Krise und „Normalität“
26.01.2023 | Krisendiskurse haben Hochkonjunktur. In der Denknetz-Zeitung vom November 2022 erschienen zwei längere Texte zum Thema und selbst in der NZZ taucht jüngst immer wieder der Begriff der Polykrise auf. Tatsächlich ist es so, dass sich diverse krisenhafte Entwicklungen zuspitzen und zunehmend überlagern. Die gesellschaftliche Reaktion, die Adaption an die real veränderten Verhältnisse, verläuft allerdings, wenn überhaupt, ziemlich träge. Um das, was da passiert – oder eben nicht passiert – besser zu verstehen, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf das Konzept der «Normalität» zu werfen.
Wie geht eine Gesellschaft damit um, wenn ihr die bisherige Normalität abhandenkommt, wenn das, was die Mehrheitsgesellschaft als normal erachtet, zunehmend in Frage gestellt wird? Dieser Frage geht der deutsche Soziologe Stephan Lessenich, seit 2021 Direktor des renommierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, in seinem neuen Buch «Nicht mehr normal – Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs»1 nach.
Normalität besteht, so Lessenich, aus drei Dimensionen – einer normativen, einer empirischen und einer evaluativen:
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Die normative Dimension betrifft die Frage, was Menschen tun sollen. Was sind die Regeln und Gesetze, die den «normalen» Rahmen vorgeben?
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Die empirische Dimension fragt, was die Menschen effektiv tun. Was hat sich als «normales» Handeln etabliert resp. welches Handeln wird durch die gesellschaftlichen Realitäten erzeugt?
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Die evaluative Dimension beschäftigt sich damit, wie Menschen in ihrem alltäglichen Handeln das bewerten, was normativ vorgegeben und empirisch verbreitet ist. Denn nur «was gesellschaftlichen Mehrheiten als normal gilt, kann tatsächlich auch normative Wirksamkeit für sich beanspruchen und sich als empirische Wirklichkeit halten» (Lessenich 2022: S. 25).
Der Druck auf eine Veränderung des Normalen steigt insbesondere dann, wenn Regeln (Normen, Gesetze) und Regelmässigkeiten (des individuellen und kollektiven Handelns) nicht (mehr) deckungsgleich sind und die Leute beginnen, die alte Normalität zu hinterfragen. Solange die «gesellschaftliche Normalität» weitgehend unbestritten ist, ist sie kein Thema. Sie prägt das Leben dann als unbewusste Leitlinie im Hintergrund. Bei Lessenich heisst es: «Das vermeintlich Normale wird im Grunde immer nur und erst dann gesellschaftlich zum Thema, wenn es im Entschwinden begriffen ist oder zu sein scheint – und wenn sich zumindest relativ machtvolle soziale Gruppen von dem drohenden Verlust erfahrener und empfundener Normalität unmittelbar betroffen fühlen» (ebd.: S. 22). Aus diesen Worten wird deutlich, dass Normalität, deren Herstellung und Aufrechterhaltung, auch ganz wesentlich mit Interessen und Privilegien zu tun hat. «Das ist ja nicht mehr normal!», ist nicht zuletzt der anklagende Ausruf derer, die etwas zu verlieren haben, die sich durch den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Wandel bedroht sehen.
Wenn von Normalität die Rede ist, gilt es also stets zu fragen, wessen Normalität gemeint ist. Es sind nicht die Lebensrealitäten der Armutsbetroffenen, der Prekarisierten, der Arbeitslosen, der alleinerziehenden Mütter oder der Sans-Papiers, die das, was als gesellschaftliche Normalität gilt, prägen. Auch nicht die Superreichen. Der Normalitäts-Benchmark ist häufig die Mittelschicht, der gerade auch in der Schweiz viel bemühte Mittelstand. Die Normalität der Mitte wird gemeinhin als Normalität aller angesehen. Für die unteren Schichten funktioniert das solange, als ein Aufstieg in die Mitte zumindest halbwegs realistisch erscheint. Und die Oberschicht ist nicht unglücklich darüber, wenn sich das Konstrukt der mittelständischen Normalität quasi als Tarnnetz über ihren Reichtum, ihre Privilegien und ihre Macht legt.
Normalität durch soziale Praxis
Mit der Frage nach nicht-hinterfragter Normalität gerät die ideologische Dimension von Herrschaft ins Blickfeld. Das unbestritten Normale bedeutet kulturelle Hegemonie; Normalitätsproduktion und -aufrechterhaltung geschieht auch über die ideelle Ebene, womit Kultur, Medien oder Bildung angesprochen sind. Gleichzeitig liegt Normalität nicht bloss in den strukturellen Gegebenheiten; sie wird auch nicht einfach von oben herab, durch die Herrschenden, gezielt hergestellt. Für Lessenich ist entscheidend, dass «den alltäglichen Praktiken ganz normaler Menschen eine zentrale Rolle zukommt» (ebd.: S. 26-27/Hervorheb. im Original). Normalität entsteht massgeblich in der alltäglichen sozialen Praxis der Menschen, dadurch, dass sie gelebt wird.
Normalität ist ein zähes Gefüge, das sich selbst bestätigt und Veränderung widersetzt. Lessenich erklärt das mit einer sozialen Wechselwirkung: «Normalität ist sozial strukturiert, insofern sie erst aus den tatsächlichen Handlungen und den nicht minder «wirklichen» Vorstellungen real existierender Menschen hervorgeht. Und sie wirkt sozial strukturierend, indem sie ihrerseits die realen Handlungen und Vorstellungen der Menschen prägt» (ebd.; S. 28/Hervorheb. im Original). Am Beispiel der Finanzmärkte und -krisen zeigt Lessenich, wie Praxis und Struktur interagieren und dazu führen, dass ein geradezu wahnsinniges System «normal» geworden ist. Das System wird nicht allein durch die globalen Finanzakteure und (fehlende resp. falsche) politische Regulierungen gefüttert und am Leben gehalten. An die potentielle Leser:innenschaft seines Buches – Menschen aus der besitzenden Mittelschicht – gerichtet, schreibt er: «Es waren – und sind – die Leute, die dem Finanzkapital in die Hände spielen: Menschen wie du und ich, die gerne mehr konsumieren möchten, die ein Haus oder eine Wohnung ihr Eigen nennen und die nächste Aktienhausse nicht verpassen wollen, die auf das günstigste Angebot, die höchste Anlagerendite und überhaupt auf den jeweils besten Deal spekulieren. Es ist der kleine Finanzkapitalist in uns, der das grosse Rad am Laufen hält» (ebd.: S. 54-55/Hervorheb. im Original).
Zur Stabilität des vermeintlich Normalen trägt zudem bei, dass Normalität in den Augen vieler Sicherheit, Verbindlichkeit, Orientierung und Halt verspricht. Die allermeisten Menschen streben Verhältnisse an, die das garantieren können. Selbst Revolutionär:innen, die die herrschende Normalität stürzen wollen, geht es letztlich meist darum, die alte durch eine neue, eine bessere stabile Normalität zu ersetzen.
Das Normale kann nicht länger normal sein
Die Folgen der Klimaerwärmung, die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und offenkundig gewordenen Abhängigkeiten bei der Energieversorgung, Finanzkrisen, die Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse, aber auch die Kritik an weissen und männlichen Privilegien durch postkolonial-antirassistische und feministische Bewegungen stellen die Normalität der letzten Jahrzehnte radikal und umfassend infrage. Auch wenn sich die alte Normalität dem Wandel noch widersetzt – die Diskrepanzen zwischen sozialer Praxis und Normen werden grösser und vor allem wächst auch das Bewusstsein der Menschen, dass das Normale nicht mehr länger normal sein kann.
Die obigen Ausführungen liefern jedoch auch Hinweise darauf, weshalb das Wegkommen von einer «imperialen Lebensweise»2 (Konsum, Auto, Fliegen, Geringschätzung der Care-Arbeit etc.), die in reichen Ländern wie der Schweiz weitgehend als normal gilt, so schwierig ist. Es sind auch hier nicht nur Profitinteressen von Grossunternehmen oder Machtkalküle herrschender Eliten, die den Status quo stützen und schützen, sondern ebenso die damit eng verwobene soziale Praxis grosser Teile der Bevölkerung. Die eigentlich unhaltbare Normalität wird von der Mehrheit der Bevölkerung ganz einfach gelebt: weil es «alle» so machen, weil man es sich leisten kann und auch weil es für viele relativ bequem ist.
Wird aus einer sozialkritischen Sicht analysiert, was sich weshalb als Normalität durchsetzt, ist stets auch das konkrete Verhalten der wirtschaftlichen und politischen Eliten zu analysieren. Aktuell nutzen etwa fossile Konzerne die Furcht vor Energieengpässen schamlos aus, erhöhen die Preise und fahren riesige Profite ein (deshalb sind Übergewinnsteuern absolut berechtigt). Auch im Immobiliensektor wird versucht, die Kosten der Krisen (Energiekosten, Hypothekarzinsen) auf die Konsumierenden und Mietenden abzuwälzen. Zudem verlangen Unternehmen wie die Axpo, die jahrelang nach Liberalisierung und Deregulierung gerufen haben, nun lautstark nach staatlicher Hilfe. Oder es werden, um die Abhängigkeiten vom kriegsführenden Russland zu reduzieren, neue fossile Infrastrukturen auf- und Verbindungen zu anderen autoritären Regimen (v.a. im arabischen Raum) ausgebaut. Wenn sich Normalitäten destabilisieren, ist das immer auch eine Gelegenheit, um Geschäfte zu machen und neue Machtachsen zu etablieren.
Der eigentliche Motor, der unsere Gesellschaften an- und über ihre eigentlichen Grenzen hinaustreibt, ist die kapitalistische Organisationsform resp. der damit verbundene strukturelle Zwang zu Kapitalakkumulation, zu Wachstum (vgl. ebd.: S. 80-101). Die kapitalistische Wirtschaftsweise ist auf die beständige Ausbeutung von Arbeit (gerade auch unbezahlter Sorgearbeit) und Natur angewiesen. Die bereits erwähnte «imperiale Lebensweise» ist die heute – vorab im «Westen» – nach wie vor gelebte Normalität dieses globalen Systems. Innert eines erdzeitgeschichtlichen Wimpernschlags hat der auf fossilen Energieträgern basierte globale Kapitalismus technologischen Fortschritt, breite Wohlstands- und Demokratiegewinne und gleichzeitig auch unsägliches Leid in die Welt gebracht. Und er hat einen rasanten «menschgemachten» Klimawandel in Gang gesetzt, der – nicht nur! – die menschliche Existenz auf dem Planten gefährdet.
Wenn wir uns heute auch hierzulande mit (potentiellen) Knappheiten, Rationierungen oder (Konsum-)Verboten konfrontiert sehen, ist das für die allermeisten Menschen kein gewollter Zustand, keine emanzipatorisch verwirklichte Utopie. Nichtsdestotrotz ist diese quasi aus der Not (Klima, Krieg, Ungleichheiten etc.) geborene neue Realität gekommen, um zu bleiben: Es ist davon auszugehen, dass der Umgang mit materiellstofflichen Knappheiten auf einem sich erhitzenden und stark bevölkerten Planeten zu einem bestimmenden Merkmal der zukünftigen Normalität werden wird. Eine wichtige Aufgabe demokratischer Gesellschaften besteht deshalb darin, diesen «erzwungenen» Wandel in den Rahmen eines guten Lebens für alle einzupassen. In eine zukunftsfähige, eine solidarische und ökologisch nachhaltige Normalitätsordnung.
Auf der Suche nach einem neuen Zivilisationsmodell
Lessenich macht sich und uns im Schlusskapitel zunächst wenig Hoffnung. Er befürchtet, dass die notwendige Überwindung der alten Normalität, der Abschied von der «imperialen Lebensweise», in zornigen, unbarmherzigen, durch Ressentiments geprägten Konflikten münden wird – Anzeichen davon beobachten wir bereits weltweit. Auch der französische Soziologe Pierre Rosanvallon3 sieht die Gefahr, dass demokratische Gesellschaften angesichts der heutigen Krise des hegemonial Normalen (resp. der dadurch verursachten Unsicherheiten und Bedrohungen) durch populistische Kräfte à la Trump vergiftet werden und es mittelfristig zu einer autoritären Umformung der Demokratie kommen kann. Es gilt also Wege zu finden, um die Ängste, Emotionen und individuellen Erfahrungen der Menschen ernst zu nehmen (auch wenn sie sich vielleicht statistisch nicht zeigen) und daraus eine Politik der Veränderung abzuleiten. Dies im expliziten Unterschied zu populistischen Kräften, welche die Welt nicht gestalten und zukunftsfähig umbauen möchten, sondern sich mit einer «Demokratie der Ablehnung und Beschwörung» (Rosanvallon 2022: S. 177) zufrieden geben.
Sowohl bei Rosanvallon wie auch bei Lessenich kommt deutlich zum Ausdruck, dass es heute darauf ankommt, sich den Realitäten zu stellen und «die Macht der Illusion zu brechen – der Illusion, dass wir mit den alten Rezepten weiter-, ja auch nur ansatzweise durchkommen könnten» (Lessenich 2022: S. 129). Dazu gehört es auch, den «Eigenanteil der gesellschaftlich Handelnden an der Konstitution und Reproduktion der sie bindenden Strukturen» (ebd.: S. 130) zu anerkennen. Doch nicht nur die oder der Einzelne ist diesbezüglich gefordert, sondern auch die Medien, Expert:innen und vor allem die Politik. Sagen, was (weshalb) ist – lautet die Devise. Es gilt den Menschen zu ermöglichen, sich ein realistisches Bild davon zu machen, was den heutigen Bedrohungen zugrunde liegt und was alles unsicher ist. Die demokratische Wette besteht darin, den Menschen einen verantwortungsbewussten Umgang mit den anstehenden Herausforderungen zuzutrauen, statt sie populistisch, verschwörungstheoretisch oder auch «expertokratisch» einzulullen, sie zu manipulieren, Wahrheiten zu verschleiern. In einer Demokratie, die den Menschen etwas zutraut, wird Vertrauen aufgebaut – und das ist eine zentrale Voraussetzung für einen emanzipatorischen und erfolgreichen Umgang mit den Krisen.
Lessenich (2022: S. 130) schreibt: «Was ansteht, ist eine veritable Transformation des gesellschaftlich Imaginären: ein wahres Neudenken der kollektiven Möglichkeiten einer Befreiung von Zwängen, die uns immer noch als Freiheiten erscheinen – obwohl sie uns doch an eine Welt binden, die keine Zukunft mehr hat». Neue stabile Verhältnisse müssen – das haben nicht zuletzt die «identitätspolitischen» Auseinandersetzungen der letzten Jahre gezeigt – als gerecht erachtet werden, für soziale Sicherheit sorgen und dem einzelnen Menschen zu Anerkennung und einem würdevollen Leben verhelfen. Das sind die normativen Leitlinien, die linke Politik seit jeher prägen, die aber unter sich teils radikal verändernden Bedingungen auf dem Planeten Erde neu zu denken sind. Denn das ist die wirkliche Herausforderung – und vielleicht auch eine weltgeschichtliche Chance: Wir alle sind in bislang noch nicht dagewesenem Masse dazu aufgefordert, Verantwortung zu übernehmen und eine neue Normalität jenseits der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und der vorherrschenden Mensch-Natur-Dichotomie zu etablieren. Gesucht ist ein neues Zivilisationsmodell, eine universell-planetare Normalität für die Menschheit und die nicht-menschliche Natur.4
Autor | Pascal Zwicky ist wissenschaftlicher Sekretär des Denknetz
Kategorie | Diskussion
Fussnoten
1. Lessenich, Stephan (2022): Nicht mehr normal. Ge-
sellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Berlin: Hanser.
2. Das Konzept der «imperialen Lebensweise» stammt von Ulrich Brand und Markus Wissen. Siehe: Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: oekom.
3. Rosanvallon, Pierre (2022): Die Prüfungen des Lebens. Hamburg: Hamburger Edition.
4. Vgl. grundlegend u.a. Chakrabarty, Dipesh (2022): Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Berlin: Suhrkamp. Das im Dezember 2022 in Montreal verabschiedete Weltnaturschutzabkommen ist in diesem Zusammenhang zumindest ein konkreter Anfang des notwendigen Wandels