Editorial

Als sich im Herbst 2008 die Krise der Finanzmärkte endgültig als schwere Weltwirtschaftskrise entpuppte, blieb der trotzig-freche Titel ›La crise n’existe pas‹ der rechtskonservativen Schweizer Wochenzeitschrift Weltwoche ein Solitär. Die Schockmeldungen über Auftragseinbrüche und eine sich abzeichnende längere Rezession jagten sich. Vieles kam nun auf den Tisch, was lange Zeit undenkbar schien. Die Orientierung wirtschaftlichen Handelns auf maximale, kurzfristige Renditen, jahrelang als ultima ratio des individuellen und kollektiven Handelns gepredigt, schien plötzlich in Verruf zu geraten. Akteure, die auf deregulierten Märkten mit undurchschaubaren Finanzprodukten spekulieren und selbst bei Misserfolg noch fürstlich entschädigt werden, figurieren nun als ›gierige Abzocker‹ und dienen als Projektionsfläche eines weit verbreiteten Unbehagens. Innerhalb der Linken keimte schnell die Hoffnung auf, mit dem vermeintlichen Ende der neoliberalen Hegemonie könnte eine Zeit des grossen Nachdenkens auch über grundlegendere Aspekte der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsweise einsetzen.

Ein Jahr später herrscht Ernüchterung. Die ›Rettungspakete‹ für angeschlagene Finanzhäuser waren den Regierungen viele Milliarden Dollar wert. Die folgenden ›Konjunkturpakete‹ vermochten bereits nicht mehr mitzuhalten. Regulatorische Massnahmen für eine Stabilisierung des Finanzsystems sind bislang überaus dürftig ausgefallen, so dass die WOZ am 6.8.2009 zu Recht bilanziert: »Rund zwei Dutzend Anfragen und Vorstösse zum Finanzmarkt wurden seit letztem Herbst im Parlament eingereicht, knapp hundert Eingaben zur UBS – viel Aufwand, wenig Ertrag: Trennbankensystem? Kein Thema. Ein Verbot von Derivaten? Auf keinen Fall. Einführung einer Zulassungsstelle für hochriskante Finanzprodukte? Niemals. Restrukturierung der behördlichen Finanzmarkt- Aufsicht (Finma)? Wieso auch?«

Obwohl die negativen Folgen der Krise für die öffentlichen Haushalte und die Entwicklung der Arbeitsmärkte noch nicht richtig fassbar sind, machen bereits wieder Nachrichten über das Anziehen der Konjunktur und die Rückkehr der Gewinne im Investment-Banking die Runde. Die einzige Sorge vieler Beobachter scheint mittlerweile nur noch zu sein, ob das Image der ›Marktwirtschaft‹ unter der Krise nicht doch noch Schaden nehmen könnte. In der NZZ vom 5. August 2009 pflichtet Detmar Doering dem Autor eines rezensierten Buches bei: »Die weltweite Finanzkrise, die sich zurzeit zur handfesten Wirtschaftskrise mausert, erklärt er durchaus korrekt als eine Folge zentralbanklicher Geldpolitik und einer verfehlten Wohneigentumsförderung – und nicht als Versagen einer angeblich schrankenlosen Marktwirtschaft. (…) Dennoch scheint dies insgesamt zu kurz zu greifen. Die Krise wird bald eine allgemeine Legitimationskrise der Marktwirtschaft werden und nicht nur die einer ihrer Aspekte. Wir stehen vor einer konzeptionellen und politischen Aufgabe, die wohl der der Väter der Sozialen Marktwirtschaft an Grösse und Schwierigkeit ähnelt.« In dieser Lesart besteht die notwendige Anstrengung also darin, die Krise und ihre Folgen für die Menschen nicht als eine Krise des Kapitalismus erscheinen zu lassen. Damit bräuchte man auch nicht mehr von den Verwerfungen zu sprechen, die sich schon im Wirtschaftswachstum vor der Krise nur schwerlich verdrängen liessen, etwa die wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen, die intensivere Ausbeutung der Arbeitskräfte, die zunehmende Belastung der Ökosysteme und der sich beschleunigende Klimawandel.

Einer solchen Verdrängungsstrategie käme auch das Wiederaufleben standort-chauvinistischen Gebarens zupass. Gefragt, warum Schweizer Regierungsbehörden der UBS im Streit mit den USA immer wieder unter die Arme griffen, antwortete Aussenministerin Calmy-Rey: »Für uns geht es nicht in erster Linie um die UBS. Es geht um die Souveränität der Schweiz: Wir wollen, dass unsere Gesetze respektiert werden. Zudem geht es um unseren Finanzplatz und um Arbeitsplätze. Es stehen also wichtige Schweizer Interessen auf dem Spiel. Eine unheimliche Allianz der Mächtigen hat jene Kleinstaaten, die im Bankenwesen über eine hohe Anziehungskraft verfügen, in den Würgegriff genommen. Das Flagschiff UBS befindet sich im Fadenkreuz der Vereinigen Staaten. Es steht viel auf dem Spiel.« (NZZ, 19. Juli 2009). Gegen solcherlei ›Krisenbewältigung‹ stellen die AutorInnen des fünften Denknetz-Jahrbuches Reflexionen, Analysen und Alternativen zur Diskussion. Ein grosser Teil der Texte gibt die vielfältigen Debatten wieder, die im Umfeld des Denknetzes stattfinden. Themen sind die mittelund langfristigen Entwicklungen in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik. Das Denknetz organisiert Tagungen und entwickelt Reformvorschläge, etwa zur Allgemeinen Erwerbsversicherung, zur Altersvorsorge oder zur Steuerpolitik. Es setzt sich mit politischen Projekten und Trends in der EU und anderen Weltregionen auseinander, betreibt eine Website und publiziert regelmässig Infobriefe wie auch ein Jahrbuch. Getragen wird es von mittlerweile über 550 Mitgliedern aus Wissenschaft und Forschung, NGOs, Gewerkschaften, politischen Bewegungen, Parteien und linken Zeitschriften. Mehr Informationen gibt es unter www.denknetz.ch

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AutorInnen

Marie-Josée Kuhn, Jörg Huffschmid, Michael Husson, Beat Ringger, Denknetz-Fachgruppe Politische Ökonomie, Olivier Longchamp, Peter Streckeisen, Annette Hug, Lotta Sutter, Roland Herzog, Hans Schäppi, Annemarie Sancar, Ruth Gurny, Hans Baumann, André mach, Karin Pape, Susy Greuter, Sarah Schilliger, Vania Alleva, Mauro Moretti, Michel Berclaz, Giuliano Bonoli, Christine Flitner, Mattia Mandaglio, Philipp Müller, Bernhard Walpen, Holger Schatz

ISBN

Hans Baumann, Beat Ringger, Holger Schatz, Walter Schöni und Bernhard Walpen (Hg): Jahrbuch 2009: Krise. Lokal, global, fundamental; ISBN 978-3-85990-135-3; Verlag: edition 8, Postfach 3522, 8021 Zürich

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