Lukas Brügger

Gespräch

«Anstatt die Mensch-Natur-Verhältnisse als politische und gesellschaftliche Fragen zu thematisieren, kaufen wir mit unseren Schuhen die Reinigung der Ozeane von Plastikflaschen.» Ein Gespräch mit Franz Heilgendorff
21.07.2024 | Das Buch «Kategoriale Kritik. Zur Bedeutung von Kategorie und Begriff in der dialektischen Methode bei Marx» von Franz Heilgendorff bietet eine beeindruckende, aber herausfordernde analytische Rekonstruktion der Funktionen der Kategorien in der dialektischen Darstellung bei Marx. Anknüpfend an die Buchrezension wurde ein Gespräch geführt, um die anspruchsvolle Thematik und die Bedeutung der Analyse für die politische Praxis vertiefen zu können.
Lukas Brügger: In der Rezension zu deinem Buch wird am Ende die Frage aufgeworfen, welche sozialen Bewegungen heute in Richtung einer anderen Vergesellschaftungsform der Arbeit weisen und somit eine Gegenproduktion zur bestehenden Wirklichkeit ermöglichen. Diese Fragestellung resultiert aus der Rekonstruktion der kategorialen Kritik bei Marx, denn die Aufdeckung der Konstitutionsbedingungen der Kategorien als historische und somit vergängliche Formbestimmungen führt zur gesellschaftlichen Praxis und der Erkenntnis, dass diese nur aufgehoben werden können, «wenn die ihnen zugrunde liegenden Verhältnisse revolutioniert werden, die diese gesellschaftlichen Formen konstituieren: die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse», wie du in der Einleitung schreibst.
Wie beurteilst du diese Fragestellung, welche Konsequenzen sind diesbezüglich aus der Lektüre des Buches aus deiner Sicht zu ziehen?
Franz Heilgendorff: Ich denke, dass das Konstitutionsproblem tatsächlich das Zentrum einer Kritik der Gesellschaft ausmacht. Dies liegt schon in der Frageperspektive nicht nur nach dem, was die Dinge sind, sondern wieso und warum sie so (und nicht anders) sind. Die Voraussetzung ist also, dass da schon immer irgendetwas ist, oder wie Marx und Engels in der «Deutschen Ideologie» betonen: die Voraussetzung ist stets, dass «bestimmte Individuen auf bestimmte Weise produktiv tätig sind» (MEW 3, S. 25).
Dass grosse Teile der Gesellschaft gezwungen sind, eine eigene Identität zu entwickeln, selbstbestimmt zu leben, ist z.B. ein Erfordernis der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Der dabei angerufene Traum gelungener Individualität und Handlungsfähigkeit ist aber selbst nur eine Reflexionsform der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse (z.B. Schubert 1984; Bolay/Trieb 1988).
Ohne die Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen, einen identischen und zweckgerichteten Charakter im Ich zusammenzuhalten, bei gleichzeitiger Verdrängung von Triebkräften, wäre die bürgerliche Gesellschaft undenkbar. Und ich denke, dass an diesem Punkt die Kritik der Gesellschaft radikal wird, weil es nicht mehr nur um die Frage geht, wie Leid durch Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums gemindert werden kann. Wo immer möglich, ist dies bedingungslos zu unterstützen, aber Marx‘ Kritik zielte auf etwas anderes: Es geht nicht darum zu erklären, wie man unter den gegebenen Verhältnissen produziert, überlebt oder liebt, sondern wie diese Verhältnisse selbst produziert werden.
Es ist natürlich zynisch, dem konkreten Leiden an der Gesellschaft mit dem Erfordernis philosophischer Reflexion zu kommen. Aber die grundlegende Einsicht von Marx ist, dass das Leiden und überhaupt die Verhältnisse zu den Dingen nicht isoliert und in ihrer Unmittelbarkeit betrachtet werden dürfen, sondern eine doppelte Formbestimmung haben. Einmal ist dort der individuelle Bezug auf den Gegenstand, aber dieser ist zugleich immer auch überindividuell, gesellschaftlich bestimmt.
Eine Konsequenz aus dem Buch wäre also der Bruch mit der bürgerliche Theorietradition, die durch den folgenden Widerspruch konstituiert wird: Immer ist es die Naturalisierung eines mit sich identischen Subjekts, das seine eigenen Interessen verfolgt und hierbei auf andere ebensolche Subjekte trifft. In der praktischen Philosophie erscheint dies in der Form des Vertrages, der Staat und Gesellschaft begründet. In der theoretischen Philosophie, dass die Intersubjektivität der Erfahrungen Objektivität und Wahrheit begründen sollen. In diesem Begründungszusammenhang werden Grund und Begründetes vertauscht: Das Produkt der bürgerlichen Gesellschaft erscheint verkehrt als Begründendes.
Unmittelbar greifbar wird dies am Lohn: Die Lohnhöhe bestimmt über den Grad der Bedürfnisbefriedigung (begründend), obwohl sie als Form Produkt der Gesellschaft ist (Begründetes). Für das Subjekt zeigt sich entsprechend der «Schein, die subjektive Reflexionsfähigkeit und Reflexionsmöglichkeit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder konstituiere erst Gesellschaft und verdeckt dadurch das Gegenteil, dass erst das objektive Reflexionsverhältnis ihrer Warenprodukte diesen Zusammenhang konstituiert.» (Bolay/Trieb 1988, S. 74). Problematisiert wird also gemeinhin nicht die Existenzform des Menschen als Persönlichkeit, sondern ihre Fragilität.
Aus dem Blick gerät so, dass das, was als Persönlichkeit und Subjekt auftritt, eine Zwangsform der Gesellschaft ist, konstituiert als Synthesis von Sozialcharakteren und Psychologischem (Adorno, GS 8, S. 69).
Noch radikaler ist der Feminismus: Butler führt diesen Gedanken Adornos weiter, wenn sie folgert, dass unter diesen Verhältnissen ein Selbst zu besitzen, bedeutet, die Bedingungen seiner eigenen Unterordnung zu begehren. Ein Subjekt ohne Unterordnung ist undenkbar, insofern das Subjekt «genötigt [ist], nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es nicht selbst hervorgebracht hat […]. Soziale Kategorien bezeichnen zugleich Unterordnung und Existenz. Anders gesagt: im Rahmen der Subjektivation ist Unterordnung der Preis der Existenz» (Butler 2001, S. 25).
Monique Wittig argumentiert, dass die Kategorien «woman» und «man» als eine Bestimmung bürgerlicher Verhältnisse gänzlich abzuschaffen seien, da eine andere Vergesellschaftungsform nur durch die Zerstörung der Heterosexualität als sozialem System erreicht werden könne (Wittig 1992, 11ff.).
Sie gehen damit weit über Marx hinaus, weil noch in den abstraktesten Bestimmungen der Niederschlag von Geschichte und Herrschaft nachgewiesen wird. Marx erkannte zwar, dass die Proletarier nur durch einen radikalen Bruch «ihre Persönlichkeit durchzusetzen» (MEW 3, 77) vermögen, aber die Form selbst, die «Person», wurde kaum in Frage gestellt; vielleicht auch, weil kaum zu antizipieren ist, welche Formen der Vergesellschaftung kommen werden.
Die Beispiele zeigen, denke ich, dass nicht nur für Marx, sondern für alle emanzipatorischen Praxen das Konstitutionsproblem entscheidend ist. Wenn also die genannten Formbestimmungen gesellschaftstheoretisch fassbar sind, dann ist ihre Kritik wesentlich als Kritik der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Denn diese Formen oder besser Kategorien, so Karel Kosík, sind nichts anderes als die verdinglichte Form der gesellschaftlichen Bewegung der Menschen (Kosík 1986, S. 190f.).
LB: Es zeigt sich bei diesen Ausführungen ein komplexes Verhältnis von Theorie und Praxis, was du auch in deinem Buch zum Ausdruck bringst: Die gedankliche Reproduktion der Konstitutionsbedingungen der Wirklichkeit mittels der kategorialen Kritik leistet nur den einen Teil der Kritik. Den anderen Teil leisten die praktischen Kämpfe, welche eine andere Vergesellschaftungsform der Arbeit als eine Gegenproduktion von Wirklichkeit anstreben.
Die Darlegungen drängen zur Frage, welche sozialen Gruppen diese Verschränkung von Erkenntniskritik und praktischer Kritik verkörpern, welche sozialen Gruppen als potentielle Trägerinnen des emanzipatorischen Kampfes um eine Reorganisation der zugrunde liegenden Verhältnisse – der kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse – heute auftreten und warum.
Dies führt wiederum zu klassentheoretischen und -analytischen Überlegungen rund um die Frage der Konstitution und Organisation von emanzipatorischen Klassenbewegungen. Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser schreiben in ihrem Manifest für einen Feminismus für die 99%, dass die Kämpfe um gesellschaftliche Reproduktion «heute der avancierteste Teil von Projekten, die das Potential haben, die Gesellschaft von Grund auf zu verändern», seien (Arruzza/Bhattacharya/Fraser 2022, S.38).
Du hast oben die Radikalität feministischer Autorinnen betont. Siehst du entsprechend auch feministische Klassenbewegungen als diejenigen, welche am ehesten das Potential haben für eine praktische Verschränkung von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik, welche die bürgerlichen Verhältnisse umwälzen?
FH: Das entscheidende ist, wie eben schon angedeutet, Kategorien (Lohn, Subjekt, …) als eine Verdinglichung oder auch als eine Verdichtung eines Verhältnisses lesen zu lernen. So verschieden die einzelnen feministischen Positionen sein mögen, eint sie der Modus der Kritik, Dinge als Verhältnisse aufzufassen und die einem als Block und Unmittelbarkeit gegenüberstehende Welt zu verflüssigen, zu historisieren und z.B. Geschlecht als Verhältnis oder wie Kate Soper die Natur als Verkörperung von Herrschaft lesen.
An dieser Stelle lassen sich Marxismus und Feminismus zusammendenken, immer eingedenk der Gefahr der Rekuperation oder eines reformulierten Haupt- und Nebenwiderspruchs: Karel Kosík las – wie gesagt – die marxschen Kategorien als Knotenpunkte der menschlichen Praxis. Harry Cleaver versuchte, die Kategorien von Gebrauchswert und Wert politisch, d.h. klassenanalytisch zu lesen, Nicos Poulantzas hat den Staat als Verdichtung materieller Kräfteverhältnisse aufgefasst. Auch Adornos Überlegungen zu einer Einheit von Vernunft- und Gesellschaftskritik können durch feministische Kritik über sich hinausgetrieben werden.
Wobei sich an dieser Stelle Georg Lukács Frage nach dem Bewusstsein des Proletariats erneut stellt: Woher kommt diese privilegierte Erkenntnisposition? (Und: Ist diese Vorstellung nicht ohnehin zu kritisieren?) Für Lukács war das Proletariat Objekt des gesellschaftlichen Geschehens. Die individuelle Konsumtion, Leben und Arbeit sind untrennbar mit der Produktion und Reproduktion des Kapitals verbunden und es erfährt so die Abstraktionen und Quantifizierung der kapitalistischen Ökonomie am eigenen Leib. Diese direkte Erfahrung der Entfremdung und Verdinglichung in der kapitalistischen Produktionsweise ermögliche dem Proletariat, die grundlegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Widersprüche nicht nur zu identifizieren, sondern auch praktisch zu überwinden – weil sie durch es hindurchgehen und so reproduziert werden.
Donna Haraway und andere legen sich das Problem mittels der hegelschen Dialektik von Herr und Knecht sehr ähnlich zurecht: Indem nicht die Arbeit des Selbst der Ursprung der Frau sei, sondern das Begehren des Anderen, komme es zu einer Konstruktion von Bewusstsein, das zur Selbsterkenntnis eines Selbst-das-nicht-ist führe (Haraway 1995, S. 46).
Ähnlich liest sich das auch bei Monique Wittig: «Wenn wir entdecken, dass Frauen die Objekte von Unterdrückung und Aneignung sind, werden wir in dem Moment, in dem wir dies wahrnehmen können, durch eine Abstraktionsoperation zu Subjekten im Sinne von kognitiven Subjekten. Das Bewusstsein der Unterdrückung ist nicht nur eine Reaktion auf die Unterdrückung (es ist der Kampf gegen sie). Es ist auch die gesamte begriffliche Umwertung der sozialen Welt, ihre völlige Reorganisation mit neuen Begriffen ausgehend vom Gesichtspunkt der Unterdrückung” (Wittig 1992, S. 18).
Hier liegt einerseits die Gefahr, diese Fragen diskurstheoretisch oder sprachphilosophisch aufzulösen, andererseits aber der Punkt, an Marx anzuknüpfen und dies mit der Kritik der politischen Ökonomie zusammenzuführen, denn die Reorganisation ist nicht nur eine begriffliche, sondern eine praktisch-kritische Tätigkeit (vgl. ebd., S. 19f). Es geht also dabei um die Gegenproduktion, die du angesprochen hast, oder das, was Oskar Negt und Alexander Kluge im Begriff der proletarischen Öffentlichkeit versuchen einzufangen.
LB: Herauszuarbeiten, worin diese praktisch-kritische Tätigkeit besteht, ist ja auch ein ganz wesentlicher Anspruch deines Buches und hat viel mit der Frage zu tun, wie Philosophie und Gesellschaftskritik bei Marx zusammenhängen. Kannst du das vielleicht noch ein bisschen genauer skizzieren? Und anknüpfend an deine Analyse der dialektischen Methode bei Marx: Was heisst es, aus dieser Perspektive Marx zu lesen?
FH: Dazu muss man sich erinnern, dass Marx’ Kritik an der Philosophie gerade war, dass der Mensch kein geistiges, sondern ein sinnlich-übersinnliches Wesen ist. Diese Doppelbestimmung drückt sich in der Kritik der politischen Ökonomie so aus, dass die Gesellschaftlichkeit der Menschen, das Übersinnliche, als Eigenschaftsbestimmung der Arbeitsprodukte erscheint, Wert zu besitzen. Im Tauschwert ist diese übersinnliche Bestimmung oder das gesellschaftliche unmittelbar sinnlich ausgedrückt, wenn z.B. ein Rock zwei Ellen Leinwand wert sind.
Der Unterschied zu postmoderner Philosophie ist, dass das Übersinnliche oder eben das Gesellschaftliche immer an eine Form von Leiblichkeit gekoppelt bleibt. Ohne eine sinnliche Basis könnten wir nichts wahrnehmen. In diesem Sinne werden die stofflichen mit gesellschaftlichen Bestimmungen überschrieben, die dann verkehrt als gesellschaftliche Natureigenschaften der Dinge erscheinen, wie Tairako Tomonaga (1987) betont.
Ich denke, deswegen fasst Donna Haraway die Fragen einer «praktisch-kritischen» Tätigkeit auch als Kodierungsproblem (Haraway 1995, S. 48ff.). Man kann dies auch auf den Begriff der Dialektik des Ideellen (Iljenkow 1994) bringen: Gesellschaftliche Verhältnisse müssen sich raum-zeitlich materialisieren und erscheinen dann in der Form eines gesellschaftlichen Naturdings von bestimmten Eigenschaften (MEW 42, S. 22). Das zur Frage, wie Marx zu lesen sei, ohne sich in diesem Denken einzubilden, «an der Auflösung der Verdinglichung, des Warencharakters, den Stein der Weisen zu besitzen» (Adorno 1986, S. 191).
Dies ist der Punkt, wo die Notwendigkeit wie Grenze philosophischer Reflexion klar wird: Denn womit dabei operiert wird, sind zumeist Reflexionskategorien der Philosophie (Subjekt/Objekt, Etwas/Anderes, Identität/Differenz, Wesen/Erscheinung…). Diese entspringen nicht dem reinen Denken, sondern sind der philosophische Ausdruck des Widerspruchs zwischen Mensch und Natur, der inneren wie äusseren. Und hier schliesst der Feminismus an das Projekt der Kritischen Theorie an, metaphysische Kategorien zu politisieren bzw. die in ihnen sedimentierte gesellschaftliche Praxis herauszuarbeiten.
Wenn in der «Dialektik der Aufklärung» als Kern der Aufklärung der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter erkannt wird (Adorno/ Horkheimer 1981, S. 51f.) und damit ein instrumentelles Verhältnis zur Natur, dechiffriert der Feminismus die zentralen Kategorien wie z.B. das Subjekt als gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis. Umgekehrt heisst dies, dass die gesellschaftliche Praxis den Inhalt der Denkbestimmungen umwälzt: In der Frauen- oder auch Ökologiebewegung wird nicht nur die Relation Mensch-Natur völlig neu bestimmt, sondern damit auch die dies Verhältnis ausdrückenden philosophischen Kategorien neu strukturiert.
LB: Kannst du hierfür ein Beispiel geben?
FH: Identität z.B. darf nicht mehr so aufgefasst werden, dass es darum geht, eine ursprüngliche Einheit wieder herzustellen oder anhand äusserer Merkmale eine Einheit zu bestimmen, die eine Vereinnahmung darstellt. Es geht darum, Organisationsformen zu finden, in denen das – leider gibt es hier keine bessere Kategorie – Subjekt der Ausgangspunkt ist. Aber eben nicht als vereinzeltes Individuum, das seinen Willen in die Wirklichkeit setzt und so wechselseitige Anerkennungsverhältnisse möglich werden, sondern zugleich als schon immer bestehender, bedürftiger Teil eines Ganzen (MEW 40, S. 544, 579).
In den Worten von Wittig: «Diese reale Notwendigkeit, dass jeder sowohl als Individuum als auch als Mitglied einer Klasse existiert, ist vielleicht die erste Bedingung für die Verwirklichung einer Revolution, ohne die es keinen wirklichen Kampf und keine wirkliche Veränderung geben kann. Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Ohne Klasse und Klassenbewusstsein gibt es keine wirklichen Subjekte, sondern nur entfremdete Individuen» (Wittig 1992, S. 19).
In dieser Form praktisch-kritischer Tätigkeit ist Identität anders gefasst, insofern ein «selbstbewusst konstruierte[r] Raum ab[gesteckt wird], der nicht mit Handlungen auf der Grundlage natürlicher Identifikation gefüllt werden kann, sondern nur aufgrund bewusster Koalition, Affinität und politischer Verwandtschaft.» (Haraway 1995, S. 42) Man könnte auch mit Marx sagen, dass es um Selbstverständigung geht, nämlich über unsere Kämpfe und unsere Wünsche (MEW 1, S. 345f).
LB: Aus vielleicht ungeduldiger Verzweiflung kann sich hier folgende Frage stellen: Wie soll das oben genannte nachhaltig gelingen in Anbetracht der gegenwärtigen Vergesellschaftungsform der Arbeit im globalen Kapitalismus und der damit verbundenen fortwährenden Reproduktion der zu entschlüsselnden herrschenden Abstraktionen?
FH: Die Frage ist komplex, aber eigentlich hat schon Hegel hier im Bild der Eule der Minerva, die den Flug in der Dämmerung beginnt, vieles beantwortet (Hegel-Werke 7, S. 28). Seine Kritik an der französischen Revolution war, dass dort versucht wurde, die Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit in einer Wirklichkeit geltend zu machen, die dem in ihren materiellen Voraussetzungen widersprach und so zum Terror führte, in der die Wirklichkeit martialisch dem Begriff angepasst werden sollte. Hegels Schlussfolgerung war, dass es an bereits bestehende Tendenzen anzuknüpfen gilt und diese weiterentwickelt werden müssen (ebd., S. 24, 26).
D.h. Hegels Antwort auf dieses Dilemma war sehr ähnlich zu der von Marx, der meinte, die Menschen würde sich nur Fragen stellen, auf die sie schon eine Antwort besitzen (MEW 1, S. 346) bzw. dass eine Aufgabe nur dort entspringe, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind (MEW 13, S. 9).
So seltsam es klingt, aber der Sache nach sind also die Bedingungen der Möglichkeit vorhanden. Aber so einfach ist es auch wieder nicht. Slavoj Žižek (2014) hat diese Probleme meines Erachtens sehr genau bestimmt: Wenn plötzliche eine Veränderung eintritt, wie z.B. der arabische Frühling, dann scheint dies erst einmal aus dem Nichts zu kommen. Ist die Revolte aber erst einmal vorhanden, lassen sich die Bedingungen rekonstruieren, die diese schon immer bestehende Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt haben. Das drückt Hegels Bild der Eule der Minerva aus und es klingt erst einmal so, als wäre man zum Abwarten verdammt.
Aber das wäre das, was Hegel als verständiges Denken geisselte, Optimismus und Pessimismus gegenüberzustellen, zu versuchen Voluntarismus und Determinismus auszuspielen. Denn dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, hilft nichts, wenn die Wirklichkeit sich nichts selbst zum Gedanken drängt, so Marx (MEW 1, S. 386) und umgekehrt. Dieser Widerspruch ist nicht lösbar, weil er ein wirklicher Widerspruch ist. Man kann nur im Sinne einer radikalen Realpolitik versuchen, in ihm zu manövrieren.
Entscheidend ist dabei die Betrachtung des Bestehenden als historisch gewordener Verhältnisse. So lassen sich die Punkte begreifen, «an denen die Aufhebung der gegenwärtigen Gestalt der Produktionsverhältnisse — und so foreshadowing der Zukunft, werdende Bewegung sich andeutet» (MEW 42, S. 373). Hierzu ist aber eine Form von Theorie nötig, die die Fragestellungen der Metaphysik (Stichwort: Gegenstandskonstitution) gesellschaftstheoretisch expliziert. So werden in diesem Übergang von Philosophie in Gesellschaftskritik Zusammenhänge sichtbar, die der unmittelbaren Erfahrung nicht zugänglich sind und die Berechtigung wie Notwendigkeit theoretischer Reflexion aufzeigen. Dafür bedarf es aber Räume und Zusammenhänge, die sich von der bürgerlichen Öffentlichkeit signifikant unterscheiden.
LB: Weiter oben hast du die Analyse der proletarischen Öffentlichkeit von Negt und Kluge erwähnt. Es gibt zurzeit ein Forschungsprogramm, dass unter anderem daran kritisch anknüpft und wichtige arbeitspolitische Auseinandersetzung und Klassenmobilisierungen ins Blickfeld rücken möchte (Heiland/Seeliger/Sevignani 2024). Emanzipation liege demnach in einer nachhaltigen Dekommodifizierung der Arbeit und es stellt sich am Ende die Frage, wie das institutionelle Gefüge einer demokratischen arbeitspolitischen Öffentlichkeit aussehen könnte (Heiland/Seeliger/Sevignani 2024, S. 96).
Siehst du hieran anknüpfend eine Möglichkeit zur Herstellung von Räumen der Selbstverständigung, in der sich neue emanzipatorische Denkformen des Allgemeinen und der Identität ausbilden können und wie kann dies gelingen?
FH: Ich hoffe, zur Frage der proletarischen Öffentlichkeit bald einen Artikel veröffentlichen zu können, der für diesen Themenkreis durchaus relevant sein könnte.
Leider sind die Überlegungen von Negt und Kluge nicht unmittelbar verständlich. Vielmehr ist ein Exkurs zur Kritik der Tauschgesellschaft und dem philosophischen Erfahrungsbegriff nötig. Kurz gesagt ist das Problem mit dem Tausch die Verdinglichung und darin lebt in Marx «wahrhaft ein Stück Erbe der klassischen deutschen Philosophie» (Adorno 1986, S. 190). Für die vorhergehende Metaphysik stellte sich nämlich die Frage, wie die Welt voller formbestimmter Dinge sein kann, wir aber nicht wissen, wo diese herkommen.
Sehr verkürzt findet sich darauf in Hegels «Phänomenologie des Geistes» eine Antwort. Er betonte, dass die Erfahrung, die das Bewusstsein (!) in der Konfrontation mit diesem Zusammenhang macht, darin bestünde, dass die Dinge als Einheit von Form und Materie durch das Denken zusammengebracht würden. Ähnlich wie bei Kant, ist es so das Denken des Subjekts und nicht eine transzendente Instanz, die alles in der Wirklichkeit strukturiert. Erfahrung besteht für Hegel also darin, zurückzufragen und die schon immer konstituierte Wirklichkeit in ihrem Konstitutionsprozess durch das Denken zu reflektieren. Ähnlich wie in der Psychoanalyse fallen so in der Reflexion Selbst- und Welterkenntnis zusammen. Denn die Erfahrung, die das Denken gegenüber der Wirklichkeit macht, ist sowohl individuell wie auch verallgemeinerbar und damit gesellschaftliche Erfahrung. Für Negt und Kluge tritt in dieser Erfahrung (Negt/Kluge 1986, S. 23 FN) das erste Mal die Menschheit als handelndes Subjekt in die Wirklichkeit und antizipiert die marxsche Kategorie des Gesamtarbeiters als revolutionärem Subjekt.
Und diese Erfahrung des Ichs, zugleich individuell und gesellschaftlich zu sein, oder der Zusammenhang von Selbst- und Welterkenntnis, wird im Tauschvorgang ausser Kraft gesetzt. Dies liegt u.a. daran, dass Privatproduzent:innen mit Blick auf ihnen fremde Bedürfnisse produzieren. Das Band, das die Menschen so zusammenbringt, ist das unbefriedigter Bedürfnisse in Form eines Austauschs von Arbeitsprodukten. Denn es ist ja nicht so, dass die Gesellschaft als Verein freier Menschen die jeweiligen Bedürfnisse reflektiert, Allgemeines und Besonderes vermittelt und diese gesellschaftliche Frage auch als gesellschaftliche behandelt. Vielmehr werden diese Fragen in der Spekulation auf den Verkauf, dass die Ware also ein gesellschaftliches Bedürfnis bedient, individualisiert. So entgleitet das allgemeine Interesse und stellt sich erst hinterrücks über den Markt her, indem der Tausch anzeigt, welche Arbeit gesellschaftlich notwendig war. Damit wird schon in der Produktion, mit dem Blick auf die Absatzfähigkeit des Produktes, die Vermittlung von Bedürfnis und Aussenwelt vorstrukturiert.
So schwindet die Vermittlung von Mensch und Natur entlang der Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder aus ihrer Handlungsmacht und wird im gleichen Mass an die abstrakten Mechanismen des Marktes übertragen. D.h. die eigentlich vom «Verein freier Menschen» zu leistende Vermittlung wird diesem entzogen und tritt ihnen als Warensammlung, als Produkt des Kapitals, gegenüber. Statt die Frage des Mensch-Natur-Verhältnisses als politische und gesellschaftliche Frage zu thematisieren, kaufen wir mit unseren Schuhen die Reinigung der Ozeane von Plastikflaschen. Dabei übereignen wir einen weiteren Teil unserer gesellschaftlichen Fähigkeiten dem Kapital, so dass der:die Unternehmer:in nicht nur als Bedingung effektiver Produktion erscheint, sondern auch noch die Eigenschaft ökologischen, feministischen, etc. Handelns mit dieser Charaktermaske und der Warenform verwächst.
Hieraus zog bereits Haugs Kritik der Warenästhetik Anfang der 1970er ihre Kraft, denn in den Waren «werden den Menschen fortwährend unbefriedigte Seiten ihres Wesens aufgeschlagen [und scheinhaft befriedigt]» (Haug 2017, S. 82).
Dies hat auch eine sozialpsychologische Dimension, insofern die Herausbildung einer Ich-Identität scheitert, da die Akteure unter Aussetzung der Reflexion ihre Bedürfnisse unmittelbar befriedigen und so, Adorno zufolge, jene Typen entstehen «die weder ein Ich haben noch eigentlich unbewusst handeln, sondern reflexartig den objektiven Zug widerspiegeln» (Adorno GS 8, S. 83). Dies kritisierte bereits der junge Marx als «Sinn des Habens» (MEW 40, S. 540), der dazu führe, dass die Konstitution der gesellschaftlichen Gegenstandswelt und damit die Gesellschaft nicht am «Wahren, Schönen und Guten» orientiert ist, sondern an der Frage, welches Produkt sich tauschen lässt. Dies verhindere nicht nur die Verwirklichung der Philosophie als – zugleich zu kritisierender – Reflexionsform des Wahren, Schönen und Guten. Es verhindert auch die bewusste Vermittlung von Umwelt und Bedürfnis, Mensch und Natur.
Philosophisch wird und wurde dieser Widerspruch erkenntnistheoretisch formuliert, als Widerspruch bzw. Identität von Denken und Sein. Ihre Einheit spiegelt sich dabei in der Kategorie der Synthesis. Sie wird nun durch den Markt geleistet und nicht durch die erkennenden Subjekte, weshalb schon bei Hegel aufgrund der dargestellten Strukturzusammenhänge die bürgerliche Gesellschaft «ein Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens darstellt» (Hegel, Werke 7, S. 341). Dabei sind die ethisch-moralischen Fragen das eine, das andere, dass durch den Tausch die gesellschaftlich geteilte Arbeit verselbstständigt wird. So wird der Wert anstelle der Menschen zum «handelnden» Subjekt. Das Transzendentalsubjekt ist nun nicht mehr das kantsche «Ich denke …», sondern Gegenstandkonstitution und Synthesis vollzieht sich gesellschaftlich, so Habermas in Erkenntnis und Interesse. In Marx’ Worten: Die Warenproduktion selbst ist es, die vor aller gedachten Sinnlichkeit des Subjektes gegenstandskonstitutiv ist und durch diese Struktur auf die Rezeptionsfähigkeit der Sinne zurückwirkt und Erfahrungszusammenhänge blockiert.
Marx zieht hieraus den Schluss: Sinnlichkeit und damit ästhetisches Empfinden, die Wahrnehmung selbst ist Ergebnis gesellschaftlicher Formierungsprozesse. Das ist ganz knapp die Vorgeschichte zu Negt und Kluge und sie knüpfen hieran an, um Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit zu kritisieren. Einerseits entsteht im Tausch also ein blockierter gesellschaftlicher Erfahrungszusammenhang, in der die Gesellschaft nur in Bezug auf die Bedürfnisbefriedigung, d.h. die unmittelbare Gegenwart relevant wird. Entsprechend irrelevant werden die konstitutionstheoretischen Fragen nach dem Wieso und Warum und an ihre Stelle rückt die Unmittelbarkeit einer schon oben erwähnten sozialdemokratischen Umverteilungsideologie: Da der Lohn über die Möglichkeiten meiner Bedürfnisbefriedigung bestimmt, dreht sich die Auseinandersetzung um die Lohnhöhe, wodurch die Lohnform selbst nicht problematisiert wird. Das gleiche gilt für den Produktivkraftoptimismus, des, wie Negt und Kluge ihn nennen, «Schwerindustrie-Sozialismus» (Negt/Kluge 1986, S. 421): Die Produktivkräfte sind doch schon vorhanden, sie müssen nur anders genutzt werden.
So entsteht aus der Verdrängung des Zugrundeliegenden die Legitimation des Staates und der Öffentlichkeit, weil in ihr über die (Um)Verteilung des Reichtums und Struktur der Gesellschaft gestritten und Handlungsfähigkeit suggeriert werden kann. Interessenpolitik, wie schon Rousseau in der Unterscheidung von volonté générale und volonté de tous kritisierte, bedeutet in diesem Kontext jedoch schlicht, dass das Allgemeine das verallgemeinerte Privatinteresse ist. Thematisiert wird und veränderbar scheint nur der Austausch unter Berücksichtigung damit einhergehender Interessen. So wird verdrängt, dass der Austausch nur Ausdruck einer bestimmten Art und Weise der Produktion ist, was dazu führt, «die Geschichte in den Bereich der Distribution [zu] bannen.» (MEW 42, S. 32)
Dass der eigentliche Interessenkonflikt der zwischen allgemeinen und besonderen Interessen ist, die aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln und der Vergesellschaftung über den Markt resultieren, bleibt dabei in dem Mass unverstanden, wie der Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit als Ausdruck und Vermittlungsinstanz dieser gesellschaftlicher Widersprüche legitimiert und verewigt werden. Ein verrücktes Verhältnis: Die Handlungsfähigkeit des Staates und der Öffentlichkeit als Bewegungsformen gesellschaftlicher Widersprüche entsteht exakt aus ihrer Handlungsunfähigkeit in Bezug auf die gesellschaftlichen Grundstrukturen. Ihr Ursprung aus Widersprüchen, die sie nicht lösen können, konstituiert also ihre Legitimation, so Negt und Kluge (1986, S. 40). Die hieraus resultierenden Konsequenzen für eine Analyse neuerer Phänomene wie die des Populismus, die weit über die bestehenden Theorien hinausgehen, liegen genauso auf der Hand, wie dass eine Interessenvertretung der Subalternen innerhalb der bürgerlichen Öffentlichkeit (ausserhalb von Interessenpolitik) unmöglich ist. Aber das ist nur ein Teil dessen, was Negt und Kluge mit einer Blockierung des Erfahrungszusammenhanges meinen.
LB: Was meinen die beiden noch damit? Du hast unter anderem skizziert, dass in der bürgerlichen Öffentlichkeit nur der Austausch unter Berücksichtigung damit einhergehender Interessen thematisiert und veränderbar erscheint. Nicht ins Blickfeld gerät, dass dies Ausdruck einer bestimmten Art und Weise der Produktion ist. Es scheint also ein weiteres Problem zu sein, dass die bürgerliche Öffentlichkeit als ein Distributionszusammenhang betrachtet werden kann und ganz ähnliche Probleme beinhaltet wie der Markt bzw. die bürgerliche Gesellschaft. Kannst du das vielleicht noch genauer ausführen?
FH: Das ist tatsächlich ein zentrales Problem und fundiert ihre vernichtende Kritik der bürgerlichen Öffentlichkeit. Am Entstehen der neuen Medienverbünde (damals: Privatfernsehen etc., heute: Instagram & Co) zeigen sie, dass die aus dem Kapitalismus entstammende Tauschabstraktion die bürgerliche Öffentlichkeit insgesamt zersetzt. Verkürzt dargestellt liegt dies an folgendem Zusammenhang: Eigentlich müsste schon die bürgerliche Öffentlichkeit dysfunktional sein, weil in ihr fertige Argumente aufeinandertreffen, also das, was du als Distributionszusammenhang beschrieben hast. Auch hier tritt die Reflexion hinter das Produkt zurück und das Resultieren ist im Resultat verschwunden.
Kurzum, die bürgerliche Öffentlichkeit ist ebenso verdinglicht, wie die Produktionsweise, der sie entspringt. Durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments, die Notwendigkeit diskursiver Praxen, das Prüfen der Argumente, kann das Resultieren jedoch zurückgeholt werden in die Öffentlichkeit und die Verdinglichung aufgebrochen werden. In dem Moment jedoch, wo die Neuen Medien auftreten, und den von der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeschlossenen proletarischen Lebenszusammenhang als Rohstoff ausbeuten und gemünzt auf die Bedürfnisse und Begehren vermarkten, suspendieren sie dieses reflexive Moment.
Es ist keine Verständigung über die Gegenstände zur Aneignung derselben nötig, wie sie vielleicht in den selbstbestimmten Formen proletarischer Öffentlichkeit geleistet oder in einer bürgerlichen Salonkultur imaginiert wurde, sondern die widerspruchsvollen Erfahrungen werden in kulturindustriellen Produktionen vorstrukturiert. An die Stelle eines Erfahrungszusammenhanges tritt so das, was Adorno als Verblendungszusammenhang beschrieb.
Auch dem mit dem Begriff der Öffentlichkeit verbundenen bürgerlichen Bildungsideal droht so der Zerfall, da Vermittlung keine Leistung des Subjekts mehr benötigt, sondern gesellschaftlich vorfabriziert ist und personale Ich-Identität auf ein Sozialisationserfordernis zusammenschrumpft, zwischen verschiedenen Entwürfen selbstbewusst wählen zu können. Diese Form von Individualität führt für Negt und Kluge zur Verkehrung, dass für die Menschen ihre eigene Gesellschaftlichkeit nicht ins Bewusstsein treten kann und in der Konsequenz zu einer leblosen bürgerlichen Öffentlichkeit. An die Stelle der Bildung rückt der Zerfall der Persönlichkeit, den der Kapitalismus als Genuss ermöglicht und dabei zugleich die Konstitution von Gesellschaft und die Arbeitsbeziehungen der Erfahrung entzieht.
Für die politische Öffentlichkeit und die industriellen Beziehungen bedeutet dies, dass der Erfahrungsgehalt des proletarischen Lebenszusammenhanges, insbesondere der Familie und des Betriebs, also tendenziell nur insoweit eingeht, wie er kommodifizierbar ist, d.h. als Ware Bedürfnisse befriedigt. Die Vermittlung der Erfahrung wird so durch den Medienverbund anstelle selbstproduzierter und möglicherweise widerständiger Öffentlichkeiten geleistet. Die darin nicht aufgehenden Teile des Lebenszusammenhanges und die dortigen Erfahrungen werden dadurch «im Sinne der gesellschaftlichen Kommunikation »unverständlich«, […] endgültig privat. Die Bereiche, die die für den Produktionsprozess und den Legitimationsunterbau nicht unmittelbar notwendigen menschlichen Tätigkeiten betreffen, unterliegen so einer organisierten Verelendung» (Negt/Kluge 1986, S. 43).
So kommt es, dass die Menschen, wie Negt und Kluge betonen, ihre Erfahrung und die Verarbeitung von Widersprüchen am Gebrauchswertversprechen und «Phantasiegehalt der Warenzusammenhänge» besser zu orientieren wissen als an emanzipatorischen Praxen (ebd., S. 290 FN). Der Vorteil der Unterhaltungsindustrie und auf ihr Gebrauchswertversprechen skalierter Produkte sei, dass sie die Gefühle, Wahrnehmungen, Illusionen der Menschen so übernehmen könne, wie sie sie vorfinde, und die gegenwärtige Ästhetisierung der Lebenswelt daher fast immer als stabilisierender Faktor wirke (ebd., S. 23). Negt und Kluge betonen, dass die Gebrauchsgüter wie Kulturwarenproduktion so «in der Regel Über-Ich-Strukturen oder die Identifikation mit Rollen der Vergangenheit» (ebd.) oder der kontemporären Geschichte erzeugen, wohingegen die politische Linke zu einem umgekehrten Vorgehen gezwungen ist: Sie muss die «Phantasien [und Begehren der Menschen, F.H.] erst umorganisieren, um sie zur Selbstorganisation zu befähigen» (ebd., S. 421). Und ich glaube, dass ist so grob der Zusammenhang, der vielleicht auch die weiter oben angesprochene gefühlte Verzweiflung erklärt, wie auch die Notwendigkeit, begrifflicher Arbeit am Gegenstand, wie ich sie im Buch anhand des Konstitutionsproblems umreisse.
LB: Vielen Dank für diese anregenden Ausführungen. Du hast eine mögliche Publikation zu Negt und Kluge erwähnt. Gibt es weitere geplante Veröffentlichungen und welche Projekte beschäftigen dich zurzeit?
FH: Zwischen Kindern und Arbeit bleibt leider kaum Zeit für weitere Projekte und auch Veröffentlichungen. Viele Projekte, gerade im politischen und akademischen Raum, setzen trotz aller Kritik eine Flexibilität und meist auch Reisetätigkeit voraus, die mit Kindern einfach nicht zu leisten ist. Das gilt auch für die Teilhabe an sozialen Bewegungen, weswegen ich da auch eher nur abstrakt etwas zu sagen kann, wie du an meinen Antworten gesehen hast. Im Idealfall lassen sich Dinge punktuell verbinden, wie ich es mir bei der Sache mit Negt und Kluge erhoffe.
Grundsätzlich möchte ich an das alte Projekt der Frankfurter Schule anknüpfen und frage mich, wie Soziologie und Philosophie in Form von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik zusammengedacht werden können. Ob z.B. mit dem, was ich durchaus methodisch in dem Buch skizziere, auch geforscht werden kann, was natürlich vom Ansatz her schon problematisch ist, insofern es das Verhältnis von Gegenstand und Methode zu einer Seite aufzulösen droht. Auch wissenschaftshistorisch ist die Situation schwierig, wenn man sich anschaut, wie viele der kritischen Ansätze der 60er bis 80er Jahre in den fachwissenschaftlichen Verästelungen des arbeitsteiligen Wissenschaftsbetriebs versandeten. Das sind alles Fragen, die kollektiv diskutiert und angegangen werden müssten. Überhaupt auch, wieviel vergessen wurde. Manche Zusammenhänge im «Kapital» z.B. sind in Abständen von 20 Jahren immer wieder «neu» entdeckt worden, um dann wieder vergessen zu werden.
Ich denke, dass also eine historisch reflektierte, selbstkritische politische Bildungsarbeit sehr wichtig ist. Räume und Zusammenhänge zu schaffen, in denen eine Form von Selbstverständigung und emanzipatorischer Bildung möglich ist, die an die oben skizzierten Traditionen anknüpfen.
Dabei sind die Schwierigkeiten nicht nur dem Abstraktionsgrad und der Schwerverständlichkeit geschuldet, sondern auch der historischen Situation. Dies Verhältnis möchte ich gern besser verstehen und Zugangsbarrieren abbauen. So versuche ich z.B. einige Wochenendseminare zur Einführung in dialektisches Denken von mir weiter zu verbessern. Im Zuge dessen hatte ich auch überlegt, aus den dutzenden Schaubildern und Folien, die dabei entstanden sind, vielleicht eine Art Bildungsmaterial zu basteln.
Das gleiche gilt für eine «Einführung ins Kapital», die dringend überarbeitet werden muss, woraus sich vielleicht die Möglichkeit ergibt, eine Art «Arbeitsbuch» oder interaktive Webpräsenz zu erstellen. Aber auch nach der doch recht einsamen Zeit (zumal unter Corona) an so einer Dissertation den eigenen beschränkten Horizont aufzubrechen, mehr ins Gespräch zu kommen über diese Fragen. Wie hier z.B., in dem Interview, für dessen tiefgehenden Fragen und Antwortmöglichkeit ich dir sehr danke und hoffe, es ist einigermassen verständlich gewesen.
Franz Heilgendorff ist Autor von Kategoriale Kritik. Zur Bedeutung von Kategorie und Begriff in der dialektischen Methode bei Marx (erschienen 2023 im Berliner Karl Dietz Verlag) und arbeitet am Institut für Makrosoziologie an der TU Dresden.
Lukas Brügger ist Detailhandelsfachmann EFZ und Soziologe, arbeitet als Mitherausgeber an einem Sammelband zur Entwicklung des Schweizer Kapitalismus (Mandelbaum Verlag) und plant ein Doktorat zu ideologietheoretischen Fragestellungen.
Literatur
Adorno, Theodor W. (1972): Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: ders: Gesammelte Schriften, Band 8, Soziologische Schriften I, Frankfurt a.M.
Adorno, Theodor W. (1981): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Gesammelte Schriften, Band 3, Frankfurt a.M.
Adorno, Theodor W. (1986): Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Gesammelte Schriften, Band 6, Frankfurt a.M.
Arruzza, Cinzia/Bhattacharya, Tithi/Fraser, Nancy (2022): Feminismus für die 99%. Ein Manifest (Dritte Auflage), Matthes & Seitz, Berlin.
Bolay, Eberhard/Trieb, Bernhard (1988): Verkehrte Subjektivität. Kritik der individuellen Ich-Identität, Frankfurt a.M./New York.
Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.
Cleaver, Harry (2011): Das Kapital politisch lesen. Eine alternative Interpretation des Marxschen Hauptwerks, Wien.
Haraway, Donna (1995): Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York.
Haug, Wolfang Fritz (2017): Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: Werke [in 20 Bänden], Bd. 7, Frankfurt a.M.
Heiland, Heiner/Seeliger, Martin/Sevignani, Sebastian (2024): The proletarian public sphere revisited: Conceptual propositions on the structural transformation of publics in labour policy, in: Philosophy and Social Criticism, Vol. 50(1), S. 80–101.
Iljenkow, Ewald Wasiljewitsch (1994): Dialektik des Ideellen. Ausgewählte Aufsätze, Münster/Hamburg.
Kosík, Karel (1986): Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankfurt a.M.
Lukács, Georg (1968): Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Neuwied.
Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1986): Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.
Poulantzas, Nicos (1974): Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt a.M.
Schubert, Voker (1984): Identität, individuelle Reproduktion und Bildung. Probleme eines aneignungstheoretischen Konzepts von Vergesellschaftung als Vereinzelung, Giessen.
Soper, Kate (1995): What is Nature? Culture, Politics and the Non-Human, Oxford.
Tomonaga, Tairako (1987): Der fundamentale Charakter der Dialektik im »Kapital« von Marx. Zur »Logik der Verkehrung«, in: Siegfried Bönisch (Hrsg.): Marxistische Dialektik in Japan. Beiträge japanischer Philosophen zu aktuellen Problemen der dialektisch-materialistischen Methode, Berlin (Ost), S. 105–123.
Wittig, Monique (1992): The straight mind and other essays, Boston.
Žižek, Slavoj (2014): Weniger als Nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Frankfurt a.M.
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