2017, S. 38-41; Schnetzler, Kaspar: „Die ukrainische Seele ist nicht gestorben“, Tagesanzeiger, 4.10.1990; Applebaum, Anne: Ukraine Is Now Democracy’s Front Line – The Atlantic, 24. 2. 2022 (abgerufen am 25.02.2022, auf deutsch übersetzt in Republik, 25. 2. 2022)
Zur Person: Josef Lang ist Historiker, alt Nationalrat der Alternativ-Grünen Zug und GSoA-Vorstand.
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