Editorial

Richard Sennett gilt eigentlich nicht in erster Linie als Kapitalismuskritiker. Wer mochte, konnte die brillanten Essays des US-amerikanischen Soziologen auch als kulturkritische Zeitdiagnosen abtun. Andere schätzen ihn als einen Humanisten, der ein waches Auge für die Zumutungen und Leiden der zunehmend ›flexibisierten‹ Menschen entwickelt hat. Zumutungen, die angesichts der Versprechen der ›Moderne‹ eigentlich gar nicht sein dürften. In seinen aktuellen Arbeiten versucht Sennett nun der Paradoxie nachzuspüren, wonach »die Technologiekomponenten, die uns zur Verfügung stehen, immer besser und vielfältiger « werden, hingegen »der kooperative Gebrauch dieses technischen und materiellen Reichtums (…) rudimentär« bleibt.

Sennetts empirische Untersuchungen der Kommunikation in modernen Unternehmen der Finanz- und IT-Branche rücken anschaulich die sozialen Bedingungen dieses Paradoxes in den Blick: Hierarchien, soziale Ungleichheit und eine vermeintlich zweckrationale Kultur der Vereinfachung führten dazu, dass die Betroffenen weit unter ihren Möglichkeiten blieben. Sennett schliesst seinen Essay* vorsichtig: »Heute könnte uns ein stärker gesellschaftlich orientierter Blick auf unser aller Potenziale streitlustiger machen. Wir kämen am Ende noch auf die Idee, alte Formeln von Wissen und Macht in Frage zu stellen, die der Kapitalismus in seinem Streben nach Ungleichheit willkürlich konstruiert hat.«

Im vergangenen Jahr sprachen wir an gleicher Stelle von »blockierten Potenzialen«, die innerhalb einer »überforderten Wirtschaft« nicht zur Entfaltung kommen. Für das Denknetz-Jahrbuch 2010 wählten wir folgerichtig den Titel ›Zu gut für den Kapitalismus‹. Damit war weitaus mehr gemeint als die Schere zwischen einer eklatanten (öffentlichen)Armut und einem aberwitzigen ›privaten Reichtum‹, die infolge der neoliberalen Sachzwang-Politik immer weiter aufgeht und die – wie im nachfolgenden Essay ›Neoliberalismus 2.0‹ dargestellt – als ›Schuldenkrise‹ eine neue Welle von Angriffen auf den Lebensstandard breiter Bevölkerungsteile rechtfertigen soll. Gewiss: Diese Schere kann und muss wieder geschlossen werden, und die Denknetz- Reformagenda in diesem Band weist Wege dorthin. Doch dass »das Geld am falschen Ort ist«, ist erst die halbe Wahrheit. Denn solange Geld die Form von Kapital annehmen muss und damit den Zwängen der Konkurrenz und Verwertung unterliegt, ist eben dieses Geld der Grund, warum der ganze vorhandene und mögliche Reichtum nicht den Menschen zugutekommt.

Der Schwerpunkt des Denknetz-Jahrbuches 2011 leuchtet nun einige Felder aus, in denen die Prinzipien der Konkurrenz und des Eigentums kontraproduktive Wirkungen entfalten, und zwar nicht nur aus sozialer und ökologischer, sondern gerade auch aus ökonomischer Sicht. Es sind Bereiche, in denen – in marxistischer Terminologie gesprochen – die Produktionsverhältnisse zur Fessel der Produktivkräfte geworden sind. Diese neuen Produktivkräfte respektive die damit verbundenen Menschen drängen darauf, über die bornierten Formen der Konkurrenz und des Eigentums hinauszukommen. Das gilt generell für zahlreiche wissensbasierte Prozesse in offenen Kooperationsbeziehungen, vor allem für die Entwicklung und Produktion digitaler Güter und Leistungen. Hier stösst die kapitalistische Rationalität der Warenform ganz offensichtlich an ihre Grenzen und kann nur noch defensiv –mit Patentschutz und Copyright – verteidigt werden. Bisweilen ist auch eine regelrechte Flucht nach vorn zu beobachten, wenn etwa Unternehmen bei der Produktinnovation nicht mehr auf Geheimhaltung, sondern auf »open innovation « oder »crowdsourcing« setzen – angesichts der ›beschränkten‹ Unternehmenszwecke aber keine wirkliche Ingangsetzung der kooperativen Potenziale bewirken können. Sennett drückt es so aus: »Weil Ungleichheit das Verhältnis von Macht und Wissen auf den Kopf stellt, hält sie Menschen davon ab, ihre Fähigkeiten zur komplexen Interaktion zu nutzen.«

Es wäre nun allerdings naiv, angesichts derartiger Grenzen davon auszugehen, die kapitalistische Produktionsweise befände sich auf dem Rückzug. Nach wie vor erleben wir eine ›offensive‹ Einhegung, Erschliessung und Privatisierung von Bereichen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion, die aus unterschiedlichen Gründen bislang öffentlich und nicht profitorientiert organisiert waren. In der Bildung, dem Gesundheitswesen, der Pflege und Fürsorge sowie der öffentlichen Infrastruktur zeigt sich jedoch, dass diese ›Einhegung‹ stets nur die profitablen Bereiche betrifft, während die nicht rationalisierungs- und renditeträchtigen Bereiche der unterfinanzierten öffentlichen Hand oder einfach der privaten oder bürgerschaftlichen Eigeninitiative überantwortet bleiben. Auch hier, im Bereich der personenbezogenen Care-Arbeit, reiben sich zudem die ›Produktivkräfte‹ und der Zwang zur Kapitalverwertung ganz erheblich aneinander.

In diesen Spannungsfeldern bewegt sich die vielfältige soziale Praxis einer Wieder-Aneignung gesellschaftlicher Ressourcen, wie sie überall auf der Welt beobachtet werden kann. Es sind Projekte, die den Prinzipien der Selbstorganisation und der Wirtschaftsdemokratie verpflichtet sind und deren Selbstreflexionen über die Potenziale, Widersprüche und Grenzen ihrer Arbeitsweise für eine echte Perspektive jenseits der Warenform fruchtbar sein könnten. Ein solcher Prozess des Ausprobierens und Reflektierens von Formen produktiver, nicht-marktförmiger Sozial-, Produktions- und Austauschbeziehungen kann nicht allein in Nischen entwickelt werden. Sollen sich daraus Perspektiven für eine generelle gesellschaftliche Transformation entwickeln, dann ist eine Vermittlung und Einbettung in politische Strategien erforderlich, die auf eine Veränderung der Kräfteverhältnisse ausgerichtet sind. Ein interessantes Bespiel dafür ist der Aufschwung, den die Juso in den letzten drei Jahren genommen haben. Im Text ›Ändern, was dich stört!‹ ziehen die Mitglieder der damaligen Juso-Geschäftsleitung, die den Stab im März 2011 an eine neue Generation übergeben hat, eine Bilanz über ihre Tätigkeit. Ihre Erfahrungen und Reflexionen sind geeignet, die Diskussion über die Frage anzuregen, wo linke Politik den Hebel anzusetzen hat

Jahrbuch-Redaktion

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AutorInnen

Beat Ringger, Denknetz-Kerngruppe, Felix Stalder, Sabine Nuss, Holger Schatz, Mascha Madörin, Katharina Götsch, Bettina Dyttrich, Ueli Mäder, Hans Baumann, Vania Alleva, Mauro Moretto, Bea Schwager, Ruth Gurny, Bettina Wyer, Patrick Angele, Sebastian Dissler, Marco Kistler, Tanja Walliser, Cédric Wermuth, Klaus Busch, Dierk Hirschel, Vasco Pedrina

ISBN

Hans Baumann, Beat Ringger, Holger Schatz, Walter Schöni und Bernhard Walpen (Hg): Jahrbuch 2011: Gesellschaftliche Produktivität jenseits der Warenform; ISBN 978-3-85990-170-4; Verlag: edition 8, Postfach 3522, 8021 Zürich

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