Francesco Laruffa

Diskussion

Neofaschismus in Italien? Neoliberalismus, hegemoniale Krise und progressive Alternativen
26.01.2023   |   Der Sieg von Giorgia Meloni bei den letzten italienischen Wahlen Ende September 2022 war für viele ein Schock, obwohl er von allen Medien angekündigt worden war. Das Bild der Übergabe der Senatspräsidentschaft von Liliana Segre – einer Senatorin, die das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hatte – an Ignazio La Russa, Mitbegründer der neofaschistischen Partei Fratelli d‘Italia, ist zum Symbol für ein Italien geworden, bei dem die antifaschistischen Ursprünge der Verfassung in Vergessenheit geraten zu sein scheinen. Das Wahlergebnis ist auch deshalb besorgniserregend, weil Italien eines der Gründungsländer und weiterhin eines der wichtigsten Mitgliedsländer der Europäischen Union ist. Bei den Ereignissen in Italien handelt es zudem nicht um einen Einzelfall, sondern um einen Teil eines umfassenderen Phänomens. Tatsächlich findet die extreme Rechte auch in anderen europäischen Ländern (etwa Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen, Schweden, Schweiz oder Ungarn) grosse Zustimmung. Ziel dieses Beitrags ist es, die Ergebnisse der italienischen Wahlen einzubetten, ihre Wurzeln in der jüngsten Geschichte der italienischen Politik aufzuzeigen und die Wahlen im Rahmen langfristiger Trends, die auch andere Länder betreffen, zu verstehen. So lässt sich der Aufstieg neofaschistischer Kräfte in Italien vor dem Hintergrund der Legitimationskrise des Neoliberalismus verstehen – dies hat auch für die Linke wichtige Implikationen.1
Bei den Wahlen am 25. September 2022 erhielt die Rechtskoalition aus Fratelli d‘Italia, Lega und Forza Italia insgesamt 44 % der Stimmen und verfügte damit sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat über eine absolute Mehrheit. Fratelli d‘Italia erhielt 26% der Stimmen und ist damit die stärkste Partei. Die Partei Fratelli d‘Italia steht in der neofaschistischen Tradition des Movimento Sociale Italiano (MSI). Diese Bewegung organisierte die ehemaligen Mitglieder des faschistischen Regimes und die Faschisten, die an der Republik von Salò (Mussolinis letzter Hochburg, die am Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis verbündet blieb) beteiligt waren. 1995 ging die MSI in die Partei Alleanza Nazionale über, der auch Giorgia Meloni angehörte, bevor sie die Fratelli d‘Italia gründete. Bei den Wahlen 1996 war Alleanza Nazionale die drittgrösste Partei und wurde vor allem im Süden gewählt (in Sizilien war sie 1996 sogar die zweitgrösste Partei). Alleanza Nazionale war später Teil von Berlusconis Regierungen in Koalition mit Forza Italia und löste sich 2009 auf, um Teil der von Berlusconi geführten Popolo della Libertà zu werden. Die Partei Fratelli d‘Italia hingegen wurde 2012 gegründet und wird seit 2014 von Giorgia Meloni geführt. Das Symbol der Partei ist die dreifarbige Flamme, welche die Fackel auf dem Grab Mussolinis darstellt (die dreifarbige Flamme war bereits das Symbol der MSI und später der Alleanza Nazionale).
Die Lega erhielt weniger als 9 % der Stimmen. Das Ergebnis ist katastrophal, wenn man es mit den 17 % der nationalen Wahlen 2018 und den 34 %, die bei den Europawahlen 2019 erreicht wurden vergleicht. Die Lega hat ihren Wahlerfolg in den letzten Jahren dadurch erlangt, dass sie ihre ursprünglichen regionalistischen Positionen (die im Wesentlichen auf die Abspaltung Norditaliens abzielten) aufgegeben, und stattdessen ultranationalistische Positionen vertreten hat und zu einer Partei geworden ist, die offensiv gegen Einwanderung und Europa eintritt. Allerdings hat Matteo Salvini in letzter Zeit an Unterstützung verloren, weil er während der Pandemie immer wieder widersprüchliche Aussagen machte, die ihn in den Augen vieler Italiener:innen unzuverlässig erscheinen liessen. Auch seine Nähe zu Putin hat ihm seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine insgesamt sicher nicht geholfen. Vor allem aber scheint die Tatsache, dass Salvini die von Mario Draghi geführte „technische“ Regierung unterstützte, der zentrale Grund für die grossen Verluste der Lega zu sein. Dadurch war Fratelli d‘Italia die einzige Partei, die in den letzten Jahren immer in der Opposition geblieben ist. Dies erklärt weitgehend den Wahlerfolg der Fratelli d‘Italia, die von 4 % bei den Wahlen 2018 auf 26 % bei den letzten Wahlen gestiegen sind. Der Rückgang der Lega und der Erfolg der Fratelli d’Italia hängen zusammen: 40% der Wähler:innen, die bei den letzten Wahlen für Meloni gestimmt hatten, stimmten 2018 für Salvini.
Berlusconis Partei, Forza Italia, erhielt mehr als 8 %. Während des Wahlkampfs präsentierte sich Forza Italia als die gemässigte und liberale Säule der Koalition, die in der Lage ist, Stabilitätsgarantien bezüglich Fragen wie dem Austritt aus dem Euro oder der Europäischen Union zu bieten. Auf jeden Fall haben Lega und Fratelli d‘Italia eine vorsichtigere Position in Bezug auf die Beziehungen zur EU – allein schon deshalb, weil Italien es sich nicht leisten kann, die 200 Milliarden Euro aus dem europäischen Konjunkturprogramm abzulehnen, die an Bedingungen geknüpft sind, die Italien erfüllen muss.
In der Opposition erhielt die Movimento 5 Stelle (M5S) 15 % der Stimmen und verlor damit im Vergleich zu den Wahlen 2018, bei denen sie fast 33 % der Stimmen erhalten hatte, stark an Unterstützung. Wie für die Lega spielt hier die Tatsache eine Rolle, dass die M5S die Draghi-Regierung unterstützt hat. Die sozialdemokratische Partito Democratico (PD) erhielt 19 % und blieb damit auf einem historischen Tiefstand. Die neue gemässigt-liberale Koalition der Mitte (der Terzo Polo) unter der Führung des ehemaligen Managers Carlo Calenda und des früheren PD-Regierungschefs Matteo Renzi erhielt fast 8 %. Die radikaleren linken Parteien (wie Potere al Popolo und Democrazia e Autonomia) erhielten zusammen etwas mehr als 1 % – sie erreichten also nicht den Schwellenwert von 3% und zogen damit nicht ins Parlament ein.
Diese Wahlen markieren auch einen Rekord hinsichtlich der Wahlenthaltung (vor allem in Süditalien): Die Wahlbeteiligung lag im Durchschnitt bei 64 % (im Vergleich zu 73 % im Jahr 2018). Das bedeutet, dass fast 40 % der Wahlberechtigten nicht gewählt haben. Neben dem Wahlerfolg der radikalen Rechten und der hohen Wahlenthaltung fällt auch die hohe Volatilität des Wahlverhaltens ins Auge. Dies ist zum Teil auf die allgemeine Krise der politischen Massenparteien zurückzuführen, z.B. durch die Personalisierung der Politik und das Entstehen einer postindustriellen „fluiden“ Gesellschaft ohne stabile politische Identitäten. Aber es zeigt auch eine Krise der Demokratie und der politischen Repräsentation. Und diese Situation ist vor allem ein Problem für die Linke. Wie Marco Revelli schreibt, besteht das Volk nicht mehr aus einer potenziell revolutionären Masse, die ein Versprechen, ein Projekt oder eine Hoffnung teilt: Die Bürger:innen in neoliberalen Gesellschaften bilden desillusionierte und wütende „einsame postmoderne Massen“.2

Ein Sieg, der seine Wurzeln in der jüngsten italienischen Geschichte hat

Aber wie erklärt sich der Erfolg der extremen Rechten, wie die hohe Nicht-Partizipation? Viele Gründe findet man in den jüngsten sozioökonomischen und politischen Entwicklungen. Italien hat mehr als andere europäische Länder unter der Krise des Fordismus und dem Übergang zu einer post-industriellen, wissensbasierten Wirtschaft gelitten. Die Löhne stagnieren seit Jahrzehnten, die Kluft zwischen Nord und Süd hat sich nicht verringert, und die in den letzten Jahren unternommenen Strukturreformen (z.B. die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Rentenreformen, die eine Anhebung des Rentenalters und einen Übergang zu einem überwiegend beitragsfinanzierten System zur Folge hatten) haben nicht die von ihren Befürwortern versprochenen Ergebnisse in Bezug auf Wachstum und Beschäftigung erbracht. Die Zugehörigkeit zur Eurozone hat auch den in der Vergangenheit von italienischen Regierungen häufig angewandten „Trick“ verhindert, die Währung abzuwerten, um die Exporte zu stützen. Dies beschleunigte den Niedergang der italienischen Industrie. Schon vor der Finanzkrise 2006, schätzten 75 % der italienischen Bevölkerung ihr Einkommen im Vergleich zu ihren Erwartungen als unzureichend ein, während sich 2004 mehr als 63 % als „subjektiv arm“ bezeichneten.3
Die durch die Finanzkrise von 2008 ausgelöste Rezession und die als Reaktion darauf beschlossenen Sparmassnahmen haben die Lage nur noch weiter verschärft. Mit der Staatsschuldenkrise und dem massiven Anstieg des „Spread“ (der Differenz zwischen den Zinssätzen für italienische und deutsche Anleihen) eskalierte die Situation. Im Sommer 2011 schrieben der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Jean-Claude Trichet, und der Gouverneur der italienischen Zentralbank, Mario Draghi, einen Brief an den damaligen Regierungschef Silvio Berlusconi, in dem sie Strukturreformen und Sparmassnahmen ankündigten, die die Regierung durchführen müsste, damit die EZB auf den Finanzmärkten italienische Staatsanleihen kauft, um den Spread wieder zu senken. Angesichts der Unfähigkeit seiner Regierung, diese Reformen umzusetzen, sah sich Berlusconi im November 2011 zum Rücktritt gezwungen. Die neue Regierung wurde von Mario Monti geleitet, einem Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Bocconi-Universität in Mailand, der als EU-Kommissar (von 1995 bis 2004) und als Berater für verschiedene Unternehmen und Investmentbanken, darunter Goldman Sachs, tätig war. Seine „technische“ Regierung, die sich aus Professoren und „Weisen“ zusammensetzte, hatte die Aufgabe, die Finanzen Italiens durch die Umsetzung der berühmt-berüchtigten Strukturreformen in Ordnung zu bringen und wurde im Parlament von den Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien unterstützt, während die Lega in der Opposition blieb.
Das Auftauchen dieser technokratischen Regierung, die quasi von aussen aufgezwungen wurde, um das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte in die italienischen Staatsanleihen wiederherzustellen und die mit der spezifischen Aufgabe betraut wurde, unpopuläre, aber „notwendige“ Reformen durchzuführen, hat der italienischen Demokratie, die durch 15 Jahre Berlusconi-Populismus bereits angeschlagen war, den Gnadenstoss versetzt. Für viele Bürger:innen wurde die Entleerung der Demokratie offensichtlich: Im Zeitalter des Neoliberalismus entscheidet nicht mehr das Volk autonom darüber, wer regiert, sondern die Märkte. Wenn eine Regierung – unabhängig davon, ob sie mit der Legitimität einer demokratischen Abstimmung an der Macht ist oder nicht – von den (internationalen) Finanzmärkten nicht akzeptiert wird, ist der Druck so gross, dass sich die Regierung auflöst und eine neue gebildet wird, die den Erwartungen der Märkte besser entspricht. Diese Geschichte erinnert an die Ereignisse in Griechenland, wo die Legitimität einer demokratisch gewählten und durch ein Referendum gestärkten Regierung nicht ausreichte, um die von der Europäischen Union diktierten Sparmassnahmen zu stoppen (obwohl die Folgen der Austerität in Italien sicherlich weniger dramatisch waren als in Griechenland).
Es entstand das Gefühl, dass es ganz egal ist, wen man wählt, da die Politik sowieso wo anders bestimmt wird und der Neoliberalismus alternativlos bleibt. Dass es nur einen Weg nach vorne gibt, hat Mario Draghi an eine Pressekonferenz 2013, als er noch Präsident der Europäischen Zentralbank war, besonders prägnant zum Ausdruck gebracht. Auf die Frage, ob er über die Ergebnisse der bevorstehenden Wahlen in Italien besorgt sei, antwortete er klar und deutlich: Nein, er sei nicht besorgt. Nachdem er daran erinnerte, dass die „Demokratie uns allen wichtig ist“, versicherte er, dass die Haushaltsanpassung in Italien von einem „Autopiloten“ weitergeführt werden würde. Egal, wer die Wahlen gewinne, die nötigen „Strukturreformen“ würden durchgeführt, weil dies der einzige Weg sei, um das Vertrauen der Märkte zu behalten – was im Neoliberalismus bekanntlich wichtiger ist als das Vertrauen der Bürger:innen.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Status quo und die Reaktion auf diese demokratische Krise traten bei den Wahlen 2013 zutage, als die M5S die stärkste Partei im Parlament wurde (mit mehr als 25% der Stimmen). Die M5S wurde die erste Wahl für die „Unsichtbare Mehrheit“, z.B. bei den Arbeitslosen (34,8 %) und den atypisch Beschäftigten (52,6 %).4 Trotz des starken Signals, das vom Wahlerfolg der M5S ausging, vollzog die Mitte-Links-Regierung, die zunächst von Enrico Letta und dann von Matteo Renzi geführt wurde, im Vergleich zur Regierung Monti keinen wesentlichen Kurswechsel (z.B. hat diese Regierung trotz vieler Proteste Arbeitsmarktreformen durchgeführt, die den Kündigungsschutz geschwächt haben).
Diese kontinuierliche Dominanz von neoliberalen Ansätzen bereitete den Boden für eine weitere, noch stärkere „populistische“ Reaktion bei den Wahlen 2018. Wahlsieger wurden die bis dahin in der Opposition verbliebenen Parteien, die M5S und die Lega. Die M5S erzielte gute Ergebnisse in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit und im Süden, wo sie 43,4 % der Stimmen erreichte. Die Lega (die vor allem im Norden gewählt wurde) verzeichnete einen dramatischen Anstieg ihres Stimmenanteils von 4,1 % im Jahr 2013 auf 17,4 % im Jahr 2018, wobei sie in Gebieten mit hoher Zuwanderung besonders gut abschnitt. Zusammen erreichten die M5S und die Lega 58 % der Stimmen der atypisch Beschäftigten (also derjenigen, die z.B. befristete Arbeitsverträge haben) und 66 % der Arbeitslosen. Damit lagen sie weit vor den etablierten Parteien (PD und Forza Italia), die 25 % der atypisch beschäftigten Arbeitnehmenden und 18 % der Stimmen der Arbeitslosen erhielten.5
Das Ergebnis der PD, die mit 19 % auf einem historischen Tiefstand anlangte, zeigt einen tiefen Bruch zwischen der Linken und den Arbeiterklassen: Die PD wurde hauptsächlich von der Mittel- und Oberschicht gewählt. Dieser Entfremdungsprozess hatte schon vor langer Zeit begonnen, beschleunigte sich aber im Zuge der wirtschaftlichen Rezession und der Staatsschuldenkrise drastisch. In der Tat hat die italienische Linke im Laufe der Jahre immer gemässigtere Positionen eingenommen und den Neoliberalismus im Grunde als Notwendigkeit akzeptiert.
Diese Aufweichung des Unterschieds zwischen der Rechten und der Linken aufgrund der Akzeptanz des Neoliberalismus durch die Linke betrifft sicherlich nicht nur Italien (man denke an die Erfahrungen des „Dritten Weges“ im Vereinigten Königreich und die der „Neuen Mitte“ in Deutschland). Aber diese Tendenz ist in Italien besonders prägnant. Die Bewegung zur Mitte hin hat sich seit den 1990er Jahren verstärkt: Um es Italien zu ermöglichen, in die Eurozone einzutreten und dort zu bleiben (d.h. unter Einhaltung der Maastricht-Kriterien zur Begrenzung des Defizits und der Staatsverschuldung) – und in klarer Opposition zu Berlusconis populistischer Rechten – hat die Linke Privatisierungen und Liberalisierungen, Kürzungen der öffentlichen Ausgaben (zum Beispiel durch die Reform des Rentensystems) und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes vorangetrieben.6 Mit dem Mantra „Europa zwingt uns dazu“ wurde die Popularität des europäischen Projekts bei den italienischen Bürger:innen bewusst als Deckmantel genutzt, um die politischen Kosten der Liberalisierung zu verschleiern und den innenpolitischen Widerstand gegen institutionelle Veränderungen zu überwinden.7
Auf jeden Fall haben die Wahlen 2018 den Legitimationsverlust dieser neoliberalen (im wirtschaftlichen Bereich), fortschrittlichen (in Bezug auf Bürgerrechte und kosmopolitisch-multikulturelle Offenheit) und pro-europäischen Position, die von Mitte-Links vertreten wird, deutlich gemacht. Der Sieg von M5S und Lega kann als Reaktion auf den – wahrgenommenen und tatsächlichen – „Souveränitätsverlust“ des Landes interpretiert werden. Die von Giuseppe Conte geführte und von der M5S und der Lega unterstützte Regierung präsentierte sich also als klarer Bruch mit der jüngsten Vergangenheit und mit dem eindeutigen Ziel, den Kurs zu ändern.
Doch trotz der Rhetorik schrieb sich auch diese Regierung in Wirklichkeit in die Kontinuität des Neoliberalismus ein, indem sie z.B. eine stigmatisierende Arbeitspolitik umsetzte.8 Als dann die Lega nach ihrem überwältigenden Erfolg bei den Europawahlen 2019 Conte die Unterstützung entzog, weil sie allein regieren wollte, bildete die M5S überraschend eine Regierung im Bündnis mit der PD. Als auch diese Regierung im Februar 2021 in die Krise geriet, übernahm Mario Draghi das Ruder. Wie in Montis Regierung besetzten auch in Draghis Regierung viele Technokraten (vorwiegend Männer) Schlüsselpositionen, und wie Monti kommt auch Draghi aus dem Umfeld der Grossbanken (wieder Goldman Sachs). Die Regierung Draghi wurde nicht nur von der PD, sondern auch von der M5S und der Lega unterstützt. Auf diese Weise war die Partei von Giorgia Meloni die einzige, die sich dieser erneuten technokratischen Regierung entgegenstellte – und dies ist wahrscheinlich der Hauptgrund für ihren Erfolg im letzten September.

Der Sieg der Rechten als Krise der Linken

Insgesamt ist also ein weitreichender Rechtsruck im gesamten politischen Spektrum zu beobachten. Während auf dem linken Flügel die radikaleren Positionen nicht mehr im Parlament vertreten sind, repräsentieren die gemässigteren Erben der historischen und erfolgreichen Kommunistischen Partei Italiens (die derzeitige PD) nun die Oberschicht und eine wirtschaftspolitisch (neo)liberale politische Agenda. Auf der anderen Seite wählen die Bürger:innen, die bis vor kurzem noch Mitte-Rechts gewählt haben, jetzt die extreme Rechte. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass in Italien eine Partei der extremen Rechten an einer Regierung beteiligt ist (die Lega hatte bereits zusammen mit Berlusconi und der M5S regiert) und es ist auch nicht das erste Mal, dass eine explizit faschistisch inspirierte Partei an der Regierung beteiligt ist (Alleanza Nazionale hatte ebenfalls mit Berlusconi regiert). Aber es ist das erste Mal, dass eine Partei mit neofaschistischem Ursprung eine Regierungskoalition anführt.
Steffen Vogel hat sicherlich Recht: Es ist problematisch, dass es in Italien seit langem keine gemässigte, seriöse, liberal-konservative Rechte mehr gibt, die mehrheitsfähig ist, d.h. die fähig ist, eine Mehrheit zu erreichen ohne sich mit den extremen Rechten verbünden zu müssen.9 Man könnte aber auch sagen, dass in Italien diese seriöse liberale Stärke durch Mitte-Links vertreten wird. Wie die kurze Darstellung der jüngsten Geschichte der italienischen Politik zeigt, waren vor allem die Mitte-Links-Regierungen diejenigen, die neoliberale Reformen (Privatisierungen, Liberalisierungen, Renten- und Arbeitsmarktreformen) umgesetzt haben und politische Figuren aus der Finanzwelt wie Mario Monti und Mario Draghi (die eher zum Bild der seriösen liberalen Rechten passen würden) herzlich unterstützt haben. Aus dieser Sicht ist nicht nur das Fehlen einer seriösen Rechten problematisch, sondern auch das Fehlen einer ernst zu nehmenden Linken.
Beim letzten Wahlkampf hat die PD auf die drohenden Gefahren hingewiesen, falls Italien in die Hände von Meloni gerät. Die PD bezeichnete sich selbst als Verfechterin der Demokratie und Verteidigerin der Verfassung und stellte Giorgia Meloni als ernsthafte Gefahr für das Grundgesetz dar. Aber welche Demokratie und welche Verfassung verteidigt die PD? Hier ist anzumerken, dass der „Konstitutionalismus“ auch ein Pfeiler des Neoliberalismus ist, weil er demokratische Regierungen fesselt und ihren politischen Spielraum in wirtschaftlichen Fragen einschränkt.10 Mit der rhetorischen Strategie, sich als Partei darzustellen, die den Status quo gegen die faschistische Bedrohung verteidigt, hat die PD denjenigen, die ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben bereits missachtet sehen, keine Antwort zu geben. Die PD verachtet den Populismus als etwas Vulgäres, das nur die Ignoranten verführt. Für sie stellt er eine Bedrohung für die Demokratie dar. Damit sendet die Partei eine bestimmte Botschaft an die Bürger:innen: Die wahre Demokratie ist die neoliberale, die die kapitalistischen Imperative respektiert und sich dem Markt anpasst („marktkonform“, wie Angela Merkel einst sagte). Die PD verteidigt diese Demokratie und ihre Verfassung. Die anderen, die diesen Zustand nicht akzeptieren, sind gefährliche Populisten und stellen eine ernsthafte Bedrohung für das Überleben der Demokratie dar. Diesen Diskurs zu führen, bedeutet jedoch, taub zu sein für die Forderung nach politischer Repräsentation und Veränderung eines wachsenden Teils der Bevölkerung. Es bedeutet, den tiefen Bruch zwischen dem Volk und den herrschenden Klassen zu ignorieren.
Die PD fürchtet, dass Melonis Regierung konstitutionelle Reformen verabschiedet, die das Ziel verfolgen, das italienische politische System von einem parlamentarischen zu einem Präsidialsystem zu transformieren, wodurch die Regierung an Macht gegenüber dem Parlament gewinnt. Für die PD wären solche Reformen mit einem Demokratieverlust verbunden. Aber diese Sichtweise scheint zu vergessen, dass eine derartige Transformation de facto bereits stattgefunden hat: Ohne eine formelle Konstitutionsreform hat die Neoliberalisierung des italienischen Staates schon längst die Ermächtigung der Regierung, die Entmachtung des Parlaments und die Schwächung der Demokratie vorangetrieben.11
Das weit verbreitete Gefühl des Unbehagens und des Protestes der Stimmlosen ist also auch das Erbe einer Linken, die nicht in der Lage ist, die Interessen des Volkes gegenüber den starken Kräften der Wirtschaft zu vertreten. Wie Marco Revelli schreibt, ist die Krise der Repräsentation das Ergebnis des politischen Vakuums, das durch die Auflösung der Linken und „ihrer Fähigkeit, den Protest in einen Vorschlag für Veränderungen und eine Alternative zum gegenwärtigen Zustand zu artikulieren“, entstanden ist.12

Der Neofaschismus als passive Revolution

Insgesamt ist also ein weitreichender Rechtsruck im gesamten politischen Spektrum zu beobachten. Währen Italien ist kein Einzelfall, wenn es um Rechtspopulismus in Europa geht. Viele Sozialwissenschaftler:innen und Theoretiker:innen beschäftigen sich schon seit Jahren mit solchen Entwicklungen. Aber eine Erklärung scheint besonders relevant für progressive Politik. Diese lautet folgendermassen; Die wachsende Unterstützung für die extreme Rechte überall in Europa (und in vielen anderen Regionen der Welt ebenfalls) offenbart eine Legitimationskrise, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Krise sowohl des liberalen Kapitalismus als auch der Europäischen Demokratie in den 1920er und 1930er Jahren hat. Wenn das stimmt, so lohnt es sich, kurz auf zwei Autoren aus dieser Epoche zu blicken: Karl Polanyi und Antonio Gramsci.
Der ungarisch-österreichische Wirtschaftshistoriker und Anthropologe Karl Polanyi sieht im Aufstieg des Faschismus in Europa der 1920er und 1930er Jahre eine Reaktion auf die Unsicherheit, die vom globalisierten und liberalisierten Kapitalismus generiert wird. Für Polanyi wird die „Bewegung“, welche die Liberalisierung der Märkte vorantreibt, immer von einer „Gegenbewegung“ begleitet, in der die Gesellschaft den Schutz vor den Märkten fordert. Das Problem ist, dass diese Gegenbewegung eine demokratische Form annehmen (etwa durch die Etablierung eines Sozialstaats und die Regulierung der Wirtschaft im Sinne des Gemeinwohls), sie aber auch die Entstehung des Faschismus begünstigen kann. Der Faschismus gewinnt die Unterstützung der Bevölkerung, indem er Schutz vor unkontrollierbaren Marktkräften verspricht und er hat gleichzeitig die Unterstützung der herrschenden Klassen, weil er deren wirtschaftliche Macht nicht in Frage stellt (wie es der Sozialismus tut). Der Faschismus entsteht also als sozialer Kompromiss zwischen den Beherrschten und den Herrschenden: Erstere geben ihre sozialistischen Bestrebungen sowie ihre politisch-demokratischen Freiheiten auf, letztere ermöglichen wirtschaftliche Sicherheit, Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen.
Polanyi schreibt sein grosses Werk noch während des Zweiten Weltkriegs und möchte es so schnell wie möglich fertig stellen, damit seine Thesen die Politik der Nachkriegszeit beeinflussen (sein Buch erscheint zum ersten Mal 1944).13 Tatsächlich war Polanyis Erklärung zur Entstehung des Faschismus jedoch nicht die einzige, denn in derselben Zeit, in der Polanyi schreibt, vertreten neoliberale Intellektuelle wie Friedrich von Hayek eine ganz andere Meinung (Haykes Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ erscheint genau im selben Jahr wie Polanyis Werk).14 Er sah eine ideologische Kontinuität zwischen Faschismus und Sozialismus/Kommunismus. Das Problem für ihn war die Verbreitung kollektivistischer Ideologien, welche die Mächte des Staates ausweiten wollen; die Lösung sah er darin, den Staat zu entmachten, um den Markt als Bereich der individuellen Freiheit zu fördern.
Je nachdem also, wie man die Ursachen für die Entstehung des Faschismus interpretiert, ergibt sich daraus eine entgegengesetzte Wirtschaftspolitik. Wenn man den Faschismus als gesellschaftliche Reaktion auf den deregulierten Kapitalismus interpretiert, besteht die zu verfolgende Politik darin, dem Staat eine grössere Rolle zuzuweisen (Aufbau eines Wohlfahrtsstaates, Regulierung der Wirtschaft im öffentlichen Interesse usw.), um die Gesellschaft vor dem Markt zu schützen. Versteht man hingegen den Faschismus als eine Variante einer grösseren ideologischen Familie, zu der auch der Sozialismus gehört, dann muss man den Staat auf ein Minimum reduzieren (vor allem Schutz von Eigentumsrechten), um der Interaktion der Individuen auf dem freien Markt so viel Raum wie möglich zu lassen.
Ähnlich wie Polanyi argumentiert auch der italienische Journalist und Philosoph Antonio Gramsci – der seine berühmte Quaderni im Gefängnis schreibt, in dem er wegen seiner oppositionellen Stellung zu Mussolinis Regime inhaftiert ist.15 Für Gramsci ist der Faschismus die Folge der hegemonialen Krise des liberalisierten Kapitalismus. Während diese Krise der Legitimität des Kapitalismus das Potenzial hätte eine sozialistische Revolution zu ermöglichen, ist der Aufstieg des Faschismus eine „passive Revolution“, die genau das vermeidet: Eine passive Revolution ist eine konservative Revolution, die von oben kommt und die zwar einen Teil der Forderungen der beherrschten Klassen berücksichtigt, dies aber mit dem Ziel, die Interessen und die Macht der herrschenden Klassen zu bekräftigen. Während für Hayek Faschismus und Sozialismus gemeinsame ideologische Wurzeln haben, ist für Gramsci der Faschismus der Kompromiss, der entsteht, um eine sozialistische Revolution zu verhindern. Eine passive Revolution ist damit eine „Restaurations-Revolution“ oder eine „Revolution ohne Revolution“, in der die politische und ökonomische Macht der herrschende Klasse stabilisiert wird durch die Konstruktion eines neuen hegemonialen Projekts: Die führenden Gruppen nehmen einen bestimmten Teil der Forderungen „von unten“ auf, die Interessen der Subalternen werden aber „herrschaftsförmig“ integriert mit dem Ziel, die untergeordneten Gruppen in einer subalternen Position fern der Macht zu halten.16
Ähnlich wie zu Polanyis und Gramscis Zeiten besteht heute die Gefahr, dass sich ein neuer Faschismus durchsetzt, weil die Imperative des Kapitalismus für die Bevölkerung unhaltbar werden oder anderweitig ihre Legitimität verlieren. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 sind die Legitimität der herrschenden Eliten und der Konsens für einen globalisierten und liberalisierten Kapitalismus stark in Frage gestellt. Dies zeigt sich in der Entstehung verschiedener sozialer Bewegungen und Protestbewegungen, insbesondere aber im „populistischen“ Vormarsch. Wir befinden uns in einer neuen Phase dessen, was Gramsci „Interregnum“ (eine „Zwischenherrschaft“) nennen würde. In dieser Phase bleiben die Eliten an der Macht, aber ihre Legitimität und die Zustimmung zur bislang vorherrschenden Ideologie sind verloren – oder zumindest stark infrage gestellt. In dieser Hegemoniekrise des – heute – neoliberalen Kapitalismus wird ein tiefer Bruch sichtbar: Die Menschen fühlen sich nicht vertreten, was wiederum zu einer Legitimitäts- und Souveränitätskrise führt. Es herrscht ein weit verbreitetes Gefühl des Unmuts und der Frustration, sowie ein allgemeines Gefühl des Misstrauens und der Missgunst.
Natürlich gibt es auch grosse Unterschiede im Vergleich zur Situation in den 1920er und 1930er Jahren. Der wichtigste Unterschied – für den Diskurs, den wir hier führen – ist, dass heute keine konkrete sozialistische „Bedrohung“ in Sicht ist. Es gibt nur eine allgemeine Unzufriedenheit und eine weit verbreitete Frustration, die keinen Ausdruck in einem kohärenten politischen Projekt finden.
Das Gesellschaftsmodell, das jetzt in der Krise steckt – und welches in Italien vor allem die PD unterstütz und verteidigt – entspricht im Wesentlichen dem, was die Philosophin Nancy Fraser als „progressiven Neoliberalismus“ bezeichnet.17 Der progressive Neoliberalismus verbindet neoliberale Politik im wirtschaftlichen Bereich mit progressiven Positionen im kulturellen Bereich, z.B. kosmopolitische Offenheit für Multikulturalismus, Feminismus oder Rechte von LGBTQI+. Die extreme Rechte stützt ihren Wahlerfolg auf die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Neoliberalismus, doch statt einen Kurswechsel im wirtschaftlichen Bereich anzustreben, konzentriert sie sich auf den kulturellen Bereich und verweigert „Minderheiten“ ihre Rechte. Mit einer für den Rechtskonservatismus typischen Strategie wird der „vertikale“ Kampf zwischen den Mächtigen und den Unterdrückten und zwischen Reich und Arm geführt, indem ein „horizontaler“ Krieg zwischen den Unterdrückten, ein Krieg zwischen den Armen gefördert wird.
Ähnlich argumentiert auch die Philosophin Chantal Mouffe.18 Für sie ist der neoliberale Konsens zwischen Linker und Rechter der Hauptgrund für das Aufkommen des Rechtspopulismus in ganz Europa. Für Mouffe ist es undenkbar, das Element des Konflikts aus dem politischen Leben zu eliminieren: Politik ist immer ein Kampf zwischen gesellschaftlichen Projekten, die sich widersprechen und nicht vereinbar sind. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der „grossen Ideologien“ scheint es keine Alternative mehr zum neoliberalen Kapitalismus zu geben, sodass es keinen grossen Unterschied zwischen Rechter und Linker mehr gibt. Aber dadurch, dass Politik auch immer Konflikt bedeutet, wird sich dieser Konflikt, wenn er von wirtschaftlichen Fragen losgelöst ist, in anderen Bereichen äussern, z.B. bei Fragen von Race.
In einem Kontext, in dem die Linke ihre Aufgabe weitgehend aufgegeben hat, sind die einzigen Parteien, die eine Alternative versprechen, diejenigen der extremen Rechten (wie der Name „Alternative Für Deutschland“ deutlich macht). Die Rechte gewinnt also, weil sie diesem wachsenden Teil der Bevölkerung, der von der Linken ignoriert wird, eine Stimme gibt. Die Mittelschicht gerät zunehmend unter Druck und ist vom Abstieg bedroht. Aber die Arbeiterklasse und die verarmten Mittelschichten wählen nicht mehr links: Entweder wählen sie rechts oder gar nicht.
Die Rechte verspricht den neoliberalen Autopiloten zu stoppen und die Kontrolle über wirtschaftliche und soziale Fragen zurückzuerlangen („taking back control“ war einer der Slogans der Pro-Brexit-Kampagne), um den schwächeren Bevölkerungsgruppen echten Schutz zu bieten, sichere Arbeitsplätze zu schaffen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Trotz dieser Versprechen und der Anti-Elite-Rhetorik fördern die extremen Rechten in Wirklichkeit die Interessen der gesellschaftlichen Elite. Das hat Donald Trump gezeigt und das zeigt auch die aktuelle italienische Regierung mit ihren Kürzungen der sozialstaatlichen Leistungen und den Steuersenkungen. Somit ist der Rechtspopulismus keine „Gegenbewegung“ im Sinne Polanyis, die einen Paradigmenwechsel jenseits des Neoliberalismus bedeutet. Es handelt sich vielmehr um eine „passive Revolution“, die die soziale Wut und die Unzufriedenheit des Volkes sammelt, um sie in eine Richtung zu lenken, die den Status quo eines neoliberalen Wirtschaftssystems und die Interessen der herrschenden Klasse nicht radikal in Frage stellt. Gerade die Rhetorik des „Volks“ ermöglicht es, den Klassenkonflikt herunterzuspielen: Es gibt nur ein homogenes Volk und sein Feind sind die „Ausländer:innen“, innerhalb des Volkes sind alle gleich.
Der Sieg der extremen Rechten bedeutet, dass die neoliberale Politik im wirtschaftlichen Bereich mit einem Angriff auf die Rechte von Frauen, Migrant:innen oder queere Menschen kombiniert wird. Im Wahlkampf hat Giorgia Meloni die christliche Identität Italiens verteidigt und sich gegen die Einwanderung, gegen die Gewährung der Staatsbürgerschaft für ausländische Kinder (auch wenn diese in Italien geboren sind), sowie gegen das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare ausgesprochen. Ein weiteres erklärtes Ziel ihrer Regierung ist es, die Geburtenrate zu erhöhen, auch indem Abtreibungen erschwert werden. Auf der anderen Seite besteht das wichtigste Rezept, das zu wirtschaftlichem Aufschwung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen führen soll, darin, die Steuern für Unternehmen zu senken und die Sozialstaatsleistungen zu kürzen – ein typisch neoliberaler Ansatz. Vielleicht wird dem Schutz der italienischen Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz mehr Aufmerksamkeit gewidmet (z.B. wurde das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung in „Ministerium Unternehmen und Made in Italy“ umbenannt und das Ministerium für Landwirtshaft heisst nun „Ministerium für Ernährungssouveränität“). Dies würde jedoch noch nicht das Ende des Neoliberalismus bedeuten, sondern nur das Aufkommen einer Form des „nationalen Neoliberalismus“.19

Implikationen für die Linke: Wieder die Utopie entdecken

Nach den enttäuschenden Wahlergebnissen der PD diskutiert diese nun in einem nationalen Parteikongress über die Notwendigkeit einer Erneuerung. Leider jedoch geht es bei diesen Diskussionen vor allem darum, wer der neue Parteichef werden soll. Aber welche inhaltlichen Folgen hat der Sieg des Rechtspopulismus für die Linke? Das Wichtigste scheint hier, dass das Phänomen von Populismus allgemein neu betrachtet wird.
Wir erleben heute eine hegemoniale Krise – eine tiefe Legitimationskrise. Der Populismus ist ein Symptom des Demokratieverlusts, da der Neoliberalismus die Demokratie in eine „Post-Demokratie“ mit oligarchischen Tendenzen umgewandelt hat.20 Wie Marco Revelli argumentiert: Der Populismus war die „Kinderkrankheit der Demokratie“ (im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als es noch kein allgemeines Wahlrecht gab, entstand der Populismus als Aufstand der Ausgeschlossenen) und ist heute die „Alterskrankheit der Demokratie“, wobei es mit der Rückkehr oligarchischer Dynamiken in reifen Demokratien diesmal die „an den Rand Gedrängten“ sind, die rebellieren.21
In diesem historischen Kontext sollte die Linke aufhören, den progressiven Neoliberalismus zu verteidigen und sich stattdessen für ein radikales egalitäres Projekt einsetzen, welches den Klassenkampf (in all seiner Vielschichtigkeit) wieder in den Mittelpunkt stellt. Dieser „Linkspopulismus“ würde gerade den Begriff des Populismus rehabilitieren und für sich gewinnen: Anstatt eine abwertende Bedeutung zu haben, würde er zu einem zentralen diskursiven Instrument für ein politisches Projekt der Demokratisierung werden, das den Gegensatz zwischen dem „Volk“ und den herrschenden Klassen zu seinem Ausgangspunkt macht.22
Zentral hierbei ist es, wie man das Volk definiert. Der ausländerfeindliche Populismus der extremen Rechten bezieht sich auf eine Vorstellung vom Volk, die man als „vorpolitisch“ bezeichnen könnte, bei der das Volk eine natürliche und bereits existierende Entität ist: Wenn diese Parteien in Italien sagen, dass sie im Namen des Volkes handeln, meinen sie damit im Wesentlichen heterosexuelle Italiener und Italienerinnen (im ethnischen Sinne). Der Begriff „Volk“ kann jedoch umfassender gestaltet werden, indem ihm eine politische und keine natürliche Bedeutung zugewiesen wird. Dann ist das Volk das politische Subjekt, das zum Regieren berufen ist, das ständig konstruiert und rekonstruiert wird und das alle Menschen einschliesst, die dauerhaft in einem bestimmten Territorium leben – ohne Bezug auf eine ethnische Zugehörigkeit oder sexuelle Orientierung (und man könnte noch andere Beispiele für die Ausschluss-Einschluss-Dynamik anführen).
Man sollte nicht vergessen, dass sich der Begriff Populismus auf das Konzept des Volkes bezieht und damit ein Bestandteil der notwendigen demokratischen Erneuerung sein könnte: Populismus hat den gleichen etymologischen Ursprung wie Demokratie („Populus“ im Lateinischen und „Demos“ im Altgriechischen bedeuten dasselbe: Volk). Selbst der Begriff „Souveränität“ – ein weiterer Begriff, der heute in Italien negativ konnotiert ist, weil er von der Rechten monopolisiert wird – bezieht sich eigentlich auf die Fähigkeit des Volkes, sich selbst zu regieren und damit auf ein grundlegendes Element der Idee der Demokratie.
Man muss das Konzept von Linkspopulismus nicht unbedingt mögen. Ich persönlich finde den Begriff auch nicht ideal und würde lieber von einem erneuerten (ökologischen und feministischen) Sozialismus sprechen. Wichtig ist, dass man die gegenwärtige Konjunktur versteht. Wie zu Gramscis Zeiten stehen wir heute an einem Scheideweg: Auf der einen Seite befindet sich der autoritäre Faschismus, der heute von den ausländerfeindlichen Parteien der extremen Rechten zumindest teilweise vertreten wird, auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit, eine progressive Alternative zu schaffen, die auf einen ernsthaften Demokratisierungsprozess abzielt.23 Die Aufgabe der Linken ist es, dafür zu sorgen, dass Begriffe wie „Volk“ und „Souveränität“ sowie der anti-elitäre Diskurs nicht länger von der Rechten monopolisiert werden, sondern Teil eines fortschrittlichen Projekts werden, das demokratische Erneuerung und die Regulierung der Wirtschaft im Sinne des Gemeinwohls anstrebt.
Anstatt auf kulturellen Antiliberalismus und Migrationskritik zu setzen (wie es die Rechte macht), sollte die Linke zur treibenden Kraft einer sozial-ökologischen Gesellschaftstransformation werden und Klassenkampf mit ökologischer Politik und toleranter „Identitätspolitik“ verbinden. Hierbei sollten Konzepte wie Klimagerechtigkeit in den Vordergrund rücken: Heute ist die Oberschicht eine der Haupttriebkräfte des Klimawandels (die reichsten 10 % der EU-Bevölkerung sind für den gleichen Anteil der EU-CO2-Emissionen verantwortlich wie die gesamte ärmere Hälfte der EU-Bevölkerung) und Emissionssenkungen werden vor allem von ärmeren Schichten getragen (seit 1990 haben sich die Emissionen der ärmeren Hälfte der EU-Bevölkerung um 24 % reduziert, während die Emissionen der reichsten 10 % um 3 % und die der reichsten 1 % um 5 % gestiegen sind.24
Das anspruchsvolle Ziel einer solchen erneuerten Linke sollte nicht weniger sein, als ein neues „Zivilisationsmodell“ zu entwickeln.25 Wie gelingt es jedoch, zu einem solchen politischen Projekt zu gelangen? Auf der kulturell-ideologischen Ebene scheinen progressive Kräfte in Italien den Sinn für die Utopie verloren zu haben. Der momentan einflussreichste Psychoanalytiker Italiens, Massimo Recalcati, argumentiert zum Beispiel, dass die Linke die Realität des endgültigen Todes der sozialistischen Utopie akzeptieren müsse: Die alte Linke solle ihr „historisches Ende“ anerkennen und die „Trauerarbeit ihrer ideologischen Identität“26 durchführen . So verurteilte Recalcati während der letzten Wahlkampagne sowohl den Rechts- als auch den Linkspopulismus.27 Für ihn sind Rechts- und Linksradikale gleich zu setzen. Sie sind gleichermassen gefährlich. Nur die liberale und gemässigte Mitte, die gelernt hat, sich der Realität ohne Illusionen zu stellen, erscheint psychologisch reif.
Doch dieser Diskurs ist problematisch. Erstens stellt dieser Gesichtspunkt die radikale Rechte und die radikale Linke auf eine Stufe, wobei sie die Faschisten von gestern und diejenigen, die heute die Rechte von Minderheiten untergraben wollen, mit denjenigen gleichsetzt, die in der Vergangenheit am Kampf gegen den Faschismus beteiligt waren und heute weiterhin für soziale Gerechtigkeit kämpfen.28 Zweitens verkennt diese Argumentation, dass selbst Matteo Renzi – den Recalcati in seinem Artikel gegen die alte Linke verteidigt – sehr wohl als Populist bezeichnet werden kann aufgrund der Art und Weise, wie er seinen (kurzen) Wahlerfolg aufgebaut hat. Drittens bedeutet der Tod der Utopie, dass die einzige Möglichkeit darin liegt, das Bestehende zu verwalten – und das ist nichts anderes als das Ende der Politik. Wenn es keine Meinungskonflikte mehr über die zu fördernden Ideale und die zu errichtende Gesellschaft gibt, dann gibt es auch keine Politik mehr. Wie Giovanni Jervis – ein Psychiater mit einer wahrscheinlich ganz anderen Sicht der menschlichen Psychologie als Recalcati – schreibt, birgt das Projekt eines Lebens ohne Ideologien die Gefahr einer neuen „pragmatischen anti-ideologischen Ideologie“, die sich nur auf das Praktische konzentriert, die sich auf selbstverständliche Wahrheiten bezieht und sich mit Dingen befasst, die ohnehin getan werden müssen. Diese scheinbar neutrale Ideologie ist jedoch alles andere als neutral: Sie ist politisch konservativ, da „der Appell an den Realismus, der sie kennzeichnet, zur Rechtfertigung für den Zynismus der Mächtigen wird.“29
Für Gramsci ist der Kampf um gesellschaftliche Veränderungen immer mit der Änderung von Denkweisen, Visionen und Vorstellungen von Gesellschaft verbunden (der Kampf um kulturelle Hegemonie). Um ein Gegen-Projekt zur radikalen Rechten zu entwickeln, sollte die Linke in Italien – und darüber hinaus – den Sinn für die Utopie wiederentdecken: Sie sollte wieder fähig werden, den Menschen etwas anderes zu versprechen als „nur“ den Schutz des Status quo. Der Versuch Wähler nur durch die Angst vor dem Faschismus zu mobilisieren – so wie es die PD bei der letzten Kampagne gemacht hat – ist unzureichend und führt zu Misserfolg.
Natürlich geht es nicht darum, auf naive Art und Weise für Utopien zu werben. Was die progressiven Kräfte brauchen, ist, wie Claudio Magris schreibt, ein Gleichgewicht zwischen Utopie und Ernüchterung. Das Scheitern der grossen Ideologien der Vergangenheit ermöglicht es, die totalitäre Degeneration und die Instrumentalisierung der Utopie abzulehnen und stattdessen die Fähigkeit zu stärken, die Ideale von Gerechtigkeit und Demokratie auf unvollkommene Weise zu verwirklichen. Auf diese Weise korrigiert die Enttäuschung die Utopie und stärkt ihr zentrales Element, das für Magris in der Hoffnung besteht. Hoffnung bedeutet keineswegs eine optimistische Sicht der Realität, sondern entspringt im Gegenteil dem Bewusstsein für die vielen Übel, die die Welt bedrängen. Die Hoffnung impliziert ein umfassenderes Wissen über die Realität: nicht nur darüber, wie die Dinge tatsächlich sind, sondern auch darüber, wie sie sein könnten. Hinter jeder Realität gibt es andere Möglichkeiten, die aus dem Gefängnis des Status quo befreit werden können: Hinter den Dingen, wie sie sind, gibt es das Versprechen, wie sie sein könnten, das darauf drängt, geboren zu werden wie „der Schmetterling aus dem Kokon.“30
Autor | Francesco Laruffa ist promovierter Gastwissenschaftler an der Universität Bremen
Kategorie | Diskussion

Fussnoten

1. Der Text basiert auf einem Vortrag, welchen ich für den Rosa-Luxemburg-Club in Braunschweig gehalten habe. Ich danke allen Teilnehmer:innen für die inspirierende Diskussion. Zudem danke ich Matthew Donoghue für sein konstruktives Feedback. Mein grösster Dank geht an Pascal Zwicky für seine wertvollen Kommentare (auch wenn ich sie leider nicht alle hier berücksichtigen konnte, sind sie ein wichtiger Impuls für weitere Reflexionen) und für die Verbesserung der Sprache.
2. Marco Revelli, Finale di partito, Turin 2013, S. 126.
3. Marco Revelli, Poveri noi, Turin, 2005.
4. Emanuele Ferragina, Alessandro Arrigoni & Thees F. Spreckelsen, The rising invisible majority, in: “Review of International Political Economy” 29(1)/2022, S. 134.
5. Emanuele Ferragina, Alessandro Arrigoni & Thees F. Spreckelsen, The rising invisible majority, in: “Review of International Political Economy” 29(1)/2022, S. 135-136.
6. Gianmarco Fifi, From social protection to ‘progressive neoliberalism’: writing the Left into the rise and resilience of neoliberal policies (1968–2019), in: “Review of International Political Economy”, 2022.
7. Emanuele Ferragina, Alessandro Arrigoni & Thees F. Spreckelsen, The rising invisible majority, in: “Review of International Political Economy” 29(1)/2022, S. 127.
8. Davide Monaco, The rise of anti-establishment and far-right forces in Italy: Neoliberalisation in a new guise? in: Competition & Change, 2022.
9. Steffen Vogel, Italien: Der vermeidbare Triumph der Giorgia Meloni, in: „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 11/2022.
10. Stephen Gill, European governance and new constitutionalism: Economic and Monetary Union and alternatives to disciplinary Neoliberalism in Europe, in: New Political Economy, 3(1)/1998.
11. Adriano Cozzolino, Neoliberal Transformations of the Italian State Understanding the Roots of the Crises, Lanham, 2021.
12. Marco Revelli, Populismo 2.0, Turin, 2017, S. 10.
13. Karl Polanyi, The Great Transformation. The political and economic origins of our time, Boston, 2001
14. Friedrich August von Hayek, The Road to Serfdom, Chicago, 1944
15. Antonio Gramsci, Quaderni del carcere, Turin, 2001.
16. Mario Candeias, Passive Revolution, Mario Candeias, Passive Revolution, https://zeitschrift-luxemburg.de/abc/passive-revolution/
17. Nancy Fraser, The old is dying and the new cannot be born. From progressive neoliberalism to Trump and beyond, New York, 2019
18. Chantal Mouffe, On the political, London, 2005.
19. Hans Kundnani, Die verkaufte Wahl. Trump, Brexit und der nationale Neoliberalismus, in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 2/2018.
20. Colin Crouch, Post-Democracy, Cambridge 2004.
21. Marco Revelli, Populismo 2.0, Turin, 2017, S. 3-4.
22. Chantal Mouffe, For a left populism, London, 2019
23. Loris Caruso, Gramsci’s political thought and the contemporary crisis of politics, in: “Thesis Eleven”, 136(1)/2016
24. Oxfam, Confronting carbon inequality in the European Union, 2020.
25. Beat Ringger und Pascal Zwicky, Krise ohne Ende? Eine Auslegeordnung, in: Das Denknetz 012/November 2022, S. 3-5.
26. Massimo Recalcati, L’odio per Renzi e il lutto della sinistra, in: la Repubblica, 17. Juli 2017
27. Massimo Recalcati, La trappola fatale dei due populismi, in: La Stampa, 17. August 2022.
28. Marco D’Eramo, Populism and the New Oligarchy, in: New Left Review 82/2013.
29. Giovanni Jervis, Individualismo e cooperazione. Psicologia della politica, Bari 2002, S. 14.
30. Claudio Magris, Utopia e disincanto, Mailand, 1999, S. 10-16.