Editorial

»Viele Jahrzehnte lang hat ganz Europa – genau wie Nordamerika – über seine Verhältnisse gelebt. Generationen von Gutmensch-Politikern und Sozial-Verschwendern haben die Bürger mit immer neuen Wohltaten beglückt. « Kommentare wie dieser im Magazin ›Fokus‹ (»Fakten, Fakten, Fakten«) gehören zur Begleitmusik der aktuellen Krisenpolitik, mit der die europäischen Regierungen, die EU Kommission und Institutionen wie EZB, IWF und Weltbank versuchen, die als Staatsschuldenkrise erscheinende Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen. Während überdeutlich zu sehen ist, wer die Folgen dieses als »Spar- und Austeritätspolitik« bezeichneten Krisenmanagements zu tragen hat, bleibt offen, wer eigentlich über welche Verhältnisse gelebt haben soll. Das Credo »Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt« verschleiert das politisch gewollte Sinken von Lohn- und Steuerquoten sowie die entsprechende Steigerung von Gewinnen und Vermögen.

Dabei stimmt es durchaus hoffnungsvoll, dass – scheinbar im Gegensatz dazu – seit dem Fall der Investment Bank Lehmann Brothers vor vier Jahren und den darauf folgenden Turbulenzen erstaunlich viel Bewegung in das zuvor doch recht statische Diskursfeld der Kapitalismusanalyse gekommen zu sein scheint. Hatte nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz eine neoliberal auftrumpfende Markteuphorie jahrelang die Debattenhegemonie inne, so erscheinen die Fürsprecher einer sozialen, vor allem aber regulierten Marktwirtschaft nichtmehr als die einsamen Rufer in der Wüste. Bis in die deutlich verunsicherte Zunft der Volkwirtschaftslehre hinein scheint sich dabei ein Konsens herauszubilden, dass die Zukunft des Kapitalismus nicht mehr auf entfesselten Finanzmärkten entschieden werden dürfe. »Wer erlöst uns vom Kapital? « titelte ›Die Zeit‹ bereits vor Jahren. Doch genau genommen fragt der neue Zeitgeist

»Wer erlöst uns vom Finanzkapital?«. Dementsprechend sieht die Analyse, auf die man sich derzeit zu einigen scheint, die Ursache ökonomischer Zerfallserscheinungen wie der vielbeschworen Schere zwischen Arm und Reich einzig in den sinkenden Investitionsquoten infolge der zunehmenden Abwanderung von Kapital aus der ›Realwirtschaft‹ in die Anlagesphären der Finanzmärkte. Doch ebenso wie die Metapher »Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt« verschleiert auch die Scheren-Metapher den aberwitzigen Skandal des offensichtlichen Auseinandertretens gesellschaftlicher Reichtumspotenzen, das eben weit mehr als ein Verteilungsproblem darstellt. Auseinander tritt nicht nur die Armut öffentlicher und privater Haushalte gegenüber dem privaten Reichtum, sondern auch die sinnlich-konkrete Seite gesellschaftlicher Reichtumspotenzen, die unter den Bedingungen der Konkurrenz immer schwerer in das enge Korsett kapitalistischer Verwertung gepresst werden können. Die Gesellschaft wird reicher, dynamischer und kooperativer, unter kapitalistischen Rahmenbedingungen aber auch ärmer werden, zumal die explosionsartig entstehenden Eigentumstitel kaum mehr durch reale Wertschöpfung gedeckt werden können.

Doch wie ist dieser doppelten Zumutung einer unsozialen Krisenpolitik einerseits und den irrwitzigen Sachzwängen der Kapitalverwertung andererseits entgegenzutreten? Diese Frage steht im Zentrum dieses Denknetz-Jahrbuchs. Die Hilflosigkeit linker Bewegungen und Organisationen angesichts der herrschenden Sparpolitik macht auf den ersten Blick nur wenig Mut. Auf der einen Seite ist überall in Europa bei Gewerkschaften und sozialen Bewegungen ein Rückzug auf eine nationale Politik zu beobachten, die letztlich als Standortpolitik zum Schutz der ›eigenen‹ Wirtschaft verkümmert. Auf der anderen Seite droht die Sackgasse des abstrakten Utopismus. Es muss daher kaum verwundern, dass auch in diesem Jahrbuch zum Teil Disparates versammelt ist. Das Spektrum der Beiträge aus dem Umfeld des Denknetzes sowie von GastautorInnen drückt diese Widersprüchlichkeit linker Politik aus. Sie zur Kenntnis zu nehmen, sie auszuhalten, ist Teil der mühevollen Suche nach neuen Perspektiven…

Jahrbuch-Redaktion

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Cover

AutorInnen

Hans Schäppi, Stephan Kaufmann, Ingo Stützle, Sabine Reiner, Hans Baumann, Beat Ringger, Oliver Fahrni, Tove Soiland, Pit Wuhrer, Lotta Suter, Meinhard Creydt, Friederike Habermann, Roland Herzog, Hans Schäppi, Carola Meier-Seethaler, Klaus Dräger, Bernard Friot, Gian Trepp, Daniel Lampart, Fathi Chamki, Francesca Falk, Marcel Falk, René Levy, Ruth Gurny, Denknetz Fachgruppe Sozialpolitik, Arbeit und Care-Ökonomie, Linda Stibler, Ute Klotz, Philipp Müller, Susy Greuter

ISBN

Hans Baumann, Beat Ringger, Holger Schatz, Walter Schöni und Bernhard Walpen (Hg): Jahrbuch 2012: Auf der Suche nach Perspektive; ISBN 978-3-85990-181-0; Verlag: edition 8, Postfach 3522, 8021 Zürich

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