Pascal Zwicky

Diskussion

Ein Jahr nach den Wahlen – oder: Politische Verlusterfahrungen
15.11.2024 | Rund ein Jahr ist seit den letzten eidgenössischen Wahlen vergangen. In einer Serie von Beiträgen haben sich Autor:innen aus der vielfältigen linken Bewegung damals mit den Wahlen beschäftigt – Prognosen aufgestellt, Forderungen erhoben, Ergebnissen analysiert und generell Perspektiven für die progressiven Kräfte der Schweiz artikuliert. Nicht überall bestand Einigkeit: bedingt optimistischen Einschätzungen standen deutlich pessimistische Folgerungen gegenüber. In der Zwischenzeit sind die Konturen der politischen Schweiz nach den Wahlen 23 deutlicher geworden. Überlegungen eines Soziologen zum Thema «Verlust» können zum besseren Verständnis dessen, was aktuell in Ländern wie der Schweiz passiert, beitragen.
Beginnen wir mit der guten Nachricht: Die Linke erzielt bei Volksabstimmungen wichtige sozialpolitische Siege. Sie konnte per Initiative eine 13. AHV-Rente erringen und auf dem Referendumsweg die Pensionskassenreform bodigen.
Demgegenüber steht allerdings ein Bundesparlament, das rechter geworden ist und entsprechend politisiert. Es sind nicht nur einfach die zusätzlichen Sitze der SVP, die ins Gewicht fallen. Es ist auch der Rechtsrutsch innerhalb der bürgerlichen Parteien, massiv bei der FDP unter Thierry Burkart, der sich bemerkbar macht. Die von FDP und SVP (und teilweise Mitte) im Gleichschritt verfolgte Migrations-/Asylpolitik oder neuerdings Bildungspolitik (Stichwort Integrative Schule) kennen wir von Rechtsaussenparteien in ganz Europa. Letztlich findet ein gesellschaftsweiter Rechtsruck statt, der sich auch bei den kantonalen und kommunalen Wahlen der letzten Monate manifestiert hat.
Zudem bekommen wir momentan die Bedeutung der in der Verantwortung der Vereinigten Bundesversammlung stehenden Bundesratswahl vor Augen geführt: Nicht nur die parteipolitische Zusammensetzung des Gremiums ist wichtig, sondern es kommt auch ganz konkret auf die Personen an, die das Amt ausüben. Karin Keller-Sutter und Albert Rösti gebaren sich als machtbewusste rechte Hardliner – und sie sind leider auch durchsetzungsfähig und erfolgreich. Der bürgerlich dominierte Bundesrat offenbart sich als Hindernis für eine zeitgemässe und verantwortungsbewusste Politik. Schlagende Beispiele sind das von Keller-Sutter vorgelegte Sparpaket, der in Aussicht gestellte Ausstieg aus dem Atomausstieg, der angestrebte Autobahnausbau oder auch Röstis «Gegenprojekt» zur SRG-Halbierungsinitiative der SVP auf Verordnungsstufe. Das alles passt ins Bild eines noch immer neoliberal geprägten, sozial und ökologisch fahrlässigen und letztlich demokratiefeindlichen Programms.

Die Moderne hat ein Verlustproblem

Was hat das nun mit dem eingangs erwähnten Soziologen und Verlust zu tun? Andreas Reckwitz beschreibt in seinem neuen Buch «Verlust. Ein Grundproblem der Moderne» den Verlust als prägende Erfahrung unserer Zeit. Das Problem dabei ist, dass es in den gegenwärtigen Gesellschaften des Globalen Nordens (Reckwitz bezieht sich dabei explizit auf westliche Gesellschaften) keinen produktiven Umgang mit Verlusten gibt. Das revolutionär Neue der westlichen Moderne war, so Reckwitz, ihre Fortschrittsorientierung: der Glaube daran, dass es morgen besser wird als heute – und heute schon besser ist als gestern. Das moderne Fortschrittsverständnis lässt sich als eine säkularisierte, auf dem Christentum basierende Heilsgeschichte verstehen.
Weil die moderne Gesellschaft von der Normalität des Fortschritts ausgeht, hat sie also Schwierigkeiten damit, wenn sich die Dinge, so wie in den letzten Jahren, verschlechtern. Nun kann eingewendet werden, dass Verlust nichts Neues ist. Auch vormoderne Gesellschaften kannten selbstverständlich Verluste, der Tod als grundlegende Verlusterfahrung gehört seit jeher zum Leben. Gemäss Reckwitz ist die gegenwärtige Konstellation in der spätmodernen Gesellschaft (ab den 1970er Jahren) aber eine besondere, weil es zu einer «Verlusteskalation» kommt. Er führt in seinem Buch sechs «Verlustschübe» aus, die diese Situation auszeichnen: Die Verluste des Übergangs von der regulierten Industriegesellschaft zum liberalen Postindustrialismus («Modernisierungs-verlierer:innen»); die durch den Klimawandel bereits verursachten oder prognostizierten Verluste; politisch-demokratische Regressionen, die sich im Aufkommen eines autoritären Rechtspopulismus verdichten; die Artikulation historischer Wunden, die im Zuge der Moderne verursacht wurden (z.B. Restorative Justice); die zunehmende Verlustsensibilisierung im Rahmen der postmodernen «Subjektkultur», in der Selbstverwirklichung und Emotionen wichtiger werden; und schliesslich die demographische Entwicklung, durch welche die Gesellschaft wieder stärker mit – lange verdrängten – Themen wie Altern, Vulnerabilität und Tod konfrontiert wird.
Es ist nicht nur die Menge an Verlusten, die relevant ist. Die aktuellen Verluste haben gemäss Reckwitz auch eine neue Qualität. Weil die gesellschaftlichen Fortschrittsnarrative und -erwartungen brüchig werden, lassen sich individuelle Verluste nicht mehr wie früher durch Zukunftsoptimismus auffangen und relativieren. Ein wesentlicher Teil der heutigen Verluste sind «Erschöpfungsverluste», die gekommen sind, um zu bleiben. Sie ergeben sich daraus, dass die Expansivität der westlichen Moderne an Grenzen stösst, sich erschöpft. Die ökologische Krise und insbesondere der Klimawandel stehen exemplarisch dafür. Aber auch neue geopolitische Konflikte und das Erstarken autoritärer Regime stellen das Selbstverständnis des Westens infrage. Lange Zeit wurden die in der Moderne selbst angelegten, von ihr produzierten Verluste (Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von «Verlustparadoxie») externalisiert. Nun aber werden sie «zum integralen Bestandteil auch der westlichen Gesellschaft. Es handelt sich nicht mehr um die Verluste der anderen, sondern um eigene Verluste» (Reckwitz 2024: S. 372/Hervorheb. im Original).

Politische Folgen des Verlusts

Kommen wir zurück zur Politik. Wenn Verlustangst und -erfahrung vorherrschen, dann hat das selbstverständlich auch politische Folgen. Heute findet eine «Expansion von Verlusterfahrungen und -antizipationen ins gesamte politisch-ideologische Spektrum hinein» (ebd.: S. 364) statt. Nicht nur die Konservativen, auch Liberale und Linke, die klassischen Fortschrittskräfte, sind davon betroffen – und die populistischen Akteure sind durch ihr «Verlustunternehmertum» überhaupt erst gross geworden. Slogans wie «Take back control» oder «Make America Great Again» sind politische Instrumentalisierungen von – realen und gefühlten – Verlusterfahrungen. Die weit verbreitete «Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität», die Zuwendung zum Autoritarismus, um sich greifender Rassismus oder auch sexuelle Diskriminierung und Gewalt lassen sich nicht zuletzt als Reaktionen einer Gesellschaft interpretieren, die keinen produktiven Umgang mit Verlusten gelernt hat.
Wichtige Bestandteile einer spätmodern-populistischen Verlustnarrativs sind Opferkult, Schuldzuweisungen und Rachephantasien. Eine gerade auch in der Schweiz besonders beliebte Geschichte: Geflüchtete (Schuldige) bedrohen unseren Wohlstand, unsere Sicherheit und unsere Kultur (Schweizer:innen als Opfer), deshalb sollen sie möglichst kaltherzig behandelt und ausgeschafft werden (Rache nehmen). Geflüchtete bzw. Migrant:innen werden für Verlusterfahrungen verantwortlich gemacht und dienen nicht zuletzt dazu, von tatsächlich Verantwortlichkeiten abzulenken. Der Perfidität und Unmenschlichkeit sind dabei kaum Grenzen gesetzt.
Auch der Linkspopulismus kommt nicht ohne Zuspitzungen und Schuldzuschreibungen aus. In diesem Narrativ finden sich die Schuldigen in Reihen der Superreichen, der 1-Prozent, der Elite – wobei gerade letztere auch in den Narrativen des autoritären Rechtspopulismus eine wichtige Rolle spielt. Das linkspopulistische Narrativ führt sicherlich näher an die (systemischen) Ursachen der individuell und gesellschaftlich erlebten Verluste unserer Zeit. Aber darum geht es hier nicht. Die oben erwähnten sozialpolitischen Erfolge der Linken zeigen, dass sich in der Spätmoderne ein neues Feld für eine «sozialkonservative Politik» eröffnet. Reckwitz selbst ist der Meinung, dass progressiv sein heute vor allem auch bedeute, demokratische Institutionen vor der Regression zu verteidigen. Bewahren als progressive Aufgabe. Das ist solange unproblematisch und zu begrüssen, als eine sozial- oder demokratiepolitisch bewahrende Politik nicht mit einer unsolidarischen und fremdenfeindlichen Ab- und Ausgrenzungspolitik kombiniert wird, wie das etwa bei den Sozialdemokraten in Dänemark oder beim Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) der Fall ist.

Resilienz, Reparatur, Transformation

Die Verlusterfahrungen und -ängste werden nicht verschwinden. Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass sie virulenter werden. Die Linke muss einen Umgang damit finden. Mit einer bewahrend-sozialkonservativen Politik, wie sie auch im Kaufkraft-Fokus der SP Schweiz zum Ausdruck kommt, ist aber nicht getan. Die «Polykrise», und dabei insbesondere der Klimawandel, verlangen nach tiefgreifenderen gesellschaftlichen Veränderungen. Die Gesellschaften müssen zwangsläufig «resilienter» werden. Gemäss Reckwitz basiert Resilienz «zunächst auf einer gegenüber dem Fortschrittsimperativ umgekehrten Perspektive. Ihre Problemstellung ist nicht die Planung einer besseren Zukunft, sondern das skeptisch-realistische Eingeständnis, dass negative Ereignisse eintreten werden» (ebd.: S. 389). Eine solche Resilienzpolitik verknüpft die Prävention bzw. Vorbeugung mit einer «flexiblen Robustheit» im zu erwartenden «Schadensfall». Am Beispiel der Klimapolitik bedeutet das einerseits, dass alles getan wird, um die Erderwärmung einzudämmen («jedes Zehntelgrad zählt!», immer noch). Andererseits geht es darum, sich als Gesellschaft an die heutigen und zukünftigen Folgen des Klimawandels anzupassen.
Am Ende des Buches unterscheidet Reckwitz drei mögliche Zukunftsszenarien: Die Weiterführung, den Zusammenbruch und die Reparatur der Moderne. Im Reparatur-Szenario «transformiert sich die Moderne derart, dass sie in ihren Institutionen und Lebensformen das grundsätzliche Problem, das sie mit Verlusterfahrungen hat, in den Fokus rückt und in einer reflektierten Weise bearbeitet» (ebd.: S. 418). In dieser auf Resilienz ausgerichteten Perspektive kann folglich eine verantwortungsbewusste sozial-ökologische Reformpolitik angesiedelt werden. Entsprechende Vorschläge liegen seit einiger Zeit auf dem Tisch: Sie reichen von der Mobilitäts- und Energiewende über den Ausbau der öffentlichen Infrastrukturen, die demokratiegerechte Regulierung der medialen Öffentlichkeit, den Schutz vor Extremwettereignissen, sichere Fluchtrouten, eine zeitgemässe IT-Sicherheitsarchitektur, die Reduktion sozialer Ungleichheiten, die Ausweitung und Vertiefung der Demokratie bis hin zu einem Umbau der Arbeitswelt und einer ganzheitlichen Gesundheitsversorgung für alle. Das mag überaus ambitioniert klingen, ist eigentlich aber eher das Minimum, das es zu erreichen gilt. Ein derartiges Reparatur- resp. Resilienzprogramm ist nötig, um die demokratische Gesellschaft überlebensfähig zu machen und sie vor den drohenden Regressionen zu schützen.
Selbstverständlich gibt es in der kritischen Debatte Vorschläge, die weiter gehen als Reckwitz; Stimmen, die die westliche Moderne eher überwinden möchten und eine noch grundlegendere gesellschaftliche Transformation anstreben. Es wäre aus meiner Sicht zu hoffen, dass etwa das indigene Wissen um ein ganz anderes Verhältnis von menschlicher und nicht-menschlicher Natur in einen demokratischen Reparaturprozess einfliessen, und sich mit den Errungenschaften der Moderne verbinden würde. Ein Jahr nach den Wahlen 2023 erscheinen solche Visionen aber leider auch in der Schweiz ziemlich weit weg von der politischen Realität. Obwohl die Zeit erbarmungslos gegen uns, gegen das Leben auf dem Planeten läuft, werden die progressiven Kräfte – und dabei insbesondere institutionelle Akteure wie Parteien und Gewerkschaften – in der verlustzentrierten Spätmoderne vor allem durch Abwehrkämpfe gebunden: gegen Regression und weitere Zerstörung heisst die Devise. Die zukunftsgerichtete Reparatur der Moderne oder die sozial-ökologische Transformation; sie finden vorderhand höchstens in gesellschaftlichen Nischen oder dann als Themen sozialwissenschaftlicher Analysen statt.
Autor | Pascal Zwicky ist wissenschaftlicher Sekretär von Denknetz.
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