Editorial

Eine andere Welt. Ist sie nötig? »Mit Verlaub, nein«, lautet in der Regel der Einwand, »die reale Welt ist die beste aller Welten, nur in ihr sind Freiheit und Wohlstand möglich.« Das Lob des Bestehenden ist eine Konstante gesellschaftlicher Herrschaft, und doch lohnt die Analyse ihrer Mutationen. So versprachen die Verfechter des Kapitalismus lange Zeit, dieser müsse sich nur richtig entfalten, bevor seine Segnungen alle erreichen könnten. Allen werde es letztlich besser gehen, auch wenn vorübergehende Rückschläge zu erdulden wären.

Gegen diesen Optimismus nimmt sich der heutige Durchhaltediskurs nüchtern und illusionslos aus. Wer etwa behauptet, Lohnsteigerungen oder Mindestlöhne für die einen richteten sich gegen die Chancen der anderen, überhaupt eine Stelle zu finden, der hat sich längst von der Vorstellung verabschiedet, durch das Marktgeschehen könnten alle gewinnen. Weitermachen also, damit es zumindest einigen nicht noch schlechter geht. Derart dünn ist die Lobrede auf den Markt geworden, und sie vermag den Wunsch nach einer anderen Welt nur noch defensiv abzuwehren.

In dieses Bild passt auch jene seltsame Bedrücktheit, die selbst dort anzutreffen ist, wo die materiellen Versprechen des Kapitalismus verwirklicht, wo Jobs und Auskommen gewährleistet sind. Abgeschlagenheit, Angstzustände, Depressionen, Selbstunterwerfung unter eine lebensfeindliche Zweckrationalität unddas diffuse Gefühl existenzieller Leere sind der Preis, mit dem dieses Auskommen stets aufs Neue erkauft werden muss. Doch leider mündet diese Bedrücktheit gegenwärtig selten in den Wunsch nach Veränderung, dafür um so mehr in Aggression gegen sich selbst und andere.

Aber ist eine andere Welt denn überhaupt möglich? Das ist eine der Fragen, denen sich die AutorInnen des vierten Denknetz-Jahrbuches in ihren Analysen stellen. Sie tun dies in der Auseinandersetzung mit dem venezuelanischen Prozess, der in mancherlei Hinsicht die Möglichkeit einer anderen Welt aufscheinen lässt. Sie tun es in konkreten Politikfeldern und mit Vorschlägen, die eine Trendwende bewirken wollen. Dazu gehört etwa das Modell einer Allgemeinen Erwerbsversicherung (AEV), das die – von der bürgerlichen Rechten betriebene – Erosion der Einkommenssicherungssysteme in der Schweiz ins Gegenteil verkehren will. Die AEV stellt die Erwerbssicherung auf eine komplett neue einheitliche Basis, rückt die Solidarität ins Zentrum, integriert einen bezahlten Elternurlaub und schiebt dem Zwang, inakzeptable Arbeit annehmen zu müssen, einen wirksamen Riegel vor. Wir dokumentieren ebenfalls eine Bilanz und die Neulancierung der gewerkschaftlichen Mindestlohnkampagne. Diese Kampagne ist ein (leider zurzeit rares) Beispiel dafür, dass sich ein negativer Trend mit hartnäckigem Einsatz wenden lässt. Das Engagement in solchen sozial- bzw. vertragspolitischen Kontexten hat wiederum nur dann einen Sinn, wenn es sich mit gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Alltag, in der Arbeitswelt, etwa im Rahmen von Streiks, verbinden lässt.

In jedem Streik steckt der Wille, der ›realen Welt‹ zu widerstehen, der Kern einer anderen Welt. Tatsächlich gelingt es nur dann, umfassende gesellschaftliche Alternativen zu realisieren, wenn dieser ›Streikwille‹ sich verallgemeinert, wenn Alltagsbeziehungen grundlegend verändert werden. Die aktive und kollektive Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch QuartierbewohnerInnen, Belegschaften, genossenschaftlich organisierte Landwirte, Studierende etc. muss zu einer prägenden Konstante und zu einem andauernden gesellschaftlichen Lernprozess werden. Gerade in dieser Hinsicht sind die neuen Erfahrungen in Lateinamerika mit Formen der »partizipativen und protagonistischen Demokratie« von besonderem Interesse.

Vor 40 Jahren kam es zu einem Brückenschlag. Die Revolte einer Jugend, die mehr vom Leben einforderte als Prokura und Eigenheim, verband sich mit den Befreiungskämpfen gegen die us-amerikanischen Bomben in Vietnam und die russischen Panzer in Prag. Die Massenstreiks der ArbeiterInnen in Frankreich und Italien verbanden sich mit der Hoffnung auf eine gesellschaftliche Alternative. Vielleicht – hoffentlich – leben wir in einer Zeit, in der sich die Ingredienzien einer erneuten globalen Auflehnung gegen das kapitalistische Realitätsprinzip zusammenfinden. Der Kapitalismus entzaubert sich selbst – für die andere Welt sind wir zuständig. Und dafür, dass die Brücken – anders als 1968 – passierbar werden. Das kann nur mit einem wachen, kritischen Bewusstsein gelingen – auch für die eigenen Schwächen und Fehler.

Download

Sie können das „Jahrbuch 2008: Eine andere Welt. Nach der Entzauberung des Kapitalismus“ kostenlos herunterladen. Selbstverständlich ist das Buch auch über den Handel zu beziehen. Über eine freiwillige Spende für den E-Download freuen wir uns – oder noch besser: Werden Sie Mitglied des Denknetzes. Sie ermöglichen damit unsere Arbeit.

Download

Cover

AutorInnen

Stefan Howald, AutorInnengruppe, Dario Azzelini, Walter Suter, Barbara Rimml, Roman Berger, Yves Steiner, Gian Trepp, Denknetz Fachgruppe Politische Ökonomie, Heidi Stutz, Denknetz Fachgruppe Gleichheitsmonitor, Sarah Neukomm, Hans Baumann, André Mach, Andreas Rieger, Pascal Pfister, Daniel Oesch, Véronique Polito, Thorsten Schulten, Joachim Merz, Ruth Gurny, Beat Ringger, Véréna Keller, Jean-Pierre Tabin, Arnaud Frauenfelder, Carola Togni, Uwe Koch, François Denord, Urs Mari

ISBN

Hans Baumann, Beat Ringger, Holger Schatz, Walter Schöni und Bernhard Walpen (Hg): Jahrbuch 2008: Eine andere Welt. Nach der Entzauberung des Kapitalismus.; ISBN 978-3-85990-135-3; Verlag: edition 8, Postfach 3522, 8021 Zürich

Medientext

Laden Sie sich hier die Medienmitteilung zum Jahrbuch herunter:

Download

Mitglied werden

Das Denknetz ist der linke, sozialkritische Thinktank der Schweiz mit über 1400 Mitgliedern. Das Denknetz ist den Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Solidarität verpflichtet. Das Denknetz konstatiert zunehmende soziale Ungleichheiten und eine Tendenz zur Entsolidarisierung in der Gesellschaft. Es will die Mechanismen dieser Dynamik besser verstehen und Alternativen erkunden und diskutieren.

Werden Sie hier Mitglied des Denknetzes

Mitglieder ermöglichen mit ihrem Beitrag die Arbeit des Denknetz. Sie erhalten die Jahr- und Sachbücher sowie die Zeitschrift „Das Denknetz“ kostenlos per Post zugestellt und nehmen zu vergünstigten Preisen an Tagungen und Seminaren teil.

Werden Sie hier Mitglied des Denknetzes

Die Mitgliedschaft kostet Fr. 100.- pro Kalenderjahr. Wer ein kleines oder gar kein Einkommen hat entrichtet einen reduzierten Beitrag von Fr. 40.- pro Kalenderjahr.

Werden Sie hier Mitglied des Denknetzes

Mitglieder des Denknetzes können alle natürlichen Personen werden, welche die Statuten akzeptieren und insbesondere mit folgender Aussage aus der Zweckbestimmung einverstanden sind:

«Das Denknetz ist den Grundwerten der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität verpflichtet. Das Denknetz konstatiert zunehmende soziale Ungleichheiten und eine Tendenz zur Entsolidarisierung in der Gesellschaft. Es will die Mechanismen dieser Dynamik besser verstehen und Alternativen erkunden und diskutieren.»

Werden Sie hier Mitglied des Denknetzes

Video

Bibliothek

Die Denknetz Bibliothek bietet über 500 Texte zu den Themen Politische Ökonomie, Politik und Gesellschaft, Umweltschutz und Wachstumskritik, (Post-)Migration, Race-Class-Gender, Demokratie und Staat, Care und Soziale Sicherheit, Bildung, Medien, Denken sowie Geschichte und Emanzipation. Zudem sind alle Jahrbücher, Sachbücher, Zeitschriften, Audiodateien und Videos in der Rubrik Publikationen verfügbar.

Schauen Sie hier in die Denknetz-Bibliothek herein