Urs Fankhauser

Diskussion

Krieg in der Ukraine: Die Linke im Stresstest
24.10.2022   |   Die Linke hat ein Problem: Eine militärische Gross- und Atommacht startet einen Angriffskrieg gegen ein unterlegenes Land – und es sind nicht die USA. Obschon sich auch in der Schweiz die offiziellen Stellungnahmen der linken Bewegung in ihrer grossen Mehrheit klar auf die Seite der Ukraine stellen, ist das Unbehagen in der Linken spürbar, europaweit. Warum fiel die Reaktion auf die Eskalation bei einigen so verhalten aus? Warum besteht Verunsicherung und Unsicherheit? Welche Positionierungen lassen sich feststellen? Weshalb gibt es gegensätzliche Meinungen?
Die Linke hat ein Problem: Eine militärische Gross- und Atommacht startet einen Angriffskrieg gegen ein unterlegenes Land – und es sind nicht die USA1. Obschon sich auch in der Schweiz die offiziellen Stellungnahmen der linken Bewegung in ihrer grossen Mehrheit klar auf die Seite der Ukraine stellen, ist das Unbehagen in der Linken spürbar, europaweit. Viele von denen, die sich beispielweise beim US-Krieg gegen den Irak auf der Strasse einfanden, waren an den Demonstrationen im Frühjahr 2022 nicht dabei. Warum fiel die Reaktion auf die Eskalation bei vielen so verhalten aus? Warum besteht so viel Verunsicherung und Unsicherheit? Welche Positionierungen lassen sich feststellen? Weshalb gibt es gegensätzliche Meinungen?
Die zweite Phase des Ukrainekriegs (die erste begann 2014) dauert nun schon über ein halbes Jahr. Ein Ende ist trotz ukrainischer Rückeroberungen vorerst nicht abzusehen, da sowohl Russland als auch die Ukraine aktuell viel zu weit von ihren jeweiligen Kriegszielen entfernt sind, um den Krieg beenden zu können oder zu wollen. Für die Ukraine geht es um den Verlust von Ressourcen (Bevölkerung, Staatsterritorium); zu Beginn2 des Krieges gar der Eigenstaatlichkeit. Für Russland um einen weiteren massiven Gesichtsverlust (für das Regime Putin selbst wohl um Kopf und Kragen). Deshalb wird der Krieg erbittert weiter geführt. Und das Problem erledigt sich für die Linke nicht „von selbst“. Die Positionierung der Schweizer Linken in diesem Krieg erfordert eine weitere Klärung im Hinblick auf anstehende politische Debatten3. Den nachfolgenden Überblick verstehe ich als Aufforderung zur kritischen Reflexion und Diskussion.
Grundsätzlich hat sich die Schweiz weitgehend mit der angegriffenen Ukraine solidarisiert. Die Bevölkerung reagierte betroffen und unterstützend. Nie zuvor wurden so viele Flüchtlinge so positiv aufgenommen.4 Etwas länger brauchte die Regierungsseite. Hier war Druck von aussen erforderlich, damit auch die Schweiz die umfangreichen Sanktionen gegen Russland übernommen hat. Darüber, dass die neutrale Schweiz sich nicht an Waffenlieferungen beteiligt, herrscht aussen- und innenpolitisch ein breiter Konsens. Diesen Konsens gibt es aber auch hinsichtlich der konsequenten Anwendung der wirtschaftlichen Sanktionen: Die Schweiz könnte mehr Engagement zeigen.

Wie hältst du es mit der Ukraine?

Obwohl die westlichen Regierungen den ukrainischen Abwehrkampf weitgehend unterstützen, wird diese Position in der Bevölkerung durchaus kontrovers diskutiert, auch in unserem Land. Während sich die meisten linken Parteien5 unmissverständlich auf die Seite der angegriffenen Ukraine stellten, gab und gibt es in der Schweiz auch linke Stimmen, die sich damit schwer tun.
Gewiss kommen ukrainekritische Stimmen in erster Linie von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen: Die AfD in Deutschland, das RN in Frankreich, die FPÖ in Österreich (nicht jedoch Lega und Fratelli d‘Italia). In der Schweiz ist es die SVP, die unter der Führung des Duos Blocher & Martullo die russische Fahne schwenkt6. Dies ist angesichts der ideellen Nähe und der teilweise engen Beziehungen dieser Parteien zum Putin-Regime nicht erstaunlich7. Dieses Milieu wurde von Russland seit Jahren bearbeitet und gefördert.8 Die verbindenden Werte sind die „Rettung des Abendlandes“ (Islamophobie, Betonung formal christlicher Werte), die Verteidigung des Patriarchats (was Antifeminismus, Homophobie und die Bekämpfung nicht-binärer Geschlechtsidentitäten einschliesst), ethnozentristischer Nationalismus9 etc. Hinter dieser ideologischen Verbundenheit stehen handfeste wirtschaftliche Interessen, im Falle der Schweiz sind dies vor allem die substanziellen Finanzgeschäfte mit russischen Rohstoffen bzw. dem Privatvermögen von russischen Oligarchen.
Hier soll es jedoch nicht um Gegensätze im bürgerlichen Lager gehen, sondern um Differenzen im grünen und linken Spektrum. Woher kommen diese? Warum werden sie oftmals nur zögerlich ausgesprochen? Warum nicht vertieft diskutiert? Es gibt gewisse Parallelen zur Corona-Debatte. Auch dort kam der stärkste Widerstand aus dem nationalkonservativen Lager, verstärkt durch allerlei verschwörungstheoretischen und esoterischen Mist, für welchen offenbar auch Menschen zugänglich waren, die sich zuvor dem linksgrünen Milieu zurechneten10. Waren linke und grüne Parteien jedoch damals nur an ihren ausfransenden Rändern betroffen, reicht der Dissens bezüglich des Ukrainekriegs diesmal viel weiter in linke und grüne Milieus hinein – dies legen die Positionierungen linker Parteien (PdAS)11 oder einzelner Exponent:innen, persönliche Erfahrungen und Diskussionen in sozialen Medien nahe. Darüber muss gesprochen werden.

Ein klarer Fall?

Ausgehend von linken Grundwerten wie Solidarität, Gerechtigkeit, Freiheit, Selbstbestimmungsrecht12 und Respekt für die Menschenrechte scheint es naheliegend, in diesem Krieg für die Ukraine einzustehen. Diese Motivationslage müsste durch die imperialistischen und teilweise offen faschistoiden Narrative aus Moskau13 sowie die terroristische Art der Kriegsführung durch die russischen Armeeverbände (Drohung mit Atomwaffen, Einbezug von Atomanlagen ins Kriegsgeschehen, gezielte Schläge gegen die Zivilbevölkerung, Vernichtung ukrainischer Infrastrukturen, schlimmste Menschenrechtsverbrechen in den besetzten Gebieten) eigentlich ja noch verstärkt werden. Wir wissen aber alle, dass dem nicht so ist. Es gibt Antiimperialist:innen und Feministinnen, welche bezüglich des Ukrainekriegs zuweilen mit ähnlichen Argumenten fechten wie Rechtspopulisten. Während andere Linke sich auf derselben Seite aufbrechender Gräben finden, wie NATO-Generäle. Diese Bruchlinien entstanden nicht erst durch den Angriffskrieg, dieser hat sie aber aufgerissen. Eine irritierende Erfahrung ist diese neue „Unordnung“ gewiss für alle Betroffenen.
Es gibt in der Debatte um den Ukrainekrieg in der Linken nur marginale Stimmen, die unverhohlen für die russische Seite Partei nehmen. Der Chor des Relativismus ist jedoch vielstimmig. Es gibt unterschiedliche linke Denktraditionen und damit verbundene Narrative, die letztlich aber zu ähnlichen Haltungen führen. Das tönt dann so: „Verantwortung und Schuld für den Krieg trägt die Russische Föderation. ABER…“ . Ich werde im Folgenden versuchen, einige Narrative zusammenzutragen und zu kommentieren. Dabei lege ich den Fokus auf die Schweiz, obwohl die Verunsicherung der Linken durch den Ukrainekrieg ein gesamteuropäisches (und weltweites) Phänomen ist. Die in der Schweiz lebende ukrainische Aktivistin Hanna Perekhoda umreisst die Problematik wie folgt: „Es tut mir leid, das Offensichtliche auszusprechen, aber ich dachte, es wäre nützlich, daran zu erinnern, dass eines der grundlegenden Prinzipien der Linken darin besteht, auf der Seite der Unterdrückten gegen die Unterdrücker zu stehen. (…) Ein weiteres grundlegendes Prinzip ist, dass unsere Solidarität den Menschen gelten muss. Insbesondere den Menschen, die unter Ungerechtigkeit und Ungleichheit leiden und für ihr Recht kämpfen, über ihr Leben selbst zu bestimmen. Aber wie wir in letzter Zeit gesehen haben, gilt die Solidarität für einen grossen Teil derjenigen, die sich als „links“ bezeichnen, den Staaten. (…) Indem sie das „Recht“ dieser Staaten auf ihr eigenes „Stück vom Kuchen“ legitimieren, beteiligen sie sich aktiv an der Normalisierung einer Weltordnung, in der man ungestraft einmarschieren, Massenmorde begehen und Ressourcen und Territorien aufteilen kann.“14
Ich zitiere hier mit Absicht eine ukrainische Stimme. Denn bisweilen geraten Diskussionen über den Ukrainekrieg in die Nähe von Kolonialdiskursen: Es wird viel über die Ukraine gesprochen, aber nicht mit Ukrainer:innen. Wer möchte sich eine Palästinadiskussion vorstellen, in welcher nur Stimmen aus Europa und den USA zu Wort kommen? Juri Andruchowytsch thematisiert die Schieflage in einem sarkastischen Kommentar zu westlichen Gewissheiten bezüglich der Ukraine und Russlands.15 Besonders stossend ist die Selbstbeschränkung auf westliche Quellen bei denjenigen Linken, die sich als erbittertste Gegner:innen des amerikanischen Imperialismus verorten. Sie ziehen für Ihre Argumentation am liebsten US-Autoren bei: Noam Chomsky, Michael Hudson, John Mearsheimer oder gar den Verschwörungs- und Trump-Fan Tucker Carlson (Fox News). Dabei gibt es eine grosse Anzahl relevanter linker Stimmen aus der Ukraine. In der ukrainischen Solidaritätsbewegung, in linken Zeitschriften, in ukrainischen und (exil)russischen Internetportalen. Leider nutzen aber nur wenige Journalist:innen (und erst recht Leser:innen) diese Möglichkeiten.16
Wenden wir uns jetzt den Positionen zu, die den Angriff Russlands auf die Ukraine relativieren, die Legitimität der ukrainischen Selbstverteidigung anzweifeln, sich gegen Waffenlieferungen wenden oder für einen sofortigen und bedingungslosen Frieden eintreten. Nachfolgend versuche ich, ein paar Hauptachsen linker Relativierung zu umschreiben. Nicht alle vier sind gleich wichtig und die Argumente aus den unterschiedlichen Kategorien vermischen sich bei den einzelnen Akteur:innen. Zur Analyse ist es aber dennoch hilfreich, die wichtigsten Argumente etwas zu sortieren.

I. Antiimperialismus & Campismus

Die Linke in Europa ordnet den Überfall Russlands mehrheitlich als imperialistischen Angriffskrieg ein. Eine Minderheit sucht jedoch „das Haar in der Suppe“. Der ukrainische Autor Volodya Artiukh umschreibt dies folgendermassen: „Ich sehe, dass die westliche Linke auch angesichts des ‚Unvorstellbaren‘ tut, was sie seit jeher am besten kann: Sie untersucht den amerikanischen Neo-Imperialismus und die Expansion der NATO. Doch das reicht nicht mehr, weil es die Welt nicht erklären kann, die aus den Ruinen des Donbas und des Hauptplatzes von Charkiv entsteht. Diese Welt lässt sich durch den Verweis auf Handlungen der USA und entsprechende Gegenreaktionen nicht erschöpfend erfassen. Sie hat ein Eigenleben gewonnen, Europa und die USA sind vielerorts nicht mehr in der Initiative. Ihr forscht den entferntesten Ursachen nach, anstatt die gegenwärtig aufkommenden Tendenzen zur Kenntnis zu nehmen.“17
Franco Cavalli, langjähriger SP-Parlamentarier vom linken Flügel und „gestandener Antiimperialist“, schreibt zum Ukrainekrieg im „Courrier“ unter dem Titel «Expliquer ne signifie pas justifier»18 (Zitate von mir nummeriert, zwecks einfacherer Referenzierung):
  1. Quiconque ne se conforme pas à l’interprétation dominante de ce qui se passe est plus ou moins taxé de cinquième colonne poutinienne (…).
  2. Comme ce fût déjà le cas en d’autres occasions (bombardements de Belgrade, guerre en Irak, Afghanistan, Libye), un certain «centre gauche» applaudit rien de moins que l’annonce du réarmement allemand. Ce «centre gauche» semble presque présenter l’OTAN comme une organisation caritative et non comme une association quasi criminelle, comme le montre l’histoire de ces trente dernières années.
  3. J’ai lu avec plaisir la seule interview (…) avec Noam Chomsky qui, comme nous, condamne «sans si, ni mais» l’agression de Poutine, mais qui souligne néanmoins les énormes responsabilités du monde occidental et de l’OTAN.
  4. (…) il faut ajouter les promesses faites à Gorbatchev: «vous retirez vos troupes de l’Europe orientale, l’OTAN ne se déplacera pas d’un pouce vers l’est», un fait qui, en l’absence de traité, demeure controversé.
  5. Cela fait partie des doubles standards occidentaux, d’un côté porter aux nues Kennedy qui a fait retirer les missiles à Cuba en menaçant d’une guerre nucléaire, de l’autre nier à la Russie ses préoccupations de se retrouver avec des missiles devant sa porte.
  6. Il faut construire des bases durables pour que ce conflit ne puisse pas se répéter. «Hors la Russie de l’Ukraine, hors l’Ukraine de l’OTAN», voilà des conditions réalistes sur lesquelles la diplomatie pourrait construire une paix durable.
Einleitend I. wird darauf verwiesen, dass die hier dargelegte Sichtweise innerhalb der Linken minoritär sei. Dies trifft zu. Dass man deswegen aber gleich zur 5. Kolonne Putins gezählt werde, ist eine larmoyante Selbstviktimisierung (und die „interprétation dominante“ schrammt nur knapp am Unwort „Mainstreammedien“ vorbei)
Die minoritäre Position stamme daher, dass die „linken Zentristen“ (damit ist sicher die SPS gemeint, wer ausserdem?) längst auf die NATO eingeschworen seien, und deren aggressiven Charakter nicht verstünden (II.). Aber sind die Antiimperialisten vom Schlage Cavallis in der Lage, den aggressiven Charakter des russischen Imperialismus wahrzunehmen? Es muss bezweifelt werden. Der aggressive Charakter der NATO in vielen Konflikten kann nicht bestritten werden. Allerdings wirkt es konstruiert, im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg auf die NATO zu fokussieren. Russland hat die Ukraine (seit 2014) angegriffen – es war nicht umgekehrt. Es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, dass die NATO einen Angriff auf Russland plante oder die Aufnahme der Ukraine für opportun hielt – was die Gefahr einer Aufstellung von NATO-Raketen auf dem Territorium der Ukraine definitiv zur Putin-Propaganda macht.
Überdies ist der aggressive russische Imperialismus in der Ukraine nicht zum ersten Mal sichtbar geworden. Leila al-Shami schrieb bereits im April 201819 über die Blindheit westlicher Linker bezüglich des vom Assad-Regime entfesselten Syrienkriegs: „Tatsächlich meint der Slogan: ‚Hände weg von Syrien‘ in Wirklichkeit ‚Hände weg von Assad‘ und Russlands militärisches Eingreifen wird oft unterstützt (…) – unabhängig davon, wie tyrannisch dieser Staat ist. Man wiederholt das Mantra ‚Assad ist der rechtmäßige Herrscher eines souveränen Landes‘. Assad, der die Diktatur von seinem Vater geerbt hat, hat noch nie freie und faire Wahlen abgehalten, geschweige denn gewonnen. (…)Wer von diesen Linken würde seine eigene gewählte Regierung als legitim betrachten, wenn sie mittels Massenvergewaltigungsfeldzügen gegen Dissidenten kämpfte? (…) Dieser ‚Antiimperialismus‘ der Idioten ist einer, der Imperialismus allein mit den Aktionen der USA gleichsetzt.“
Worin besteht denn die unter III. durch den „Kronzeugen“ Chomsky geäusserte „immense Veranwortung des Westens und der NATO für den Krieg“20? Hat der Westen irgendein Land in Ostmitteleuropa in die NATO „gezwungen“? Hat der Westen als Vergeltung für die Krim die Halbinsel Kola und den Marinestützpunkt Murmansk angegriffen und besetzt? Wurde der durch die Ukraine gewünschte Beitritt zur NATO durch letztere umgesetzt? 21
Unter IV. folgt der populäre Hinweis auf das westliche Versprechen gegenüber Gorbatschow („Die NATO wird sich nicht nach Osten ausdehnen“). Dieses Versprechen wird gerne zitiert, hat aber nicht bindenden Vertragscharakter. Ausserdem hat die NATO keine Mitglieder „rekrutiert“. Die beigetretenen Länder haben dies aus freiem Willen entschieden – genauso, wie unlängst Finnland und Schweden. Und aus denselben Motiven: Aus offensichtlich nicht unbegründeter Angst vor dem mächtigen und expansiven Nachbarn Russland. Dass es bezüglich der Ukraine allerdings durchaus vertragliche Vereinbarungen gibt, verschweigen Franco Cavalli und die meisten, die ähnlich argumentieren: Das Budapester Memorandum von 1994. Es garantiert der Ukraine (sowie auch Belarus und Kasachstan) den Schutz der staatlichen Integrität und Souveränität im Gegenzug zur Beseitigung ihrer Atomwaffen. Garantiemächte dieser Vereinbarung sind die USA, GB und … Russland.
Dies führt uns zum Punkt V., wo ungleiche Massstäbe gegenüber den USA bzw. Russland behauptet werden. Das zum Beleg dieser Behauptung herangezogene Beispiel – der durch die USA erzwungene Rückzug sowjetischer Atomraketen aus Kuba22 im Jahr 1962 versus das mangelnde Verständnis für russische Ängste bezüglich dem Aufstellen von Atomraketen an seiner Grenze – ist allerdings hanebüchen. In Kuba ging es 1962 um reale Atomraketen, nicht um imaginierte. Hingegen sind NATO-Raketen an der russischen Grenze ein Konstrukt der russischen Propaganda, ebenso wie die stets behauptete „Umzingelung durch die NATO“ (von gut 20‘000 km Landgrenze entfielen vor dem Krieg gerade mal knapp 1200 km auf NATO-Staaten). Die einzigen atomwaffenfähigen Kurzstreckenraketen Ostmitteleuropas stehen in Kaliningrad und gehören der russischen Armee. In der Nato-Russland-Grundakte von 1997 ist die Stationierung von Atomwaffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder ausgeschlossen.
Mit Punkt VI. kommen wir zur Schlussfolgerung von Cavalli: „Russland raus aus der Ukraine! Ukraine raus aus der NATO!“ (sic!) Während mir die Erfüllung der ersten Forderung dringend scheint, ist die zweite offensichtlich nicht erfüllbar. Trotz aller Waffenlieferungen durch NATO-Staaten ist die Ukraine weiterhin nicht NATO-Mitglied23. Cavalli nennt diese zwei Forderungen „eine realistische Basis zur diplomatischen Aushandlung eines Friedensabkommens“. Aus meiner Sicht beinhaltet dieser Vorschlag bezüglich Russland reines Wunschdenken, bezüglich der Ukraine eine polemische Projektion der eigenen Voreingenommenheit. Cavallis Beitrag wurde ausgewählt, weil darin die wesentlichen Kernelemente eines als „antiimperialistisch“ verstandenen Narrativs vorkommen. Eines Antiimperialismus, der in den Sechzigerjahren ausgeformt wurde und damals richtigerweise auf die USA fixiert war. Unter dem Eindruck russischer Interventionen (u.a. Syrien, Libyen) und russischer Expansion (Georgien, Ukraine) bildet sich jedoch ein neues Verständnis des Antiimperialismus heraus, beispielsweise bei Gilbert Achcar24, Taras Bilous25, Ilya Budraitskis26 (mit Autorenkollektiv) oder Emran Feroz27. Wer sich weiter in die Thematik des sich verändernden Antiimperialismus-Verständnisse vertiefen möchte, dem sei der Artikel von Alain Bihr und Yannis Thanassekos28 sowie eine Replik29 darauf in derselben Zeitschrift empfohlen.
Zwischen Cavallis Argumentation und derjenigen der „Campisten “30 gibt es viele Parallelen. Die Partei der Arbeit (PdA) positioniert31 sich wie folgt:
  1. „Als erstes halten wir folgendes fest: Verantwortung und Schuld für den Krieg trägt die Russische Föderation.“
  2. „ (…) das Putin-Regime ist nur in dem Masse «antifaschistisch», wie dies nötig ist, um des grossen Sieges der Sowjetunion von 1945 zu gedenken. Seine Ideologie ist zutiefst antikommunistisch und reaktionär, und seine Verbindungen zur extremen Rechten – sowohl zu solchen Parteien in Europa wie zu entsprechenden Bewegungen im eigenen Land – sind mehr als nur beunruhigend.“
  3. „In erster Linie die Verantwortung des russischen Regimes für diesen Krieg anzuprangern, bedeutet jedoch keineswegs, die Rolle der NATO, der EU und der USA zu verschweigen, die 2014 den faschistoiden Maidan-Putsch tatkräftig unterstützt haben. Die westlichen Mächte haben und betreiben weiterhin eine imperialistische und aggressive Politik, die wesentlich zur Destabilisierung der Ukraine beiträgt und sie für ihre eigenen imperialistischen Zwecke benutzt. Die NATO, die USA und die EU tragen ihren Teil der Verantwortung für den Krieg. Dieser ist nicht geringer als jener von Putins Regime.“
  4. „Die PdAS ist absolut gegen jede Waffenlieferung, jede militärische
    Unterstützung, jede Entsendung von Truppen (regulär oder als Söldner:innen) und gegen eine Flugverbotszone seitens der NATO-Mitgliedsländer (…) Wir müssen uns auch für einen Waffenstillstand und eine diplomatische Lösung des Konflikts einsetzen, die die Einstellung der Kämpfe und eine Rückkehr zum Frieden ermöglicht.“
  5. „Die militärische Unterstützung [durch die NATO] ist vielmehr Teil einer interimperialistischen Konfrontation zwischen der NATO und der Russischen Föderation.“
Eine ähnliche Argumentation32 finden wir bei der SFB (Schweiz. Friedensbewegung), welche der PdAS nahe steht und ansatzweise auch bei der AL Zürich33. Die Punkte I./II. sowie die dazugehörigen Analysen im Papier der PdAS sind in der Linken wohl kaum bestritten. Dass NATO, USA und Europa für diesen Krieg dieselbe Verantwortung trügen (III.), ist eine grobe Verzerrung der tatsächlichen Situation. Hier surft die PdAS bedenkenlos auf denselben Narrativen (von Mearsheimer, Chomsky und Konsorten) wie Cavalli. Unter IV. werden zentrale Forderungen der pazifistischen Bewegung aufgenommen (siehe dort, Kapitel II). V. ist ein oft gehörtes Argument, welches primär aus Kreisen der Geopolitiker und Neorealisten immer wieder geäussert wird („Stellvertreterkrieg“, vgl. Kapitel III). Die PdAS widmet in ihrer Analyse ausserdem dem Maidan von 2014 viel Platz. Ihre hier nicht zitierten Thesen – die PdAS interpretiert diesen als faschistischen Putsch – wurden vielfach widerlegt (vgl. dazu beispielsweise Etienne Balibar).34

II. Pazifismus

Pazifistische Stimmen erhielten besonders in der BRD viel Beachtung. Ganze Kaskaden von offenen Briefen dominierten zeitweilig die Debatte über den Ukrainekrieg in Deutschland.35 Dies vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte, welche viele Bürger:innen dazu bewegt, bei bewaffneten Konflikten besondere Zurückhaltung zu üben. Ein weiterer Schwerpunkt pazifistischer Einwände kam aus Grossbritannien, wo die Bewegung „Stop the War“ mit dem linken Sozialdemokraten Jeremy Corbyn36 ein prominentes Sprachrohr hat. Die Botschaft dieser pazifistischen Initiativen konzentriert sich auf eine dreigliedrige Argumentation:
  • Es besteht die Möglichkeit, dass der Ukrainekonflikt zum dritten Welkrieg bzw. einem Atomkrieg eskaliert. Deshalb muss darauf hingearbeitet werden, dass:
  • es zu einem möglichst raschen Waffenstillstand kommt und Friedensverhandlungen aufgenommen werden.
  • Um dies zu ermöglichen, sollen westliche Waffenlieferungen an die Ukraine gestoppt werden, da diese lediglich den Krieg und somit Leid und Zerstörung verlängern.
Diese Forderungen werden ebenso vehement bestritten37, wie sie aufgestellt wurden. Aus meiner Sicht wird zu Recht darauf hingewiesen, dass:
  • Ein Zurückweichen vor den wiederholten atomaren Drohungen einen Präzedenzfall zu Gunsten erpresserischer Politik schaffen würde: „Wenn wir das akzeptieren, lassen wir Putin nicht nur über die Ukraine bestimmen, sondern auch über uns. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Existenz von Atomwaffen Grenzen setzt beim Kampf darum, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen.“38
  • Friedensverhandlungen wurden zu keinem Zeitpunkt ernsthaft geführt, weil keine Partei mit dem im Krieg erzielten Ergebnis zufrieden ist. Seit Juli 2022 wurden Friedensverhandlungen gar von beiden Konfliktparteien explizit ausgeschlossen. Ausserdem wurde von pazifistischer Seite nie der Preis solcher Verhandlungen offen benannt: Friedensverhandlungen finden nie im „luftleeren Raum“ statt, sondern basieren stets auf der realen Stärke der Konfliktparteien, bzw. gehen von den Tatsachen aus, die durch den Krieg geschaffen wurden39. Dies hiesse im Klartext, dass die Ukraine auf ca. 15% ihres Territoriums verzichten müsste (Stand: Mitte September 2022).
  • Die Forderung, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen, bedeutet nichts anderes, als die Ukraine dem russischen Aggressor auszuliefern, indem das Recht auf die legitime Selbstverteidigung der Ukraine negiert wird40 : „Wer einen Verhandlungsfrieden will, der nicht auf die Unterwerfung der Ukraine unter die russischen Forderungen hinausläuft, muss ihre Verteidigungsfähigkeit stärken und die Kriegsfähigkeit Russlands maximal schwächen. Das erfordert die kontinuierliche Lieferung von Waffen und Munition, um die militärischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Ukraine zu wenden.“41
Weil die Schweiz als neutrales Land keine Waffen in die Ukraine liefert, sind pazifistische Argumente bei uns weniger stark ausgeprägt. Aber es gibt sie: Die Schweiz. Friedensbewegung SFB (Sektion des WPC) verbreitet weitgehend campistische Argumente bis hin zu Verschwörungsmythen: „Der Weltfriedensrat (WPC) bringt seine tiefste Besorgnis über die eskalierenden Spannungen in Osteuropa und insbesondere um die Ukraine zum Ausdruck, die vor allem durch die zunehmend aggressive Expansion der NATO nach Osteuropa, ihre massive Stationierung von Truppen von der Ostsee bis nach Bulgarien und Schaffung eines Gürtels, der auf die Einkreisung der Russischen Föderation abzielt. (…) Seit dem Staatsstreich 2014 in Kiew und der Regierungsübernahme durch reaktionäre und nationalsozialistische Kräfte, unterstützt von den USA, der NATO und der Europäischen Union, plant und realisiert die NATO ihre weitere Expansion (…)“.42 Mit solchen Positionen hat sich die SFB in der pazifistischen Bewegung ziemlich isoliert. 43
„Mehr Waffen führen nicht zu einem schnellen Sieg, sondern verlängern nur das Leid auf beiden Seiten“44, sagt SFB-Sekretär Tarek Idri. Viele andere sagen das auch. Auf welche Fakten stützen sich solche Aussagen? Im zweiten Weltkrieg erhielten z.B. Grossbritannien und die Sowjetunion massive Unterstützung aus den USA (Lend and Lease Act). In die Sowjetunion wurden u.a. über 14‘000 Flugzeuge, über 7000 Panzer und über 400‘000 Transportfahrzeuge geliefert – mir ist keine Untersuchung bekannt, welche nachweist, dass diese Lieferung den russischen Vormarsch behindert und somit den Krieg verlängert hätten. Oder: Hat es den Bosniak:innen geholfen, dass sie sich über lange Zeit nur mit leichten Waffen gegen die Übermacht der serbischen Kräfte verteidigen konnten? Hat dieses Ungleichgewicht den Bosnienkrieg verkürzt?
In wichtigeren pazifistischen Organisationen wie der GSoA oder dem SFR (Schweiz. Friedensrat) hat der Krieg in der Ukraine eher zu Nachdenklichkeit als zu einer Mobilisation geführt. In der GSoA gibt es unterschiedliche Ansichten zur Bewaffnung der Ukraine. Und der SFR scheint aktuell etwas ratlos. Geschäftsführer Peter Weishaupt sagte in einem Interview zur Frage „Gibt es eine pazifistische Lösung des Ukraine-Konflikts? „Vermutlich nicht. Ich befürchte, dass man auf gewaltfreiem Weg nicht mehr viel tun kann. Die Weltgemeinschaft müsste zumindest den Verteidigungskampf der Ukraine legitimieren und unterstützen können. Doch das funktioniert unter dem aktuellen Veto-System im Sicherheitsrat nicht. So oder so geht’s in der Ukraine ohne Gewalt vermutlich nicht mehr.“45
Ausserdem äusserte sich auch eine Koalition feministisch-pazifistischer Organisationen (Brava, cfd, FrauenStreik Kollektiv Bern, NGO-Koordination Post-Beijing, FriedensFrauen weltweit) zum Ukraine-Krieg. In einer gemeinsamen Stellungnahme wurden u.a. folgende Forderungen aufgestellt46: „Wir solidarisieren uns mit den Menschen in der Ukraine und verurteilen den Angriff der russischen Regierung. Wir sind solidarisch mit der ukrainischen sowie russischen Zivilgesellschaft, die sich für Frieden einsetzt. Als feministische Friedensorganisationen rufen wir zum sofortigen Abzug des russischen Militärs und dem sofortigen Ende der Gewalt auf. Wir fordern:
  • eine sofortige Waffenruhe und den raschen Abzug russischen Militärs aus der Ukraine.
  • von allen direkt und indirekt in den Krieg in der Ukraine involvierten Akteur*innen, dass sie klare Positionen gegen die Militarisierung und für den Frieden beziehen.
  • die Achtung der Menschenrechte und die Einhaltung des Völkerrechts.
  • Drohungen mit Nuklearwaffeneinsatz sofort zu stoppen. Es braucht Abrüstung, und das Verbot von Atomwaffen.“
Es gab vereinzelt Proteste gegen den Krieg in Russland. Diese wurden brutal unterdrückt. Von einer ukrainischen Zivilgesellschaft, die den Frieden fordert, habe ich hingegen noch nie etwas gehört. Und wie sollen die „Akteur:innen dieses Kriegs“ (also primär die russische und ukrainische Staats- bzw. Militärführung) auf Friedenskurs gebracht werden? Ich sehe hier einen Katalog von achtenswerten Forderungen, der sich jedoch ziemlich weit weg vom aktuellen Geschehen und von realen Diskursen positioniert.
Interessanterweise verlaufen Meinungsverschiedenheiten im pazifistischen Diskurs nicht ausschliesslich entlang parteilicher Bindungen. Sogar im pazifistischen Flügel der Grünen (GPS) vertreten beispielsweise Annemarie Sancar (Friedensfrauen weltweit) und Jo Lang (GSoA) keineswegs dieselben Ansichten. Annemarie Sancar sagt z.B.: „Die Debatte zum Ukraine-Krieg hat sich in den letzten Wochen auf die Frage nach Waffenexporten und Aufrüstung zugespitzt. Ist es richtig, jetzt schweres Geschütz in die Ukraine zu liefern? Aus feministischer Perspektive antworte ich dezidiert mit Nein. (…) Sicherheit erfordert nicht mehr Investitionen in militärische Güter, sondern den politischen Willen, finanzielle Mittel für Bildung, Gesundheit, Kultur, Arbeit einzusetzen.“47 Dieser Sicht treten direkt betroffene ukrainische Feministinnen klar entgegen.48
Im Gegensatz zu Annemarie Sancar meint Jo Lang: „…in der Schweiz stellt sich die Frage zu solchen [Waffen-]Lieferungen erst gar nicht, da sie verboten sind.“ Er spricht von zwei Seelen in seiner Brust. «Die eine will Frieden schaffen. Die andere sagt, die Ukraine braucht diese Waffen, um gegenüber Putin bestehen zu können. Es sei jedoch im Interesse des Pazifismus, dass sich Kriegsherren nicht durchsetzten.“49

III. Geopolitik, Neorealismus & Neo-Eurasismus

Geopolitisches Denken kommt im Prinzip ohne Menschen aus. Geopolitik richtet den Blick auf Karten mit Grenzen und Einflusssphären. In der Welt der Geopolitik gibt es wichtige Player (die Supermächte) und weniger wichtige, die sich nach dem Willen der Starken zu richten haben. Das einzige, was zählt, sind die geostrategischen Ziele der mächtigen Staaten – denn nur diese sind wirklich souverän. Menschen sind zu klein für diesen Betrachtungsmassstab. Es kommen nicht einmal unterschiedliche Ansichten, Wünsche oder Ziele vielfältiger Akteure in den einzelnen Ländern vor. Für die Geopolitik gibt es nur abstrakte, homogene Staaten, welche einen jeweils gemeinsamen „grossen“ Willen haben.
Wer solche Dimensionen im Auge hat, nimmt einen grossen Abstand zum alltäglichen Kriegsgeschehen ein. Humane Grundreflexe wie Mitgefühl mit den Angegriffenen oder Solidarität mit Kriegsopfern haben keinen Platz in solch „grossen“ geostrategischen Überlegungen. Die Anhänger:innen geopolitischer Argumentationsstränge sehen eine Welt, die umfassend dem US-Imperialismus unterworfen ist. Ob John Mearsheimer, Michael Hudson, Alexander Dugin, Samuel Huntington, George Friedman oder Vladimir Putin: Dieses Denken gedeiht wenig überraschend am besten in Kulturen, die selbst Supermächte sind. Ihr Gegenentwurf ist eine „multipolare“ Welt, in welcher es nicht nur einen, sondern mehrere Imperialismen gibt – insbesondere auch einen russischen und einen chinesischen. Geopolitiker sind nicht grundsätzlich antiimperialistisch eingestellt, sondern legitimieren die Aufteilung der Welt in Einflusssphären 50 51 und die Teilhabe anderer Imperialismen an der Aufteilung und Unterdrückung weniger mächtiger Staaten und Völker. Eine Weltsicht, gegen welche sich die Ukraine erbittert zur Wehr setzt.
„Geopolitik ist unwiderstehlich für politische Führer, die den Revanchismus kultivieren – eine giftige Mischung aus historischen Mythen, nationalem Unmut über verlorene Gebiete und wirtschaftliches Versagen. Sie sind besessen von äusseren Bedrohungen und ausländischen Feinden, die das Wertesystem der Nation ablehnen. Dieses Denken vergiftet nicht nur die Politik von Wladimir Putin, sondern auch diejenige anderer geistesverwandter Politiker wie die Führer von Ungarn, Venezuela, Kuba, Serbien und teilweise China und der Türkei. All diese Männer beklagen sich ständig über Demütigungen, unzureichende Anerkennung, die Feindseligkeit bestimmter ausländischer Mächte und vermeintlich ungerechte Grenzen in der heutigen Zeit.“52
Mearsheimer vertritt die Überzeugung, dass die Ukraine de facto bereits NATO-Mitglied sei, der Westen somit die Hauptschuld am Krieg trage, weil er Russland „provoziert“ habe53: „Die Besetzung der Ukraine und der baltischen Staaten wäre, als würde man ein Stachelschwein verschlucken. Es wäre schlicht verrückt. Wenn man sich ansieht, was die Russen in der Ukraine militärisch tun, dann sieht es nicht so aus, als wollten sie das Land erobern, besetzen und in ein grösseres Russland integrieren. (…)Wir werden bis zum letzten Ukrainer kämpfen, aber wir werden nicht für sie kämpfen. Wir werden sie bewaffnen und hoffen, dass sie durchhalten. Niemand glaubt, dass sie die Russen besiegen werden.“ Eine immer wieder vorgebrachte Thesen aus dieser Ecke ist die Behauptung, beim Krieg in der Ukraine handle es sich um einen „Stellvertreterkrieg“, d.h. die Ukraine kämpfe gar nicht für ihre eigenen Interessen – sondern im „Auftrag“ und in „Stellvertretung“ der USA. Dies ergibt sich aus der Weltsicht, dass die Ukraine kulturell und historisch Teil des russischen Orbits sei und somit gar keine Legitimation habe, für ihre Souveränität zu kämpfen. Hier wird die Konvergenz zwischen Putin und Leuten wie Mearsheimer besonders deutlich.
Ausserdem stehen solche Behauptungen angesichts der Kampfbereitschaft der Armee und des Widerstandswillens und der Resilienz der Zivilgesellschaft in krassem Widerspruch zum Selbstverständnis der Ukraine: „Die ukrainische Bevölkerung führt keinen »Stellvertreter-Krieg« der Nato gegen Russland, sondern kämpft für ihre eigene Unabhängigkeit sowie für demokratische und soziale Rechte, die sie unter russischer Besatzung verlieren würde. Die verheerende Menschenrechtssituation in den sogenannten Volksrepubliken im Donbas ist als wahrscheinliche Perspektive unter einem Besatzungsregime Drohung genug.“54
Die These, dass es in der Ukraine primär um ein Kräftemessen zwischen Russland und den USA gehe, wird aber auch durch Linke verbreitet. Serge Halimi (Chefredaktor von „Le monde diplomatique“) schrieb in einem Kommentar: „Depuis quelques semaines, on dirait même que la seule conclusion du conflit à laquelle les États-Unis consentiraient vraiment serait un triomphe romain des armées occidentales à Moscou, avec M. Biden à la tribune et M. Poutine dans une cage de fer. Et pour réaliser leur objectif désormais proclamé, « affaiblir la Russie », la saigner en vérité, les États-Unis ne lésinent plus sur les moyens : livraison d’armes plus offensives et plus sophistiquées à l’Ukraine, assistance probable à ce pays afin qu’il puisse localiser et liquider des généraux russes, voire couler le navire amiral de leur flotte.“55
Während sich Geopolitiker und Neorealisten vordergründig neutral geben, erachten die Eurasist:innen den Neo-Eurasismus56 als einzig mögliche Alternative zum herrschenden „globalen Atlantismus“: „Der Eurasismus, welcher sich von Ostasien bis Europa erstreckt […], wird zusammen mit seinen Verknüpfungen die im pazifischen Rand dominanten wirtschaftlichen Strukturen und die in Eurasien existierenden atlantistischen, pseudokulturellen, militärisch-wirtschaftlichen Strukturen ausrotten. Europa, der Nahe Osten und Südasien werden vom Atlantismus befreit werden.“57 Ungeachtet der Tatsache, dass der Eurasismus58 seine ideologische und organisatorische Basis vorwiegend in Russland hat, argumentieren auch Eurasist:innen gerne mit Zitaten von US-Autoren und natürlich mit solchen von Domenico Losurdo, Galionsfigur der westlichen Eurasist:innen. Vermutlich ist ihnen der unverhüllte Faschismus ihres Vordenkers Dugin denn doch zu unappetitlich59. Eurasistische Argumentationen haben in der Schweiz kaum Boden. Man findet sie am ehesten an den Rändern und im Umfeld der Partei der Arbeit (PdA). Aus der Tessiner Sektion der Partei wurde der eurasistische Flügel 2014 ausgeschlossen. Dieser tritt seither unter dem Namen „Partito comunista“60 auf.

IV. Verschwörungsoffene, Querdenkende, mit russischer Propaganda Gefütterte

  • „Die NATO stand kurz davor, in der Ukraine Raketen gegen Russland aufzustellen.“
  • „In der Ukraine wurde die russische Sprache verboten.“
  • „Der Maidan 2014 war ein faschistischer Putsch, welcher die ukrainischen Faschisten an die Macht brachte. Russland muss diesem Spuk ein Ende bereiten.“
  • „Das ukrainische Militär steht unter dem Kommando der faschistischen Azov-Brigade.“
  • „Der Krieg ist weitgehend das Ergebnis der Entscheidung von April 2008, die Ukraine und Georgien in die Nato aufzunehmen.“
  • „Die Ukraine hat an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas einen Genozid verübt. Russland muss diese Menschen schützen.“
  • „Der Krieg in der Ukraine wurde nur inszeniert, um in Europa den Protest gegen die Pandemie-Massnahmen zu stoppen.“
  • „Die Waffenlieferungen durch die NATO sind der Beweis dafür, dass die Ukraine längst Mitglied ist.“
  • „In der Ukraine gibt es geheime US-Biowaffenlabore. Russland muss diese Gefahr bannen.“
  • „Die Ukraine war immer ein Teil Russlands. Sie gehört zu Russland, Putin holt sich nur, was ihm ohnehin gehört.“
Russische Propaganda und Verschwörungsgeschichten sind in der Regel so absurd, dass sich eine Auseinandersetzung damit nicht lohnt. Dass die russische Propaganda in rechtspopulistischen Milieus viele Anhänger:innen findet, ist evident. Darüber, inwieweit solche „Argumente“ auch im linksgrünen Umfeld Unterstützung finden, kann nur spekuliert werden. Es ist allerdings wenig überraschend, dass Leute, die bereits in der Pandemie jede Orientierung verloren haben, jetzt auch für russische Propaganda und weitere Verschwörungserzählungen offen sind.61 Öffentlich bekannt wurden in diesem Zusammenhang die Berner Stadträtin Simone Machado Rebmann (gap62, aus der gemeinsamen Fraktion mit PdA und AL ausgeschlossen) und der grüne Zürcher Kantonsrat Urs Hans (aus der GPS ausgeschlossen). Trotz Versuchen („Freie Linke“, „Linksbündig“) ist davon auszugehen, dass es in der Querdenker-Szene nicht genügend Potenzial zum Aufbau einer linken Plattform gibt – diese Leute sind in der Regel in „festen Händen“ der Rechten.
Menschen im linksgrünen Umfeld können durch Verschwörungsdenken und russische Propaganda trotzdem verunsichert werden, da diese krude Kost in der Regel zusammen mit links anschlussfähigen Argumenten (auf die USA verengter Antiimperialismus u.a.) verabreicht wird. Es ist deshalb falsch, solchen Ideen nicht entgegenzutreten – aus Angst, diesen verpeilten Positionen zu viel Aufmerksamkeit zu verschaffen. Verschwörungsideologien und Propaganda dürfen nicht unwidersprochen bleiben. Egal ob im Internet oder im sozialen Umfeld: Wenn Verschwörungsideologien auftauchen, braucht es sachlichen Widerspruch. Jüngere Menschen sind offenbar empfänglicher63 für Putins Propaganda, eindimensionaler Medienkonsum (vorwiegend Soziale Medien, wenig Printmedien oder öffentlich-rechtliche Informationen aus Radio/Fernsehen) spielt in diesem Zusammenhang vermutlich eine wichtige Rolle.
Zur Person: Urs Fankhauser, Geograph und Historiker. Gründungsmitglied Grünes Bündnis Bern, davor Mitglied der POCH. Vertiefte Kenntnis der osteuropäischen Geschichte. Vielfältige Beziehungen zur Ukraine. Kontakt: arcobaleno@bluewin.ch
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Fussnoten

1. Denys Gorbach, Une guerre gênante : que faire lorsque la Russie attaque l’Ukraine mais que tu es de gauche ?: Link
2. Der Text wurde vor den erfolgreichen Gegenoffensiven der Ukraine und der darauffolgenden Teilmobilisierung in Russland geschrieben.
3. Wie soll sich die Neutralität der Schweiz entwickeln? Wie stehen wir zur NATO? Wie stehen wir zum Recht auf Selbstverteidigung und Selbstbestim-mungsrecht? Brauchen wir eine militärische Aufrüstung inkl. einer Offensivluftwaffe? Mit welchen Positionen geht die Linke in die nationalen Wahlen vom nächsten Jahr?
4. Flüchtlinge in der Schweiz: Link
5. SPS, GPS und Solidarités erklären sich solidarisch mit der Ukraine: SPS | Grüne | Solidarités
6. Christoph Blocher: Link
7. Norbert Trenkle, Das Putin-Regime ist ein Vorbild für fast alle autoritären Machthaber in der Welt: Link
8. Andreas Umland, Wahlverwandtschaften der russischen extremen Rechten. Der Neo-Eurasismus, das Putin-System und die Verbindungen nach Westeu-ropa: Link
9. Daniel Binswanger: Link
10. Link
11. Link
12. Taras Bilous zum Selbstbestimmungsrecht: Link
13. Geopolitika | Geschichte der Gegenwart | AK-Web | Freitag | Blätter (Original)
14. Post von Anna Perkhoda auf ihrer Facebookseite, 9. August 2022
15. Juri Andruchowytsch: Link
16. Internationaler Austausch mit der Ukraine: Link | Zur selben Thematik auch Volodydmyr Artiukh, Die USA sind nicht der Nabel der Welt: Link
17. Volodymyr Artiukh: Link
18. Franco Cavalli: Link
19. Leila al-Shami: Link
20. Ausführliche Sicht von Noam Chomsky: Link | Dazu eine Replik ukrainischer Autoren: Link
21. Budapester Memorandum: Link
22. Kubakrise: Link
23. Die Ukraine hat allerdings nach der Annektion der durch Russland aktuell besetzten Gebiete am 1. Oktober 2022 einen Antrag zur beschleunigten Aufnahme in die NATO gestellt.
24. Gilbert Achcar: Link | Angenommen, die Ukraine wäre Venezuela: Link
25. Taras Bilous: Link
26. Ilya Budraitskis, Oksana Dutchak, Harald Etzbach, Bernd Gehrke, Eva Gelinsky, Renate Hürtgen, Zbigniew Marcin Kowalewski, Natalia Lomonosova, Hanna Perekhoda, Denys Pilash, Zakhar Popovych, Philipp Schmid, Przemysław Wielgosz, Christoph Wälz und Christian Zeller, Für einen solidarischen Antiimperialismus: Link
27. Emran Feroz: Link
28. Bihr/Thanassekos: Link
29. Sébastien Abbet, Daniel Bonnard, Geneviève de Rham, Alain Gonthier, Denys Gorbach, Robert Lochhead, Elisa Moros, Hanna Perekhoda, Philipp Schmid, Giuseppe Sergi, Daniel Tanuro, Jean Vogel et Christian Zeller: Link
30. Campismus bedeutet Lagerdenken. Besonders während des Kalten Kriegs unterstützten Kommunist:innen weltweit Regime und Bewegungen unabhän-gig von deren Ideologie, solange sich diese gegen den US-Imperialismus stellten „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Ausführliche Artikel zum Campismus: Newpol | Aplutsoc
31. Position der PdAS: Link
32. SFB: Link | Link 2
33. Mischa Schiwow (AL Zürich): Link
34. Etienne Balibar: Link
35. Alice Schwarzer et al., Der offene Brief an Kanzler Scholz: Link | Precht et al.: Link | Andreas Umland, Timothy Snyder et al.: Link
36. Jeremy Corbyn: Link
37. Christian Zeller, Frieden für uns, Besatzung für die Ukraine?: Link
38. Paul Mason in der taz: Link
39. The Aggressor Always Needs Peace, the Oppressed Always Need Liberation: Link | Why the Left Must Support Arms for Ukraine! Link | Solidarités, Résistance armée et livraison d’armes en débat: Link
40. Serhij Zhadan, Wir werden vernichtet: Link
41. Biller, Müller, Fücks etc.: Link
42. Position von World Peace Congress/SFB: Link
43. Link
44. Der Krieg in der Ukraine spaltet die Friedensbewegung: Link
45. Peter Weishaupt (SFR): Link
46. Appell für Frieden und Entmilitarisierung: Link
47. Annemarie Sancar, Wem bringt Aufrüstung mehr Sicherheit?: Link
48. The right to resist. A feminist manifesto: Link
49. Der radikale Pazifismus auf dem Prüfstand, Jo Lang: Link
50. Taras Bilous, Eastern Europe’s Tragedy. How the Spheres of Influence Policy Amplifies Reaction: Link
51. Daria Saburova, La guerre en Ukraine et les dilemmes de la gauche occidentale: Link
52. Maxim Trudolyubov, War without people: Link | Deutschsprachige Version: Link
53. John Mearsheimer, Der Westen trägt eine Hauptverantwortung für das Ukraine-Desaster: Link
54. Ilya Budraitskis, Oksana Dutchak, Harald Etzbach, Bernd Gehrke, Eva Gelinsky, Renate Hürtgen, Zbigniew Marcin Kowalewski, Natalia Lomonosova, Hanna Perekhoda, Denys Pilash, Zakhar Popovych, Philipp Schmid, Przemysław Wielgosz, Christoph Wälz und Christian Zeller: Für einen solidarischen Antiimperialismus: Link
55. Serge Halimi, Saigner la Russie: Link
56. Der russische politische Philosoph und Publizist Alexander Dugin vertritt seit den frühen 1990er-Jahren einen sogenannten Neo-Eurasismus. Dugin plädiert für ein eurasisches Imperium von Dublin bis Wladiwostok unter der Führung Russlands, weil, so Dugin, „die wahren, geopolitisch gerechtfertigten Grenzen Russlands bei Cadiz und Dublin liegen und Europa dazu bestimmt ist […]“.
57. Link
58. Russland und die Rechtspopulisten: Link
59. Reid Ross, Alexander and Burley, Shane: Into the Irrational Core of Pure Violence: On the Convergence of neo-Eurasianism and the Kremlin’s War in Ukraine: Link
60. Link
61. Oliver Wietlisbach (watson), Warum «Querdenker» und Impfgegner jetzt pro Putin sind: Link
62. Gap: Grünalternative Partei. Lokalpartei in Bern, ehemals DA (Demokratische Alternative) | Link
63. Philippe Coradi (20 Minuten), Jede dritte junge Person sieht sich als Putin-Versteher: Link