Das Ende der Credit Suisse: Ein Lehrstück in marktförmiger Kommunikation
30.03.2023   |   In den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch der Credit Suisse entledigte sich der Bundesrat eigenmächtig seiner demokratischen Rechenschaftspflichten und kommunizierte wie ein Finanzmarktakteur. Das zeigt: schlecht regulierte Grossbanken und demokratische Prozesse vertragen sich schlecht.
An einer eilig einberufenen Medienkonferenz an einem Sonntagabend, dem 19. März 2023, verkündeten die Spitzen von UBS, Credit Suisse, der Finanzmarktaufsicht (FINMA), der Nationalbank (SNB) und des Finanzdepartements unter Führung von Bundesrätin Karin Keller-Sutter die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS. Das war das Ende einer 167 Jahre alten, sehr schweizerischen Bank. Zwar wurde an dieser Medienkonferenz über eineinhalb Stunden lang geredet, erklärt aber wurde wenig, sehr viele Fragen blieben offen. Aus Gründen: Den Staats- und Bankenvertreter:innen auf dem Podium ging es nicht primär darum, der Öffentlichkeit ihre äusserst weitreichenden politischen Entscheidungen der letzten vier Tage zu erklären. Sie wollten vor allem Finanzmarktakteur:innen beruhigen, bevor die Börsen am Montagmorgen wieder öffneten, um einen ungeordneten Konkurs der Credit Suisse zu verhindern. Die Botschaft war: Wir haben es im Griff. Das Feuer, das zu einem Flächenbrand im internationalen Finanzsystem hätte werden können, ist gelöscht. Angesichts dieses Desasters auf dem Schweizer Finanzplatz versuchten sie gleichzeitig ihre eigene Haut zu retten, indem sie ihre Institutionen mit rhetorischen Kniffs aus der Verantwortung nahmen.
Sie sprachen damit zu institutionellen Anleger:innen und Grossaktionär:innen in der Schweiz und rund um die Welt: zu anderen Grossbanken und Vermögensverwaltungen, die mit der UBS und der Credit Suisse geschäften; zu Investmentgesellschaften wie Black Rock; zu Hedge Funds, die an den Börsen spekulieren; zu grossen Pensionskassen mit ihren Rentenfonds. Es ging um ihr «Vertrauen», das man wieder «herstellen» musste. Erste Adressatin war nicht die politische Öffentlichkeit in der Schweiz, der Bundesrat und Behörden gemäss den Regeln der Demokratie eigentlich rechenschaftspflichtig sind.

Die Macht der Märkte

Am Donnerstag zuvor hatte der Bundesrat beschlossen, gegenüber der SNB Garantien für eine Kreditlinie in der Höhe von 100 Milliarden Schweizer Franken zu gewähren, die die Credit Suisse in Anspruch nehmen konnte, um angesichts der riesigen Abflüssen von Kundengeldern und der Weigerung anderer Banken ihr Kredite zu gewähren, flüssig zu bleiben (die SNB stellte der UBS/CS darüber hinaus weitere 150 Milliarden zur Verfügung, die sie aber selbstständig finanziert). Zudem versprach der Bundesrat der UBS neun Milliarden für allfällige Verluste zu geben, die ihr durch die Übernahme der Credit Suisse entstehen. Insgesamt geht der Bund im Rahmen der Übernahme also mit 109 Milliarden Franken «ins Risiko». Das ist in der Geschichte der Eidgenossenschaft einmalig (bei der UBS-Rettung 2008 waren es noch 68 Milliarden). Ein Journalist fragte an der Medienkonferenz dann auch rasch, wieso der Bundesrat diesen extrem weitreichenden Entscheid nicht schon am selben Tag kommunizierte, wie er ihn gefällt hatte. Keller-Sutter antwortete: «Das wäre verunsichernd gewesen für die Märkte.» Später führte sie noch aus, dass der Bundesrat das, was er hier im Notrecht beschlossen hatte, unter dem Namen «Public Liquidity Backstop» eigentlich schon im letzten Jahr als ordentliche Vorlage ins Parlament schicken wollte. Man habe schliesslich auch damals darauf verzichtet, um die Märkte nicht zu beunruhigen und die schon damals nach endlosen Skandalen schwer angeschlagene Credit Suisse vor entsprechenden negativen Reaktionen der Finanzmarktakteur:innen zu schützen. Eine Regierung verzichtet also auf ein Gesetzesprojekt, dass das Finanzsystem aus ihrer Sicht sicherer gemacht hätte, aus Angst davor, damit eine systemrelevante Bank an den Märkten in Gefahr zu bringen. Eine Gefahr, die just mit diesem Regulierungsvorhaben hätte reduziert werden sollen. Hier hat sich eine Regierung von ihrer Politik verabschiedet und sich der Macht der Märkte unterworfen.

Fundamentaldaten oder Narrative?

Marlene Amstad, FINMA-Präsidentin, sagte an der Pressekonferenz: «Obwohl die Fundamentaldaten (…) grundsätzlich in Ordnung waren, ging das Vertrauen der Marktteilnehmer, der Investorinnen und Kunden in eine erfolgreiche Zukunft der Bank immer mehr verloren.» Die Verwunderung über diesen Sachverhalt stand Amstad ins Gesicht geschrieben. Fundamentaldaten beschreiben im Finanzjargon betriebswirtschaftliche Kennzahlen wie etwa Umsatz, Liquiditätsrate oder Buchwert. Sie gehören zu den Instrumenten der Finanzmarktanalyse. Klassische Finanzanalyst:innen, auch «fundamental analysts» genannt, nutzen sie, um abzuschätzen, welche Firmen unter- oder überbewertet sind.
Daneben ist aber im Finanzmarkt die Wirkungsmacht von Narrativen – also Geschichten über den aktuellen Zustand und die möglichen Entwicklungen am Markt – nicht zu unterschätzen. Solche Narrative stützen sich oft nicht auf Geschäftszahlen der Unternehmen. Sie speisen sich vielmehr aus Überzeugungen, Gefühlen und ideologischen Vorstellungen der Analyst:innen und Anleger:innen und beeinflussen Finanzmarktentwicklungen genauso, wie es Fundamentaldaten oder eine bestimmte Unternehmenspolitik tun. Narrative werden über «Sprechakte» von Expert:innen, Hedge Funds oder «Activist Short Sellers» in Umlauf gebracht. Activist Short Sellers sind Akteur:innen, die mit entsprechenden Finanzmarktinstrumenten wie etwa Kreditausfallversicherungen oder «credit default swaps» gegen Unternehmen wetten. Damit setzen sie in einem Fall wie der Credit Suisse auf deren Konkurs und beschleunigen so den Niedergang einer Firma.

Konsequenzen für Regulierung und Demokratie

Die Frage ist, inwiefern die Kommunikation an der Medienkonferenz die Rolle dieser Narrative mitbedachte. Der Fokus auf die «Beruhigung der Märkte» lässt darauf schliessen, dass man sich sehr wohl bewusst war, welche Konsequenzen politische Äusserungen auf die Marktentwicklung haben können. Allerdings spiegelte sich dieser Gedanke nicht in den regulatorischen Massnahmen, die die Schweiz seit der Finanzkrise von 2008 umgesetzt hatte. Diese «Too Big to Fail»-Regulierungen bauen einzig auf den Fundamentaldaten auf: Höhere Eigenkapitalquote und höhere Liquiditätsanforderungen hätten dafür sorgen sollen, dass nie mehr eine Schweizer Bank auf Geld vom Staat angewiesen sein würde. Um einem digitalen Backrun wie im Fall der Credit Suisse vorzubeugen, bei dem sehr viele Kund:innen in sehr kurzer Zeit ihr Geld aus einer Bank holen (heute auch bequem vom Sofa oder dem Smartphone aus möglich) reichte das ganz offensichtlich nicht.
Gemessen an den hohen Ansprüchen der Schweiz an ihre Demokratie, ist das Vorgehen des Bundesrates, der FINMA und der SNB eine Katastrophe. Der Staat hat das Notrecht im Vergleich mit der UBS-Rettung von 2008 und den Hilfspaketen während der Corona-Pandemie nochmals ausgeweitet. Er informierte die Öffentlichkeit gemessen an der Dringlichkeit der Ereignisse sehr spät und versucht nun im Nachgang der Credit Suisse-Rettung auch noch die mediale Aufarbeitung der Aktion zu behindern. Aber die Grundregeln der Demokratie müssen auch dort gelten, wo sie auf dem Finanzmarkt wirksam wird. «The markets never sleep», pflegen Finanzexpert:innen zu sagen. Die Schlafmittel, die Bundesrat und Bankenvertreter:innen uns im starken Kontrast dazu gerade verabreichen wollen, sollten wir auf keinen Fall schlucken.

Autoren

Dominik Gross ist Historiker und Finanzexperte bei Alliance Sud, dem zivilgesellschaftlichen Kompetenzzentrum für internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik. Stefan Leins ist Juniorprofessor für Ethnologie mit Schwerpunkt Kulturen der Ökonomie an der Universität Konstanz.

Basil Oberholzer

Diskussion

Krieg in Äthiopien: Welche Perspektive für Frieden, Stabilität und Entwicklung?
04.02.2022   |   Auf den ersten Blick stellt man sich die Frage: Wie ist es möglich, dass Äthiopien, das die Welt in den letzten zwei Jahrzehnten durch eine rasante wirtschaftliche Entwicklung und grosse Erfolge in der Armutsbekämpfung beeindruckte, nun tief in einen komplexen Bürgerkrieg verstrickt ist und sogar als Land auseinanderfallen könnte? Um eine Antwort zu finden, ist es wichtig, sowohl die Ereignisse der letzten vier Jahre als auch die weiter zurückliegenden historischen, politischen und ökonomischen Hintergründe zu verstehen. Die heutige Konfliktlage in Äthiopien macht zahlreiche Probleme sichtbar, mit denen Länder des globalen Südens zu kämpfen haben. Um daraus erfolgsversprechende Entwicklungsstrategien ableiten zu können, muss sich die Linke einigen zentralen politökonomischen Dilemmas stellen.
1991 stürzte die Tigray People Liberation Front (TPLF) gemeinsam der Eritrean People Liberation Front (EPLF) den stalinistischen Diktator Mengistu Haile Mariam. Während Eritrea zwei Jahre später die Unabhängigkeit von Äthiopien zugestanden wurde, regierte die TPLF Äthiopien in einer Allianz aus vier Parteien, der sogenannten Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF). Obwohl die Mitglieder der Allianz mit ihrer Verwurzelung in den Regionen Tigray, Amhara, Oromia und der «Region der südlichen Völker» das Land relativ gut abbildeten, war die Macht innerhalb der Allianz sehr ungleich verteilt. Faktisch regierte vor allem die TPLF, indem sie fast sämtliche wichtigen Positionen mit Tigrayern aus dem Norden des Landes besetzte.
Obwohl sich die Allianz klar vom Vorgänger Mengistu distanzierte, hatte sie ihre Wurzeln ebenfalls im Marxismus und verfolgte ein pragmatisches und dennoch klar linkes Entwicklungsprogramm. Mehrere neoliberale Reformen auf Druck des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in den Neunzigerjahren wurden später wieder rückgängig gemacht. Insbesondere zu Beginn des Jahrtausends fokussierte sich die Regierung verstärkt auf das Konzept des «Developmental State», also des aktiven Staates, der die wirtschaftliche Entwicklung plant.1 Die Erfolge waren beeindruckend. Äthiopien war ab Mitte der Nullerjahre die am stärksten wachsende Volkswirtschaft Afrikas. Auch wenn das Land bis heute zur Gruppe der am wenigsten entwickelten Ländern gehört, sind die riesigen Verbesserungen in der Bekämpfung des Hungers, der Müttersterblichkeit, der Grundbildung und zahlreichen anderen Messgrössen nicht zu übersehen.
Allerdings ging die wirtschaftliche Entwicklung mit politischer Repression einher. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen unter der Regierung der EPRDF ist lang. Nun können ökonomische Erfolge den Widerstand gegen eine Diktatur wohl besänftigen, aber nicht beseitigen. Wie jede politische Bewegung erlebte auch die EPRDF ihren Zyklus von Aufstieg und Niedergang. Nach dem Tod des weitherum respektierten Premierministers und TPLF-Führers Meles Zenawi 2012 wurde die TPLF innerhalb der Allianz etwas weniger dominant. Dies konnte jedoch nicht verhindern, dass die Proteste gegen das Regime immer stärker wurden. Ein wichtiger Grund dafür war, dass mit der TPLF eine kleine Minderheit von 6 bis 7 Millionen Menschen ein Land von mehr als 100 Millionen dominierte. Tigray wurde als überprivilegiert angesehen. Besonders ausgeprägt war der Widerstand der Oromos, die zwar das grösste Volk sind, aber noch nie das Staatsoberhaupt stellten.

Vom Führungswechsel zum Krieg

Angesichts der drohenden ausufernden Unruhen trat Hailemariam Dessalegn 2018 als Premierminister zurück und Abiy Ahmed nahm seinen Platz ein. Abiy ist nicht Tigray, sondern halb Amhara und halb Oromo. Das war ein wichtiges Signal an die Bevölkerung. Tatsächlich brachte Abiy, obwohl er selbst Teil des Regierungsapparats gewesen war und sogar das Spitzelregime des Geheimdienstes mitaufgebaut hatte, kurze Zeit später zahlreiche Reformen auf den Weg. Mit neuen politischen Freiheiten, der Fortsetzung der vom Vorgänger begonnen Freilassung politischer Gefangener und dem Versprechen einer faireren Machtteilung entzückte er die Bevölkerung wie auch den Rest der Welt. Die grösste Überraschung war der Friedensvertrag mit Eritrea, das im Grenzkrieg 1998 zum Erzfeind geworden war. 2019 wurde Abiy dafür der Friedensnobelpreis verliehen.
Innerhalb der Regierung ging der Führungswechsel alles andere als reibungslos vonstatten. Die TPLF tat sich schwer, Teile ihrer Macht abzugeben. Andererseits schloss Abiy die alte Garde von seinen Plänen komplett aus und versuchte, mit einer neuen Partei die Kontrolle zu gewinnen. Dieser Machtkampf spitzte sich immer weiter zu.2 Offiziell gilt der Überfall der TPLF auf eine Militärbasis der äthiopischen Armee im Norden des Landes am 3. November 2020 als Kriegsausbruch. Die TPLF sagte aber immer, dass dies ein Präventivschlag gewesen sei, weil die Regierung den Krieg geplant und die Region Tigray bereits umzingelt hatte. Es gibt relativ plausible Berichte, dass diese Version in etwa stimmen könnte. Demnach entliess Abiy sämtliche Stimmen, welche darauf drängten, den Konflikt mit der TPLF politisch statt militärisch zu lösen.3
Um die TPLF zu eliminieren, holte sich Abiy den neuen Verbündeten Eritrea zu Hilfe. Während Monaten war Tigray völlig blockiert, bis die TPLF im Juli 2021 die Provinzhauptstadt Mekelle zurückeroberte und von da an immer weiter Richtung Addis Abeba vordrang. Ihre Argumentation war dabei, dass Abiy einen Genozid gegen ganz Tigray (also nicht nur die TPLF) im Sinn habe und deshalb die Blockade durchbrochen werden sowie die Zentralregierung zu Gesprächen gezwungen oder sonst abgesetzt werden müsse. Im November schien Abiy zu wanken und mehrere Experten sagten sein Ende voraus. In einer riesigen Propaganda-Schlacht mobilisierte Abiy zahlreiche Freiwillige. Verschiedene Milizen, vor allem aus Amhara, unterstützten die geschwächte Armee. Die Trendwende folgte Ende des gleichen Monats, allerdings aus anderen Gründen: Abiy hatte von den Vereinigten Arabischen Emiraten, der Türkei und dem Iran Drohnen gekauft. Die TPLF hatte diesen wenig entgegenzusetzen und zog sich wieder nach Tigray zurück, um die Region zu verteidigen, auch weil von der anderen Seite neue Angriffe von Eritrea drohten.
Die TPLF ist mittlerweile zu Gesprächen bereit, bei denen sie sogar auf einige bisherige Forderungen verzichtet. Die Zentralregierung bombardiert Tigray weiterhin und ein Waffenstillstand wurde trotz zahlreicher Vermittlungsversuche der internationalen Gemeinschaft nicht erzielt. Beide Seiten haben schlimmste Menschenrechtsverletzungen begangen, Kindersoldaten sind beidseits im Einsatz. Insbesondere leidet Tigray aufgrund der militärischen Blockade unter einer furchtbaren Hungersnot. Die wenigen Berichte, die nach aussen dringen, sprechen davon, dass die Menschen Blätter von den Bäumen essen. 4
Aktuell hat Abiy also Oberhand. Gemäss verschiedenen Berichten ist die äthiopische Armee aber in einem miserablen Zustand, auch weil viele Generäle bei Kriegsausbruch die Seite wechselten. Auch hat sich die Regierung von den mitkämpfenden Milizen abhängig gemacht, die für die Terrain-Gewinne mitverantwortlich sind und kein Interesse an Verhandlungen zu haben scheinen. Die Hassrede in der Öffentlichkeit hat ein Ausmass erreicht, das Versöhnung beinahe unvorstellbar macht.

Die historischen und politischen Hintergründe

Der Konflikt zwischen den beiden Lagern ist nicht nur ein Kampf um Macht, sondern vor allem auch um verschiedene Vorstellungen eines politischen und ökonomischen Modells für Äthiopien. Das Land wurde vor 1991 über mehr als hundert Jahre fast ausschliesslich von Amhara-Vertretern regiert. Die Amhara drückten dem Land ihren Stempel auf, was sich kulturell auf unzähligen Ebenen und insbesondere in der offiziellen Amtssprache Amharisch ausdrückt. Kaiser Menelik II, der in der berühmten Schlacht von Adwa 1896 Italien besiegte und so verhinderte, dass Äthiopien von einer europäischen Macht kolonisiert wurde, verwirklichte gleichzeitig seine eigenen Expansionspläne, indem er die Gebiete südlich von Addis Abeba eroberte. Für die meisten Oromos und die anderen zahlreichen südlichen Völker ist Menelik deswegen alles andere als ein Held, er wird zum Teil sogar richtig gehasst. Die südliche Landeshälfte argumentiert, dass sie von den Amhara kolonialisiert wurde und dieser Kolonialismus bis heute andauert. Der Norden spricht hingegen lieber von der Vereinigung aller Äthiopier*innen. Dieser interne Kolonialismus führt zu grundlegend verschiedenen Ansichten, was Äthiopien überhaupt ist (abweichende Minderheiten auf beiden Seiten natürlich vorbehalten). Für die einen gibt es ein Äthiopien und alle sind Äthiopier*innen. Auch wenn es nicht gerne zugegeben wird, wird dabei Äthiopien mit der Amhara-Kultur gleichgesetzt, der sich alle anderen Ethnien entsprechend unterzuordnen haben. Die andere Seite versteht Äthiopien als Zusammenschluss der mehr als achtzig verschiedenen Völker, also eine Föderation der Vielfalt.5
Die TPLF war sich dieser Problematik bewusst. Selbst eine Minderheit, trat sie für den Föderalismus ein. Kleine Schritte in Richtung Dezentralisierung wurden gemacht, die Verfassung von 1995 deklariert sogar das Recht eines Volkes auf Unabhängigkeit. Faktisch regierte die EPRDF jedoch mit harter Hand und liess relativ wenig Autonomie zu. Abiy wurde nicht zuletzt deshalb Premierminister, weil ihn die Protestbewegung der Oromo unterstützte und er mehr Föderalismus versprach. Einmal an der Macht, verriet er dieses Versprechen sehr schnell und warf sich stattdessen der Amhara-Elite an die Brust. Ein Amhara-dominierter Zentralismus liegt in deren Interesse, während er gleichzeitig viel Macht in Abiys Händen konzentriert.
Die lange Geschichte des internen Kolonialismus hat die ethnischen Nationalismen entstehen lassen. Diese wurden immer stärker, so dass es mittlerweile in fast allen Regionen des Landes separatistische Bewegungen gibt, die meistens bewaffnet sind. Vor Abiys Antritt gab es immer wieder lokale Auseinandersetzungen mit Toten. Abiy hat diese Konflikte nicht geschaffen, sondern geerbt. Sein Umgang damit verstärkte sie jedoch weiter und brachte viele Volksgruppen gegen ihn auf. Ein Beispiel dafür ist die Oromo Liberation Army (OLA), eine Miliz der Oromo, welche ebenfalls gegen die Regierung kämpft, mit der TPLF verbündet ist und weite Gebiete in Oromia unter ihre Kontrolle gebracht hat. Will Äthiopien weiterhin als Land bestehen, muss es einen Umgang mit den separatistischen Bewegungen finden. In der aktuellen Situation gewinnen diese Fliehkräfte an Dynamik und wenn die geschwächte Zentralregierung diese Situation nicht stabilisieren kann, sei es durch eine kontrollierte Dezentralisierung oder weiterhin durch eine harte Hand, dann droht das Land tatsächlich auseinanderzufallen.
Der Konflikt ist auch ein Kampf um das ökonomische Modell. Während sich die TPLF klar links orientiert, tat sich Abiy als wirtschaftlicher Liberalisierer hervor. Die Privatisierung der Telekombranche ist unterwegs, andere ähnliche Vorhaben wurden wegen Widerstands auf Eis gelegt.6 Abiy avancierte nicht zuletzt aufgrund seiner neoliberalen Vorhaben zum Liebling der internationalen Gemeinschaft. Für den Entwicklungspfad des Landes sind solche Rezepte ein grosses Risiko. Der starke Einfluss des Staates beispielsweise in Sachen Industrieparks, Wechselkurs- und Kapitalverkehrskontrollen war ein zentraler Faktor für den wirtschaftlichen Erfolg. Die Liberalisierung des Handels und der Finanzflüsse sowie Privatisierungen könnten dem ein Ende setzen. Zum Beispiel könnte die ohnehin chronische Knappheit an Devisenreserven bei Öffnen der Schleusen eine Welle an Kapitalflucht in Gang setzen und eine Währungskrise auslösen. Die wahrscheinliche Folge wäre dann eine Austeritätsperiode und das Einfrieren der so notwendigen zukunftsweisenden Investitionspläne. Ob Abiy ausserdem wirklich so etwas wie einen eigenständigen Plan hat oder lediglich dem Lehrbuch der internationalen Finanzinstitutionen folgt, ist fraglich.
Schliesslich liegen dem Konflikt auch Landfragen zugrunde. Zwar wurde der Grossgrundbesitz unter Mengistu aufgehoben, was ein wichtiger Faktor für den späteren wirtschaftlichen Erfolg war. Dennoch wird entlang regionaler und ethnischer Linien um Land gestritten. In Äthiopien, wo 80 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft leben, kann die Bedeutung von Boden gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Amhara und Tigray beispielsweise kämpfen um ein fruchtbares Gebiet im heutigen West-Tigray. In diesem Zusammenhang kommt es regelmässig zu furchtbaren Massakern, weil beide Seiten zuerst das Land von der Gegenseite «säubern» wollen, um es sich dann einzuverleiben.

Aussichten

Welche Perspektiven gibt es in dieser vertrackten Situation? Oberste Priorität muss die politische und wirtschaftliche Stabilität haben. Wenn das Land auseinanderfällt, sind regionale Bürgerkriege, unzählige Tote und Rückschritte in der wirtschaftlichen Entwicklung sowie in der Bildung der staatlichen Institutionen garantiert. Ob Abiy als Premierminister diese Stabilität längerfristig garantieren kann, ist derzeit nicht klar. Grundsätzlich braucht es eine gleichberechtigte Allianz-Regierung. In einem Land, in dem historisch ein Krieg in der Regel erst endete, wenn der Gegner vollständig besiegt war, wäre eine Allianz allerdings eine Neuheit, etwas, womit es noch keine Erfahrung gibt.
Jawar Mohammed, der einflussreiche pro-föderalistische Aktivist aus Oromia, war entscheidend für die Machtübernahme Abiys, wurde dann von diesem ins Gefängnis gesperrt und erst Anfang 2022 wieder freigelassen. Er beschrieb die ursprüngliche Strategie seiner Bewegung wie folgt:7 Die TPLF sollte in einem ersten Schritt von der Macht entfernt werden. Das klappte. Im zweiten Schritt sollten der TPLF im Interesse der Stabilität und des Friedens wieder in die neue Regierung reintegriert und die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit verziehen werden. Das wäre dann eine Regierung gleichberechtigter pro-föderalistischer Kräfte, welche die wachsenden Spannungen zwischen den Volksgruppen entschärfen würde. Dieser zweite Schritt hat nicht funktioniert und die Frage ist, ob es das Land mindestens mittelfristig wieder auf diesen Pfad schafft.
In möglichen Friedensverhandlungen wird die Zentralregierung verlangen, dass die TPLF entwaffnet und in die äthiopische Armee eingegliedert wird. Tigray wiederum fühlt sich aufgrund der aktuellen Erfahrungen in seinen existenziellen Ängsten vor einer Vernichtung bestätigt und wird die bewaffnete Verteidigung der eigenen Minderheit nicht aufgeben wollen.
Die Lösung des Konflikts verlangt nach der Lösung der zugrundeliegenden Teilkonflikte, die alles andere als einfach ist. Mehr Föderalismus scheint zwingend, um die alten Wunden des internen Kolonialismus heilen zu lassen. Andererseits muss die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte nochmals einige Jahrzehnte weitergehen. Nur wenn die Armut gelindert wird und weniger Menschen von der Landwirtschaft und den zum Teil sehr kargen Böden abhängig sind, entschärfen sich die Landkonflikte. Zu viel Föderalismus bremst wiederum das Tempo der Wirtschaftspolitik und könnte so den Entwicklungszug entgleisen lassen. Eine Strategie in diese Richtung braucht als Erstes eine Zentralregierung, die vorerst die sezessionistischen Fliehkräfte kontrollieren kann. Danach kann das Land schrittweise und sehr langsam dezentralisiert werden, um Zeit zu gewinnen und die wirtschaftliche Entwicklung weiter voranzutreiben. Gleichzeitig muss das politische Vertrauen der Volksgruppen untereinander gestärkt werden, um Verständnis für diesen Prozess zu schaffen, eine Eskalation der gärenden Konflikte zu vermeiden und sie langsam zu entschärfen. Eine Mammutaufgabe.

Grundsatzfragen für die Linke

Vor diesem Hintergrund sollte sich die Linke immer wieder daran erinnern, dass politökonomische Problemanalysen für verschiedene Länder zwar häufig Parallelen aufweisen, dass aber vor allem der spezifische Zusammenhang entscheidend ist. Pauschalisierung schadet. Um wirklich Lösungsvorschläge machen zu können, braucht es eine pragmatische Herangehensweise, die sich auch vor unangenehmen Dilemmas nicht scheut.
Zum Punkt der Pauschalisierung: Die äthiopische Regierung mobilisiert die Unterstützung in der Bevölkerung unter anderem mit der Behauptung, der Westen mische sich in typisch imperialistischer Manier in die inneren Angelegenheiten des Landes ein. Zahlreiche linke Kreise nehmen diese Behauptung beinahe reflexartig auf.8 Die Erklärung lautet in der Regel in etwa, die USA planten einen Regime-Change, weil sie ein starkes Äthiopien verhindern wollen. Dabei wird auf die teilweise einseitige Berichterstattung beispielsweise von CNN verwiesen. Letzteres ist nachvollziehbar, allerdings ist die äthiopische Regierung dafür mitverantwortlich, weil sie den Medien jeglichen Zugang nach Tigray verwehrt. Es gibt abgesehen von den grundsätzlich sinnvollen Vermittlungsversuchen der USA und anderer Akteure keine Anzeichen für eine Intervention. Äthiopien wurde auf Anfang 2022 aus dem AGOA-Programm ausgeschlossen, welches armen Ländern privilegierten Zugang zum amerikanischen Markt gewährt. Diese Sanktion ist zwar schädlich und trägt nichts zur Konfliktlösung bei, ist aber nicht per se ein imperialistischer Akt. Nach dem für die USA desaströsen Abzug aus Afghanistan hat die amerikanische Regierung bestimmt keine Lust, sich in einem weiteren ebenso komplexen Konflikt die Finger zu verbrennen. Wenn die USA ausserdem wirklich Abiy beseitigen wollten, hätten sie kaum den Emiraten als treuen Alliierten erlaubt, Drohnen nach Äthiopien zu liefern. Die Liste der amerikanischen Interventionen in fremden Ländern ist lang, im vorliegenden Kontext macht die Theorie jedoch keinen Sinn. Es handelt sich zum allergrössten Teil um einen internen Konflikt. Der reflexartige Fingerzeig auf die USA vernebelt den Blick.
Dennoch führt diese Debatte zu einem zweiten wichtigen Punkt: Wann ist welche Art von ausländischer Intervention gerechtfertigt? Diese Frage ist extrem schwierig zu beantworten. Ein militärischer Einsatz verschlimmert die Lage, auch eine UN-Mission steht derzeit nicht zur Diskussion. Sanktionen treffen häufig die falschen. Aber geeignete Massnahmen wie beispielsweise das Einfrieren bestimmter Konten könnten trotzdem hilfreich sein. Sich nicht in interne Konflikte anderer Länder einzumischen tönt edel, verlängert aber häufig das Leiden. Ein gut informierter Beobachter in Addis Abeba teilte seine Einschätzung mit mir, dass der Krieg ohne Einwirkung von aussen noch fünfzehn Jahre dauern könnte. Interventionen sind in vielen Fällen heikel, aber manchmal ist Nichtstun schlechter.
Und zum letzten, wichtigsten Punkt: In welchem Verhältnis stehen wirtschaftliche Entwicklung und Demokratie? Nach Abiys politischen Reformen, kehrten viele politische Führer aus dem Exil zurück und trugen danach durch ihr Verhalten zur Eskalation bei. Die Öffnung wurde rasch vielerorts als zu schnell beurteilt, wenig später wurde die Repression umso härter. Demokratisierung kann den Ausbruch schwelender Konflikte beschleunigen. Die wirtschaftliche Entwicklung ist eine Voraussetzung, um soziale und ethnische Spannungen in einem Land zu entschärfen und langfristig Frieden herzustellen. Frieden und Stabilität sind wiederum unabdingbar für eine funktionierende Demokratie. Es mag ketzerisch sein, aber der zu diskutierende Gedanke steht im Raum: Politische Repression und die Abwesenheit von Demokratie erlauben einer Regierung, langwierige Diskussionen zu vermeiden, Konflikte im Zaum zu halten, ehrgeizige Entwicklungspläne umzusetzen und so die Armut rasch zu reduzieren. Damit wird eine stabile Demokratie zu einem späteren Zeitpunkt überhaupt erst möglich. Wie geht die Linke mit diesem Dilemma um?

Fussnoten

1. Siehe z.B. Chang, H.-J. & Hauge, J. (2019), “The Concept of a ‘Developmental State’ in Ethiopia”, in F. Cheru, C. Cramer and A. Oqubay (eds.), The Oxford Handbook of the Ethiopian Economy, Oxford University Press (S. 824-841).
2. Siehe z.B. Mohammed, J. (2020), «Jawar Mohammed: The war in Tigray is a result of Ethiopia’s mismanaged transition”, Awash Post, November 3
3. New York Times (2021), «The Nobel Peace Prize that Paved the Way for War”, December 15
4. Anna, C. (2021), «’I just cry’: Dying of hunger in Ethiopia’s blockaded Tigray”, Associated Press
5. Siehe Mengisteab, K. (2019), “Federalism in Ethiopia’s Transformation”, in F. Cheru, C. Cramer and A. Oqubay (eds.), The Oxford Handbook of the Ethiopian Economy, Oxford University Press (S. 66-79).
6. Albisser, A. (2021), «Abiy agiert aus Verzweiflung – Interview mit E.C. Zeleke», die Wochenzeitung, Nr. 37, 16.09.
7. Mohammed, J. (2020), «Jawar Mohammed: The war in Tigray is a result of Ethiopia’s mismanaged transition”, Awash Post, November 3
8. Siehe z.B. Sembdner, I. (2022), «Dorn im Auge Washingtons», junge Welt, 04.01.
Zur Person: Basil Oberholzer ist Ökonom, ehemaliger St.Galler Kantonsrat der GRÜNEN und derzeit beruflich in Äthiopien tätig.
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