Klimapolitik: Auch kleine Schritte führen in die Katastrophe
Die Diskussionen vor und nach der Abstimmung zum CO2-Gesetz zeigen, dass in der Schweiz vor allem etwas fehlt: strategische Debatten darüber, wie die Klimakatastrophe aufgehalten und Klimagerechtigkeit erreicht werden kann.
Das CO2-Gesetz wurde mit 51,6 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Nun stellt sich für Linke noch viel dringender die Frage: Wie weiter? Denn jene, die die Reform als ungenügenden, aber wichtigen Schritt verteidigten, sind bis heute etwas schuldig geblieben: Eine ernsthafte Diskussion darüber, welche grundlegenden Veränderungen es braucht, um die Klimakatastrophe zu verhindern. Und wie der Weg dahin aussehen soll.
Zwar sprechen etwa die Grünen, die SP und die Gewerkschaften in ihren klimapolitischen Positionspapieren von einer Überwindung des profitorientierten Wirtschaftens. Doch wie dies gegen mächtige und reiche Gegner:innen erreicht werden kann und ob die bestehenden Strategien dafür ausreichen, bleibt unklar. Eine pragmatische Politik der kleinen Schritte ohne politische Utopie wird die Katastrophe nicht abwenden. Ein Systemwandel braucht andere politische Ansätze.
Strategische Fragen
Die Klimakatastrophe braucht einschneidende und radikale Massnahmen. Nehmen wir das Beispiel der massiven Arbeitszeitreduktion – eine klimapolitisch wichtige Massnahme, wie verschiedene Studien zeigen. Denn mit einer Senkung der Erwerbsarbeitszeit bei gleichbleibenden Löhnen (bei unteren Einkommensschichten) kann die kapitalistische Tretmühle des Immermehr durchbrochen werden. Weniger Lohnarbeitszeit schafft zeitliche Freiräume, um sich gesünder zu ernähren, nachhaltiger fortzubewegen und Menschen besser umsorgen zu können. Die SP fordert „mittelfristig“ eine 35-Stundenwoche, während die Grünen sogar von einer 30-Stundenwoche sprechen. Die Unia will ebenfalls eine Reduktion der Erwerbsarbeitszeit, ohne jedoch konkrete Zahlen zu nennen.
Das letzte Mal, als in vielen Industrieländern – auch in der Schweiz – eine markante und rasche Reduktion der Erwerbsarbeitszeit durchgesetzt wurde, war in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Damals brach nicht nur in Russland eine Revolution aus, sondern auch in zahlreichen anderen Ländern ging die Arbeiter:innenschaft in Massen auf die Strasse, streikte und erschütterte die Grundpfeiler der damaligen Gesellschaft. Dadurch verschob sich das Kräfteverhältnis zwischen denen, die Geld und Macht besitzen und denen, die sich das Dach über dem Kopf und den vollen Teller Tag für Tag neu verdienen müssen, zugunsten der Lohnabhängigen.
Heute sind wir weit entfernt von den damaligen Kräfteverhältnissen. Kann aber eine rasche Arbeitszeitreduktion um 16 bis 28 Prozent erreicht werden, wenn die grossen Gewerkschaften an der institutionalisierten Sozialpartnerschaft festhalten? Können Grüne und SP das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit mit einer Politik der kleinen Schritte verändern?
Die Logik der kleinen Schritte durchbrechen
Die vorherrschende Strategie der zwei grossen linken Parteien sowie der grossen Gewerkschaften und NGOs setzt weiterhin vorwiegend auf institutionelle Prozesse. Deren Strategie wird vornehmlich von Wahlen, Abstimmungen, Vernehmlassungen und sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen bestimmt. Soziale Bewegungen und Mobilisierungen werden in der Regel als Zuarbeiter:innen gesehen. Das führt zu einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte, bei der manchmal sogar Verschlechterungen als geringere Übel verteidigt werden.
In diesem Sinne sahen wir linke Akteur:innen, die die AHV-Revision von 2017 verteidigten. Dies, obwohl sich viele feministische Gruppen gegen eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen aussprachen. Gleiches gilt für die von linken Parteien und NGOs unterstützte Asylgesetzrevision von 2016, die zu gefängnisähnlichen Asylzentren und zu noch mehr abgelehnten Anträgen geführt hat.
Das Problem: Selbst wenn diese Strategie der kleinen Schritte irgendwann ans Ziel führen sollte, sie wird nicht die Klimakatastrophe aufhalten. Im Anschluss an eine kürzlich erschienene Studie der Internationalen Energieagentur liess deren Leiter Fatih Birol unmissverständlich verlauten, dass es zur Erreichung der Klimaziele ab sofort keine Investitionen in fossile Energien mehr geben dürfe. Wir wissen aber, dass etwa die Schweizer Grossbanken weiterhin Millionen in Erdgas, Kohle und Öl investieren.
Wenn dann die Grüne Partei in ihrem „Klimaplan“ vorwiegend auf Benchmarks, Monitoring, Zielvereinbarungen mit der Branche oder finanzielle Anreize setzt, wird deutlich, wie gross die Distanz zu dem ist, was eigentlich notwendig wäre. So stehen wir weiterhin vor der Frage: Wie bringen wir die Grossbanken Crédit Suisse und UBS, die zwischen 2016 und 2020 118 Mrd. USD in fossile Energien investiert haben, dazu, nicht schrittweise, nicht freiwillig – weil sie es freiwillig nicht tun werden – und auch nicht übermorgen, sondern sofort ihre Gelder aus dreckigen Energien abzuziehen?
Damit ein grundlegender Systemwandel möglich wird, braucht es eine grosse Bandbreite von Organisationen und Bewegungen, die auch ausserhalb der institutionellen Politik und ihrer Sachzwänge und Agenden agieren. Es braucht ein eng geknüpftes Netz von kollektiven Strukturen, wo Erfahrungen ausgetauscht und weitergegeben, alternative Praktiken eingeübt sowie Utopien Konturen bekommen. Durch eine solche Infrastruktur des Dissens und der Utopien lernen Menschen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Eine solche kollektive Infrastruktur lässt sich aber nur begrenzt aufbauen, wenn die Menschen vornehmlich als Einzelpersonen dazu aufgerufen werden, alle paar Monate ihre Stimm- oder Wahlzettel einzuwerfen.
Gemessen daran ist es wenig hilfreich, wenn einige Exponent:innen der grossen linken Parteien offen Druck auf die Klimabewegung ausüben, damit diese sich realpolitisch anpasst. Und äusserst problematisch ist es, wenn SP-Fraktionschef Roger Nordmann Teile der Klimabewegung als «extremistisch» bezeichnet. Das Mindeste wäre, eine Arbeitsteilung zwischen parlamentarisch orientierten Parteien und ausserparlamentarischen Bewegungen anzuerkennen und die Klimabewegung als ungemütlichen Stachel im Fleisch der (auch linken!) institutionellen Politik zu akzeptieren und zu bestärken.
Natürlich müssten sich alternative Strategien keineswegs vollständig von den institutionellen Prozessen abkehren. Sie müssten aber vom Grundsatz ausgehen, dass das parlamentarische Spiel längst nicht der einzige Ort ist, wo Menschen umgestimmt, Mehrheitsverhältnisse verändert, Allianzen geschmiedet, Kräfteverhältnisse umgestülpt werden. Dies zwingt uns, strategische Fragen ganz offen auszudiskutieren: Wie ausserparlamentarische und parlamentarische Politik verknüpfen? Unter welchen Umständen sind kostspielige und langwierige Volksinitiativen ein geeignetes Mittel? Wie Druck auf mächtige Akteur:innen der Wirtschaft ausüben? Wie Klimapolitik mit sozialen, feministischen, antirassistischen Anliegen und Bewegungen verbinden? Wie dazu beitragen, dass es international abgestimmte Klimaregeln gibt? Und mit welchen politischen Kräften lässt sich zusammenarbeiten?
Falsche Freunde
Während der Abstimmungsdebatten hörten wir von allen Seiten, die Gegner:innenschaft einer richtigen Klimapolitik bestünde aus der SVP und der „Öllobby“. Alle, die auf die eine oder andere Weise anerkennen, dass klimapolitisch etwas geschehen sollte, müssten nun zusammenspannen.
Dabei geht etwas Entscheidendes vergessen: Spätestens seit dem Aufkommen der Klimabewegung verläuft die Grenze nicht mehr einfach zwischen den expliziten oder impliziten Leugner:innen der Klimakrise und jenen, die den wissenschaftlichen Konsens anerkennen. Unter den politischen Kräften, die für gewisse harmlose Klimaschutzmassnahmen werben, gibt es sehr viele, die keineswegs die dringend notwendigen Schritte einleiten wollen – ja diese sogar sabotieren. Viele Grosskonzerne und wirtschaftsliberale Politiker:innen versuchen, sich einen grünen Anstrich zu geben, um weiterhin dem business as usual nachzugehen und die Klimapolitik den eigenen Interessen unterwerfen zu können.
Wenn wir davon ausgehen, dass zur solidarischen Bekämpfung der Klimakatastrophe tiefsitzende Macht- und Wirtschaftsstrukturen verändert werden müssen, wird das Benennen von politischen Gegner:innen und Alliierten komplexer. Dann müssen die weiterhin massiv in fossile Energien investierenden Banken mit ihren klimazerstörerischen Praktiken konfrontiert werden. Dann sind jene, die, ohne mit der Wimper zu zucken, Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken lassen, keine Alliierten. Dann können wir von jenen, die umweltzerstörerischen Grosskonzernen Steuergeschenke machen, keine Hilfe erwarten.
Verweigerung
Wenn es etwas gibt, worauf im Kampf gegen die Klimakatastrophe nicht verzichtet werden kann, dann sind es starke ausserparlamentarische Bewegungen. Denn diese transportieren immer eine widerspenstige Ungeduld, eine Verweigerung, sich vertrösten zu lassen. Nichts ist kostbarer als das in einer Situation, in der jede Tonne CO2, jede neu gebaute Pipeline und jeder ausgebaute Flughafen uns einen Schritt näher in Richtung Klimakatastrophe bringen. Immer wieder werden Hoffnungen geschürt: Mehr Demokratie, mehr Frauenrechte, weniger CO2 usw. würden sich gleich hinter der nächsten Wegbiegung befinden. Dieses andauernde Vertrösten auf später gilt es entschieden zurückzuweisen.
Diese Ungeduld auch in der Schweiz wieder hör , fühl- und sichtbar gemacht zu haben, ist der Verdienst des Klima- und feministischen Streiks. In diesen Bewegungen wird Politik massenweise auf die Strasse, in die Haushalte, die Schulen, Unis und Arbeitsplätze getragen. Es werden Kollektive gebildet, die sich nicht nur durch das Einwerfen von Abstimmungsunterlagen und Wahlzetteln ausdrücken, so wichtig es auch sein mag. Sie machen Politik, indem sie eine klare Haltung einnehmen und der Gesellschaft bei jedem Streik aufs Neue zurufen: Es reicht, da machen wir nicht mit! Die Bekämpfung der Klimakrise muss als Grundpfeiler eine Strategie der kollektiven Verweigerung im Hier und Jetzt haben – wir sollten weiter und noch zahlreicher fürs Klima streiken.
Zum Autor: Milo Probst ist Historiker und arbeitet derzeit an einer Dissertation über die Umweltkritik im Anarchismus des ausgehenden 19. und anbrechenden 20. Jahrhunderts an der Universität Basel. Er interessiert sich für die Schnittstellen zwischen Forschung und Aktivismus und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.
Dieser Denknetz-Diskussionbeitrag erschien zuerst im Online-Magazin „Das Lamm“