Daniel Lampart

Diskussion

Mehr Schutz und soziale Sicherheit in Europa
12.07.2022   |   Die Gewerkschaften seien beim Vollzug der Flankierenden Massnahmen bereit, wenn nötig Anpassungen vorzunehmen, schreibt Daniel Lampart in seinem Diskussionsbeitrag. Allerdings dürfe der Lohnschutz nicht der Binnenmarkt-Logik untergeordnet werden. Darum würden die Schweizer Gewerkschaften darauf bestehen, dass der Lohnschutz ausgenommen wird. Diese Position werde, so Lampart, von den europäischen Schwestergewerkschaften solidarisch mitgetragen. Die EU habe in letzter Zeit wichtige Verbesserungen wie die Mindestlohnrichtlinie beschlossen oder aufgegleist, die auch von der Schweiz übernommen werden sollte. Insgesamt müssten Binnenmarkt und sozialer Schutz im Gleichgewicht sein. Lampart fordert, dass die Flankierenden Massnahmen europaweit verstärkt und nicht geschwächt werden.
Zusammen mit seinen europäischen Schwestergewerkschaften im Europäischen Gewerkschaftsbund setzen sich die Schweizer Gewerkschaften dafür ein, dass es in Europa sozial- und einkommenspolitisch aufwärts geht. Dazu gehört auch, dass die Löhne konsequent vor Dumping geschützt sind. Die Früchte der Europäischen Integration müssen auch bei den Arbeitnehmenden ankommen.
Vor 20 Jahren trat die Personenfreizügigkeit mit der EU in Kraft. In der Schweizer Migrationspolitik begann ein neues Kapitel. Insbesondere Berufstätige mit Daueraufenthalt erhielten mehr Rechte, wodurch sie besser gegen Missbrauch geschützt sind. Allerdings musste die Schweiz die vorgängigen Lohnkontrollen aufgeben. Viel zu wenig bekannt ist, dass das Abkommen auch prekäre Formen der Arbeit erleichtert, welche unsere Löhne und Arbeitsbedingungen gefährden. Firmen aus den EU-Ländern mit wesentlich tieferen Löhnen konnten ab 2004 ihre Dienstleistungen in der Schweiz bis 90 Tage frei erbringen (Entsendungen). Und die Temporärbüros durften neu Kurz- und Kürzestaufenthalter:innen sowie Grenzgänger:innen aus der EU in der Schweiz verleihen. Die Gewerkschaften bezogen deshalb eine klare Position: Sie stimmten der Einführung der Personenfreizügigkeit nur zu, wenn die Löhne geschützt sind. Die Flankierenden Massnahmen wurden eingeführt. Der Bundesrat versprach in der Volksabstimmung einen «umfassenden Schutz vor Lohn- und Sozialdumping»1.
In diesen 20 Jahren wurden die Personenfreizügigkeit und die Flankierenden Massnahmen verschiedenen Härtetests ausgesetzt. Nach der Finanzkrise im Jahr 2007 folgte ab 2010 die starke Frankenaufwertung, welche die Entsendungen noch attraktiver machte und enormen Druck auf die Löhne der Grenzgänger:innen ausübte. In der Coronakrise wurde die Personenfreizügigkeit vorübergehend ausgesetzt.
Die Personenfreizügigkeit und die Flankierenden Massnahmen bestanden diese Härtetests grundsätzlich. Dank den Lohnkontrollen, den Bussen und den anderen Durchsetzungsmassnahmen kamen die Schweizer Löhne nie grossflächig unter Druck. Lohndumping war und ist zwar an den Arbeitsplätzen eine Realität. Jeder fünfte Arbeitgeber bleibt mit zu tiefen Löhnen in den Kontrollen hängen. Aber genereller Lohndruck kann dank den Flankierenden Massnahmen und ihrer präventiven Wirkung verhindert werden.
Trotz der Kontrollen haben die prekären Arbeitsformen der Entsendungen, der Temporärarbeit sowie der Kürzestaufenthalte seit Einführung der Personenfreizügigkeit stark zugenommen. Entsandte und Kürzestaufenthalter leisten heute fast 12 Mio. Arbeitstage pro Jahr. Und die Temporärarbeit hat sich seit Einführung der Personenfreizügigkeit fast verdreifacht und macht bald 3 Prozent des Arbeitsvolumens aus. Dieser Teil der Personenfreizügigkeit wird oft übersehen. Die Entsendungen sind eigentlich eine kleine «Dienstleistungsfreiheit» und keine Personenfreizügigkeit. Hier kommen die Angestellten über ihre Firmen in die Schweiz und sind nicht in der Schweiz angestellt. Sie werden auf dem deutschen oder dem polnischen Arbeitsmarkt rekrutiert und haben Löhne, die wesentlich tiefer sind als in der Schweiz. Gewerkschaftlich können sie nicht organisiert werden, weil sie nur vorübergehend in der Schweiz tätig sind. Dementsprechend grösser ist das Dumpingpotenzial.
Die neuere Arbeitsmarktforschung wirft ein kritisches Licht auf diese Arbeitsformen. Sie weisen darauf hin, dass Entsendungen eher substitutiv als komplementär sind. Das heisst: Sie stehen in Konkurrenz zum inländischen Arbeitsmarkt. In handwerklichen Berufen («blue collar») Frankreichs oder Belgiens führt die Entsendung zu tieferen Löhnen und zu einer geringeren Beschäftigung von Arbeitnehmenden aus dem Inland. Das sind allerdings zwei Länder, die bei weitem nicht so gute Flankierende Massnahmen haben wie die Schweiz. In der Schweiz werden viel mehr Entsendefirmen kontrolliert. Es gibt Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen. Und die Löhne werden auch durchgesetzt.
Die Schweiz hat die höchsten Löhne in Europa. Und wir sind sprachlich offen wie kein anderes europäisches Land. Die Firmen in den Nachbarländern können in ihrer Landessprache offerieren. Darum brauchen wir den besten Lohnschutz. Und darum müssen wir diesen Lohnschutz auch verteidigen.
Das klingt zwar selbstverständlich, ist es aber leider nicht. Die Flankierenden Massnahmen haben viele Gegner. Die schlimmsten sind im Inland. Allen voran die SVP, welche den Lohnschutz regelmässig angreift und zu diskreditieren versucht. Oder die FDP-Kreise um Bundesrat Cassis, welche die Flankierenden über das Rahmenabkommen abbauen wollten. Aus der EU droht Gefahr von den Arbeitgeberverbänden, welche für ihre Firmen über tiefe Löhne und Preise Marktanteile in der Schweiz gewinnen wollen.
Viel zu wenig bekannt ist aber, dass sich hinter der Frage des Lohnschutzes auch ein strukturelles Problem der europäischen Integration verbirgt, welches in der EU beispielsweise von Dieter Grimm oder von Martin Höpner im Detail analysiert wurde. Der EU-Binnenmarkt geht sozialen, nationalen Schutzdispositiven vor. Diese Logik geht auf die Entscheide des Europäischen Gerichtshofs in den Fällen Van Gend&Loos und Costa/Enel 1963/4 zurück. Soziale Massnahmen, die den Binnenmarkt einschränken können, sind rechtfertigungsbedürftig. Und das Gemeinschaftsrecht kann direkt angewendet werden und nationales Recht – auch Verfassungen – übersteuern.
Eine Unterstellung des Schweizer Lohnschutzes unter das Europäische Recht und den Europäischen Gerichtshof wäre deshalb mit erheblichen Risiken verbunden. Zumal der Schweizer Lohnschutz einzigartig in Europa ist. Er ist zu einem grossen Teil privatrechtlich – indem die Gesamtarbeitsverträge durch die Sozialpartner durchgesetzt werden. In den EU-Ländern ist primär der Staat für die Durchsetzung der Löhne zuständig. Das Schweizer Kontrollniveau ist – wegen den hohen Löhnen und dem einfachen Marktzugang für ausländische Firmen – im Vergleich zu den EU-Standards hoch. Dazu kommen besondere Schutzinstrumente wie die Kaution, die Voranmeldefrist oder die Dienstleistungssperre. Wir sind Europameister im Lohnschutz – weil wir höchste Löhne haben und den wirksamsten Schutz brauchen. Bei einer Unterstellung unter die EU-Binnenmarktlogik sind die Risiken enorm, dass unser Lohnschutz substanziell unter Druck kommen würde. Die österreichischen Gewerkschaftskolleg:innen können ein Lied davon singen. Sie mussten ihre Voranmeldefrist abschaffen und dürfen nur noch tiefere Bussen verhängen.
Daran hat sich auch in jüngster Zeit leider wenig geändert. Die EU-Kommission hat die Flankierenden Massnahmen in den Mitgliedstaaten untersucht und gegen 24 Länder «Vertragsverletzungsverfahren» eröffnet. Die Kommission «will dafür sorgen, dass die geltenden Vorschriften weiterhin die Entsendung von Arbeitnehmern im Binnenmarkt ohne unnötige Hindernisse für die Arbeitgeber ermöglichen und gleichzeitig die Rechte entsandter Arbeitnehmer gewährleistet werden.» (Communiqué vom 21. Juli 2021). Zur Bekämpfung von Lohndumping in den Entsendestaaten steht kein Wort. Die Ergebnisse sind zwar noch nicht öffentlich. Aber wir wissen mittlerweile, dass Österreich, Frankreich und Belgien aufgefordert werden, Teile ihrer Flankierenden Massnahmen aufzugeben oder anzupassen.
Weil die Gefahren für den Lohnschutz bei den Verhandlungen zum Rahmenabkommen zu gross geworden sind, hat der Bundesrat den Prozess im Mai 2021 abgebrochen. Für das weitere Vorgehen ist klar, dass der Schweizer Lohnschutz gesichert werden muss, wenn es einen neuen Anlauf gibt. Die Gewerkschaften sind beim Vollzug der Flankierenden bereit, wenn nötig Anpassungen vorzunehmen. Doch der Lohnschutz darf nicht der Binnenmarkt-Logik untergeordnet werden. Darum bestehen die Schweizer Gewerkschaften darauf, dass der Lohnschutz ausgenommen wird. Diese Position wird von den europäischen Schwestergewerkschaften solidarisch mitgetragen.
In Europa muss es sozial- und einkommenspolitisch aufwärts gehen. Sowohl in der Schweiz als auch in der EU. Die EU hat in letzter Zeit wichtige Verbesserungen beschlossen oder aufgegleist. So beispielsweise die Mindestlohnrichtlinie. Die Schweiz muss diese Fortschritte übernehmen. Andererseits ist auch klar, dass der Lohnschutz in ganz Europa besser werden muss und nicht dem Binnenmarkt untergeordnet werden darf. Binnenmarkt und sozialer Schutz müssen im Gleichgewicht sein. Die Flankierenden Massnahmen müssen europaweit verstärkt und nicht geschwächt werden.

Fussnoten

1. Abstimmungsbüchlein zur Volksabstimmung vom 21. Mai 2000, S. 11
Zur Person: Daniel Lampart ist Chefökonom und Sekretariatsleiter des Schweizer Gewerkschaftsbundes.
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