Corona: Impfen und Schützen sind Pflicht

Die Durchbrechung des Big-Pharma Monopols ist es auch

Impfen und Schützen sind Pflicht. Wir alle müssen Verantwortung für andere und für die gesamte Gesellschaft übernehmen und nicht nur für uns selbst. Freiheiten zu erhalten ist nur möglich mit einer Stärkung der Solidarität und mit klaren Regeln. Ebenso bedeutsam ist es, das faktische Monopol von Big Pharma bei der Etablierung neuer Impf- und Heilstoffe zu durchbrechen. Das geht, wenn die öffentliche Hand (Universitäten, Institute, Staaten, die WHO) das Diktat übernehmen und eine öffentliche Versorgung mit Impf- und Heilstoffen aufbauen – weltweit. Ich danke Ruth Gurny und Melinda Nadj Abondji für ausführliche Rückmeldungen und Christian Althaus für kritische Anmerkungen zu den medizinisch-epidemiologischen Erläuterungen im Anhang.
Corona wird uns noch lange beschäftigen. Denn eine nachhaltige Eindämmung von COVID19 gelingt nur auf Basis globaler Kooperation. Nur so kann vermieden werden, dass immer wieder neue Corona-Herde entstehen, deren Auswirkungen nur schwer zu begrenzen sind. Doch es fehlt an einer kohärenten weltweiten Strategie, es fehlen global ausreichend handlungsfähige Institutionen, und es fehlt an globaler Solidarität (Pierru/Stambach/Vernaudon, 2021). Gleichzeitig mutieren die Erreger. Die gegenwärtig dominierende Delta-Variante ist erheblich ansteckender als ihre Vorläufer, was alle Länder mit tiefen Impfquoten und mangelhaft wirkenden Impfstoffen in neue Bedrängnis bringt. Und leider besteht das Risiko, dass neue Varianten der durch Impfung oder natürliche Infektion aufgebauten Immunität teilweise entkommen können.

Ein Epochenbruch und eine ethische Wende

Augen zu und durch wird also kaum funktionieren. Wir müssen uns den aufgeworfenen, oft unbequemen Fragen stellen. Dazu kommt, dass es bei diesen Fragen nicht nur um Corona und um die Gesundheitsversorgung geht. Wir befinden uns in einem eigentlichen Epochenbruch. Wir werden für Jahrzehnte mit Krisen konfrontiert, aus denen es kein Zurück zum Zustand vor der Krise mehr gibt. Eine jeweils neue Normalität wird nicht mehr so sein wie die vorangegangene Normalität – wenn es denn überhaupt wieder längere Perioden von Normalität geben wird. Denn ähnlich wie einzelne Viren-Mutationen kombinieren sich in den nächsten Jahren Klimaerhitzung, Wirtschaftskrisen, Pandemien, Einbrüche in der Nahrungs- und Wasserversorgung, politische Krisen, soziale Verwerfungen und Gewalt zu Problemlagen, die uns fundamental herausfordern. Das trifft alle: Jede Einzelne, jeden Einzelnen, die gesellschaftlichen Institutionen und die globale Staatengemeinschaft.
Alles wird auf die Probe gestellt. Dies betrifft zuallererst die ethischen Werte, die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens (Nadj Abonji, 2021). Wir haben nur dann eine Chance, uns aus den drohenden Teufelskreisen von Krisen, Zerstörung und Kriegen zu befreien, wenn die Verantwortung für das gesellschaftliche Ganze die ethisch bestimmende Maxime ist. Gelingt dies nicht, dann wird die Welt zunehmend ein Ort des Kampfes aller gegen alle. Wir müssen also klären, WIE wir zusammenleben wollen. Vierzig Jahre neoliberaler Dominanz erweisen sich dabei als schwere Hypothek. Vierzig Jahre, in denen Wirtschaftsliberalismus, Me first, Konsumfreiheit und angebliche ‘Eigenverantwortung’ aufs Podest gehoben worden sind. Vierzig Jahre, in denen Solidarität und Gemeinsinn als dümmliches Gutmenschentum verunglimpft und soziale Verantwortung zum Gegenpol von Freiheit gestempelt worden ist. Gerade aber zeigt sich in aller Schärfe: Freiheit und Verantwortung – für sich selbst und für andere – sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille. So können elementare Freiheiten (wie zum Beispiel die Freiheit sich zu treffen, zu demonstrieren, sich zu umarmen, zu reisen) nur dann hinreichend gewahrt werden, wenn verantwortungsvolle Anstrengungen zur Bewältigung der Coronakrise zum Tragen kommen.
In den Debatten über den Umgang mit der Corona-Seuche werden also mehr als «nur» eine zeitlich und thematisch beschränkte Fragen verhandelt. Gerade geht es vielmehr um eine Ethik für die nächsten Jahrzehnte.

Impfen und Schützen sind Pflicht

Gegenwärtig erhalten die «Corona-Rebell*innen», die radikalen Impfgegner*innen und Gruppen wie die «Freunde der Verfassung» viel mediale Aufmerksamkeit. Es ist ihnen gelungen, zum Blitzableiter für den vielfältigen Unmut gegen Fremdbestimmung und Obrigkeitsstaat zu bündeln und solchen Unmut auch zu schüren. Dabei wird suggeriert, es handle sich und die normale Reaktion einer freiheitsliebenden Bevölkerung gegen neue Gesslerhüte. In Wirklichkeit steht dahinter aber auch sehr viel Mache. So berichtet der Politforscher Michael Hermann, dass sich die SVP-Basis in der ersten SRG-Umfrage vom März 2020 «am ehesten für weitere Beschränkungen der Bewegungsfreiheit» ausgesprochen habe (Hermann, 2021). Mittlerweile profiliert sich die SVP jedoch als Fundamentalopposition gegen Schutzmassnahmen. Das hat Wirkung. Aufhorchen lassen müssen etwa die 40% Neinstimmen in der Abstimmung zum ersten Teil des Covid19-Gesetzes vom Juni 2021. Im November 2021 kommt es nun zu einer zweiten Abstimmung über die Ergänzungen zu diesem Gesetz.1 Das zwingt zur Klärung, zum Beispiel auch im Hinblick auf die Impffrage (selbst wenn die Regelung des Impfens nicht direkter Gegenstand der Covid19-Gesetzesbestimmungen ist – siehe Fussnote).
Bei diesen Klärungen sollte man sich nun allerdings nicht von einer blinden Wissenschaftsgläubigkeit leiten lassen. Generelle Forderungen wie «Die Wissenschaft muss in der Politik mehr Einfluss haben» oder Gleichsetzungen von Wissenschaft und Wahrheit sind fehl am Platz. Jahrzehntelang hat die neoliberal orientierte Mainstream-Ökonomie im Namen der Wissenschaftlichkeit alleinige Gültigkeit beansprucht und die Rolle einer gesellschaftlichen Leitwissenschaft eingefordert. Das sollte uns eine Lehre sein. Und denken wir an die vielen «wissenschaftlichen» Studien, von denen sich nachträglich herausstellt, dass sie manipuliert worden sind – gesponsert etwa von der Erdöllobby oder der Pharmaindustrie. Allerdings bringt uns auch das Gegenteil nicht weiter, also eine prinzipielle Abwehr gegenüber Wissenschaft und Behörden. Nötig ist die kritische Sichtung der verfügbaren Informationen. Quellen müssen überprüft und Aussagen auf ihre Plausibilität hinterfragt werden. Im Anhang gehe ich dazu exemplarisch auf einige Argumente im Zusammenhang mit Covid19 ein.
Im Fall der Wirkungen der Impfungen sind Plausibilität und Evidenz nun allerdings überwältigend. So waren mindestens 90% aller Covid19-Patient*innen, die im Spätsommer 2021 in schweizer Spitälern behandelt wurden nicht geimpft, während geimpfte Personen weitaus stärker (wenn auch nicht zu 100%) geschützt blieben. Und es kann ausgeschlossen werden, dass diese Angaben manipuliert sind (für eine sorgfältige Sichtung dieser Fragen siehe Thelitz/Schöchli, 2021).
Dank der Impfung kann man sich und kann man vor allem auch andere wirksam schützen. Und deshalb ist auch das Freiheits-Argument schwach – sehr schwach. Nehmen wir das Beispiel von AIDS: Wer von sich weiss, dass er an HIV erkrankt ist und in Kauf nimmt, andere Menschen ohne deren Wissen anzustecken, macht sich strafbar. Genau dasselbe im Strassenverkehr oder im Strafrecht: Wer mutwillig in Kauf nimmt, andere zu verletzen oder gar zu töten, wird zur Rechenschaft gezogen. Die entsprechenden Regeln sind verbindlich und werden auch kaum bestritten: Niemand kommt auf die Idee, das Nichtbeachten des Rechtsvortritts im Strassenverkehr für sich als Freiheitsrecht in Anspruch zu nehmen. Übertragen auf Corona heisst das: Weil Personen die Corona-Erkrankung weitertragen können, ohne selbst Symptome einer Erkrankung zu entwickeln ist es unerlässlich, dass diese Menschen alles Zumutbare unternehmen, um andere Personen vor einer möglichen Ansteckung zu schützen. Impfen ist dabei die deutlich beste Massnahme. Das ist mehr als zumutbar: Die Gefährdung durch allfällige Nebenwirkungen der Impfung sind für die allermeisten Leute um Dimensionen geringer als die Gefährdung durch eine Erkrankung. Impfen ist deshalb aus ethischer Sicht unerlässlich.
Zudem ist es von enormer Bedeutung, dass die Gesundheitsversorgung und insbesondere die Spitäler nicht überlastet werden – schon gar nicht über viele Monate hinweg. Chronisch überfüllte Intensivstationen führen dazu, dass Operationen verschoben werden, was für die von solchen Verschiebungen Betroffenen (z.B. für an Krebs Erkrankte) fatale Folgen haben kann. Und wenn das Gesundheitspersonal über lange Perioden überlastet ist, dann brennen viele Fachpersonen aus und verlassen ihren Beruf – was wiederum die Gesundheitsversorgung beeinträchtigt.
Mit Zertifikaten wird der Impfstatus, eine durchgemachte Erkrankung oder ein Testergebnis ausgewiesen. Der Datenschutz ist dabei gewährleistet. Eine Zertifikatspflicht ist das beste verfügbare Instrument, um möglichst viele Freiheiten bei möglichst geringer Gefährdung zu ermöglichen. Dank dem Zertifikat können Konzert-, Kino-, Restaurantbesuche, Reisen ins Ausland etc. stattfinden, obwohl Covid19 weiterhin zirkuliert (wobei oft weitere Schutzmassnahmen angebracht sind, weil Impfen und vor allem Testen keine 100%ige Sicherheit gewährleisten). Das Argument, eine Zertifikatspflicht sei diskriminierend, ja gar der Schritt in eine Zweiklassengesellschaft, stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Wenn schon, dann führt die fehlende Bereitschaft für Schutzmassnahmen dazu, dass jene Personen als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, die sich nicht impfen lassen können und auf die Solidarität der andern angewiesen sind. Oder jene, die beruflich stark exponiert sind wie das Gesundheitspersonal oder das Verkaufspersonal in Geschäften. Wer die Impfung verweigert und dennoch an Orten mit erhöhter Ansteckungsgefahr verkehren will muss mindestens bereit sein, sich testen zu lassen. Ansonsten nimmt sie oder er mutwillig in Kauf, andere Leute zu infizieren, die Gesundheit anderer Menschen stark, ja auf möglicherweise tödliche Art zu gefährden und die Eindämmung einer Pandemie zu unterlaufen. Niemand kann ein Recht dafür in Anspruch nehmen. Mit Diskriminierung hat dies nichts zu tun.

Toxic Pharma

Im Zusammenhang mit den Impfungen und Heilmitteln stellt sich nun aber auch die Frage nach den Interessen der Pharmakonzerne. Big Pharma ist in den letzten Jahrzehnten immer dysfunktionaler geworden (Denknetz-Fachgruppe Big Pharma, 2016). Die Geschäftsmodelle der weltweit dominierenden zwei Dutzend Pharmakonzerne sind darauf ausgerichtet, mit sogenannten Blockbustern hohe und höchste Profitraten zu erzielen – und dies weitgehend unabhängig davon, wieviel realer Nutzen für die Patient*innen dabei entsteht. Zum Beispiel werden immer wieder neue Medikamente gepusht und teuer vermarktet, die gegenüber herkömmlichen Medikamenten keinen erkennbaren Zusatznutzen aufweisen. Der Hintergrund von solchen Geschäftspraktiken: Sharholder und Investor*innen erwarten von Big Pharma jährliche Profitraten von 20% und mehr. Das übt enormen Druck aus, Profite auch mit fragwürdigen, ja teilweise kriminellen Methoden zu erzielen. Dieser Druck war im Übrigen auch der Grund dafür, dass sich die Konzerne in den zwanzig Jahren vor Corona praktisch vollständig aus der Entwickung und Produktion von Impfstoffen zurückgezogen hatten, weil dieses Geschäft zu wenig profitabel war.
Mit Covid19 hat sich dies geändert. Kaum war klar, wieviel Geld sich hier verdienen lässt und um wieviel Prestige es geht, wurden die Pharmakonzerne rührig. Die wichtigen Innovationen kamen allerdings nicht von Big Pharma, sondern von universitären Instituten oder kleineren Firmen, die – oft über viele Jahre und trotz mancher Widerstände – an ihre innovativen Konzepte (z.B. an die mRNA-Technologie) geglaubt haben. Allerdings verfügen nur Staaten oder grosse Pharmakonzerne über genügend Mittel, um breit angelegte klinische Studien und globale Vertriebsnetze zu finanzieren (aber Staaten engagieren sich selber leider nicht). Prompt haben sich Konzerne wie Pfizer die Entwicklungsarbeiten von kleinen Firmen und von Universitäten zunutze gemacht, um im Geschäft mit Covid19 kräftig mitzumischen. Von etlichen Staaten haben sie Geldmittel in Milliardenhöhe und Abnahmegarantien erhalten (Public Eye, 2021). Pfizer, Biontech und Co. haben dank starker öffentlicher Unterstützung mittlerweile eine Position inne, in der sie massgebend über die Weiterentwicklung und die Preisgestaltung von Vakzinen entscheiden können. Ihre Marktmacht nutzen sie auch zu langjährigen Knebelverträgen mit Regierungen, inklusive Geheimhaltungsklauseln und dubiosen Bestimmungen (Suter, 2021).
Der indische Immunologe Satyajit Rath erläutert diese Entwicklung in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger mit folgenden Worten: «Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits im Mai 2020 versucht, eine politische Entscheidung herbeizuführen, die ein gemeinsames Vorgehen vorgeschrieben hätte, weltweite, multinationale Forschung, Vakzine mit vergleichbaren Tests und vergleichbaren Versuchsgruppen, solidarisch und koordiniert von der WHO. Alle Vakzine hätten sich der gleichen Prüfung unterziehen müssen, um eine Zulassung zu bekommen, wir hätten transparente und vergleichbare Daten gewonnen. Und auch genügend produzieren können, sogar für ärmere Länder. Stattdessen konnte die WHO nur wie ein Schiedsrichter in einem turbokapitalistischen Wettrennen zusehen. Hätten wir eine globale Strategie gehabt, hätten wir uns vielleicht ein Jahr Pandemie sparen können» (Satyajit Rath, 2021).
Das – und vieles mehr, z.B. die exorbitanten Preise für viele andere neue Medikamente – ist nicht länger hinnehmbar. Die öffentliche Hand muss sich deshalb aktiv für die Forschung, die Entwicklung, die Produktion und den Vertrieb von Impf- und Heilstoffen engagieren. Die vielen Milliarden an öffentlichen Geldern und an Krankenkassenprämien, die heute in die Kassen von Big Pharma landen, sollten besser für den Aufbau eines öffentlich kontrollierten Clusters von Non-Profit-Instituten und kooperationswilligen Betrieben investiert werden. So könnte die Politik auf Basis offener Patente und in globaler Zusammenarbeit das Heft in die Hand nehmen. Das neue Covid19-Gesetz, das Ende November 2012 zur Abstimmung kommt, enthält nun erfreulicherweise Bestimmungen, die in der Schweiz dafür die Grundlage schaffen. In der Gesetzesvorlage heisst es dazu unter Art. 3 Abs. 2 Bst. e, 6 und 7, Alinea 2: «(Der Bund ) kann zur Gewährleistung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen medizinischen Gütern: e) wichtige medizinische Güter selber beschaffen oder herstellen lassen; er regelt in diesem Fall die Finanzierung der Beschaffung oder der Herstellung sowie die Rückvergütung der Kosten durch die Kantone und Einrichtungen, denen die Güter abgegeben werden» (Online hier). Das ist alleine schon ein wichtiger Grund für die Zustimmung zu diesem Gesetz.

Der Kampf um den Staat

Ein zentraler Slogan vieler gesellschaftlicher Revolten seit 1968 lautete: Rebellion ist berechtigt (wogegen auch immer). Spuren dieser Haltung prägen weite Bevölkerungsteile bis heute. Doch gerade zeigt sich: Es kommt eben doch darauf an. Rebellion ist nicht immer berechtigt. Regeln und Vorschriften sind nicht per se undemokratisch und freiheitsfeindlich. Im Gegenteil: Oft verhindern nur klare Regeln, dass sich die Stärkeren dank ihrer Macht durchsetzen.
In einer Pandemie müssen wir von den Regierungen verlangen, dass sie rasch und vorausschauend handeln, weil in rasant einbrechenden Krisen nur Regierungen überhaupt dazu in der Lage sind. Wenn sie nicht handeln, ist dies verantwortungslos. Das eklatanteste Beispiel dafür ist die Regierung von Jair Bolsonaro, die Hunderttausende von unnötigen Corona-Opfern zu verantworten hat. Auch die Schweizer Regierung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, im Sommer 2020 die Schutzmassnahmen viel zu rasch gelockert zu haben (auch wenn sie die Gefährlichkeit von Covid19 nie in Abrede gestellt hat).
Klar: Notmassnahmen dürfen nicht dazu missbraucht werden, ordentliche demokratische Verfahren auszuhebeln. Doch wir brauchen den Staat, um Krisen erfolgreich zu bewältigen. Die Frage ist nun allerdings, wie ein solcher Staat beschaffen sein muss. Die nun über lange Jahre dauernde neoliberale Dominanz hat in sehr vielen Ländern zu einer eigentlichen Demontage von Teilen des Staates, nämlich der öffentlichen Dienste geführt. Oft ist davon gerade die Gesundheitsversorgung stark betroffen. Und auch die internationalen Institutionen wie die WHO sind in einem gefährlichen Ausmass geschwächt worden. So beträgt das reguläre WHO-Jahresbudget heutzutage lächerliche 500 Millionen US$ (zwei weitere Milliarden US$ sind zweckgebunden – Stiftungen beziehungsweise einzelne Länder bestimmen über die Verwendung). Zum Vergleich: Der Betriebsertrag des Berner Inselspitals belief sich im Jahr 2020 auf CH 1,73 Mrd CHF und damit auf mehr als das Dreifache des ordentlichen WHO-Budgets. Die Gewinne vor Zinsen und Steuern (EBIT) der 21 grössten Pharmakonzerne wiederum betrugen 2020 total 167.8 Mrd Euro (198.3 Mrd US$) – also das 400-fache des ordentlichen WHO-Budgets. Wobei zu beachten ist, dass ein überwältigend grosser Teil dieser Gewinne öffentlich finanziert wird, also aus Krankenkassenprämien oder Steuergeldern stammen. Ein Folge der Unterfinanzierung ist, dass die WHO kaum noch unabhängig arbeiten kann – was ihr dann wiederum prompt zum Vorwurf gemacht wird. Die WHO muss als eigenständige Institution deshalb ganz erheblich gestärkt werden. Die Schweiz soll ihren regelmässigen Jahresbeitrag von heute einem runden Dutzend auf 500 Mio CHF aufstocken und damit das reguläre WHO-Jahresbudget verdoppeln. Sie kann damit enorm viel bewirken. Gleichzeitig soll sie die andern reichen Länder auffordern, ebenfalls massiv höhere Beiträge zu entrichten.
Nun steht als nächstes das Abstimmungswochenende vom 28.11.2021 vor der Tür. Es bietet gleich zwei Mal Gelegenheit für ein verantwortliches Votum. Zum einen mit einem Ja zum Covid19-Gesetz. Zum andern mit einem Ja zur Volksinitiative «Für eine starke Pflege», die am gleichen Tag zur Abstimmung kommt. Die Initiative verlangt, dass die Stellung der Pflegenden gestärkt wird, ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden und deutlich mehr in die Ausbildung von neuen Pflegefachkräften investiert wird. Das ist nötiger denn je, wenn der Exodus von chronisch überlastetem Gesundheitspersonal gestoppt werden soll.

Anhang: Verändern Impfstoffe das Erbgut?

Dem Impfen haftet etwas Unheimliches an. Mensch setzt sich dabei freiwillig Bausteinen von Krankheitserregern aus und muss darauf vertrauen, dass die Hersteller der Impfstoffe sorgfältig arbeiten und mit offenen Karten spielen. Gleichzeitig ist weitgehend unbestritten, dass die Entwicklung von Impfstoffen eine der grössten medizinischen Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit darstellt. Impfen ist die mit Abstand wirksamste Methode, um Virus-basierte Infektionen zu bekämpfen (z.B. Pocken, Masern, Keuchhusten, Kinderlähmung, Diphtherie, SarsCov1, Mers, SarsCov2), weil es gegen virale Infekte nach wie vor keine zuverlässigen Behandlungen gibt. Impfen spielt aber auch bei bakteriellen Infekten eine wichtige Rolle (Tuberkulose, Typhus, Pest), auch wenn zu deren Bekämpfung in der Regel wirksame Medikamente (Antibiotika) verfügbar sind.
Viele Menschen – vielleicht sogar die grosse Mehrheit – geht allerdings irrtümlicherweise davon aus, dass all diese Erreger schon immer existiert hätten, jedenfalls so lange es Menschen gibt. Manche sind deshalb der Meinung, wir täten am besten daran, die eigene Immunabwehr «auf natürliche Weise» (also durch den direkten Kontakt mit dem Erreger) zu trainieren – schliesslich sei das eben schon immer der «normale» Weg gewesen. Doch dem ist nicht so. Die steinzeitlichen Jagd- und Sammelgesellschaften waren kaum mit Seuchen konfrontiert. Es war die Entwicklung der Landwirtschaft, die dazu führte, dass sich die heute allgemein bekannten Erreger bildeten. Diese sprangen von Rindern (u.a. Pocken, Tuberkulose), Hunden (u.a. Masern) oder andern Tieren auf Menschen über (sogenannte Zoonose). Ein weiteres trugen dann die Städte bei und die darin herrschenden Klassenverhältnisse: Es waren vor allem die unterdrückten Klassen, die mit höchst unhygienischen Lebensbedingungen Vorlieb nehmen mussten. Laut dem Medizinhistoriker Roy Porter waren die Städte noch bis ins beginnende 20.Jhdt «derart unhygienisch und von Ungeziefer verseucht, dass sich ihre Bevölkerungen nicht auf natürliche Weise erneuern konnten» (Porter, 2006, S.22). Mit andern Worten: Die Städte wären wegen der Seuchen ohne permanente Zuwanderung ausgestorben.
Neuerdings beschleunigt sich das Auftauchen neuer Erreger wieder, und zwar vor allem durch die Schwächung der letzten grossräumigen Wildhabitate (insb. der tropischen Wälder). Dies begünstigt neue Zoonosen, also das erneute Überspringen von Erregern, die in den Tieren heimisch und für diese meist harmlos sind, auf die Menschen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2008 ist es zwischen 1940 und 2008 zu insgesamt 335 Ausbrüchen von neu auftretenden Infektionskrankheiten gekommen. Und die Entwicklung beschleunigt sich: «Seit den 1990er Jahren werden pro Jahr so viele neue Erreger gefunden, dass die beteiligten Wissenschafter es inzwischen aufgegeben haben, für jedes neue Virus, jeden Wurm, jeden pathogenen Pilz ein wissenschaftliches Papier anzufertigen» (Rietz, 2021). Die Entwicklung von Impfstoffen dient also der Abwehr von Seuchen, die durch Klassengesellschaften, Landwirtschaft und Verstädterung überhaupt erst entstanden sind und deren Entstehung neuerdings durch massive Veränderungen der Ökosphäre erneut gefördert wird. Impfen ist also nicht das vermutete Aushebeln der Natur, sondern die Antwort auf «unnatürliche» geschichtliche Prozesse.
Was nun aber viele Leute verunsichert ist die neue Methode, die in den Impfstoffen von Biontech und Moderna angewandt wird: Geimpft wird eine Messenger-RNA (mRNA). mRNA kommt in allen Zellen vor und weist die Zellfabriken (die Ribosomen) zur Synthese von Proteinen an. Die körpereigene mRNA liest ihre Information aus der eigentlichen Erbsubstanz, der DNA ab (deshalb der Name Messenger-RNA, also Boten-RNA). Diese mRNA wird von den Zellen wieder abgebaut, nachdem sie ihre Aufgabe in den Ribosomen erfüllt hat.
Die geimpfte mRNA weist die Zellfabriken nun an, Fragmente der Corona-Viren zu produzieren. Diese wiederum stimulieren die körpereigene Immunabwehr. Diese Methode wird schon seit rund 20 Jahren erforscht und erprobt – nur dass sich Big Pharma bis 2019 kaum dafür interessierte und auch keine entsprechenden Entwicklungsgelder für die teuren klinischen Tests verfügbar machte.
Weil mRNA-Impfstoffe sich im Bereich der Vorgänge bewegen, die in den menschlichen Zellen beim Abrufen von Erbinformationen üblich sind, weckt dies nun allerdings Ängste, dass dabei auch unser Erbgut verändert werden könnte. Wären diese Ängste berechtigt, dann müssten sie sich allerdings in noch grösserem Masse auf die Corona-Erkrankung selbst richten. Denn mRNA-basierte Impfstoffe machen nichts anderes, als den Krankheitsverlauf zu simulieren. Dabei kommt es aber nicht zur Produktion von ganzen Viren, die dann wiederum weitere Körperzellen befallen, sondern eben nur von einzelnen Bestandteilen dieser Viren, die sich selbst nicht weiterverbreiten können. Diese Bestandteile aber reichen aus, damit das Immunsystem lernt, die Viren erfolgreich zu bekämpfen. Die mRNA wiederum wird vom Körper wie erwähnt rasch abgebaut.
Zum Glück können die Coronaviren ihre Erbinformation nicht in die eigentliche Gendatenbank der Zellen (die DNA) hineinschmuggeln – im Gegensatz etwa zu AIDS-Viren (Battegay, 2021). Die Befürchtungen vor einer Veränderung der DNA sind also unbegründet. Und dies gilt nicht nur für Covid19, sondern eben auch für die Impfung.
Bleibt die Frage nach den Nebenwirkungen der Hilfsstoffe, die in den Impfungen enthalten sind. Bislang sind weltweit rund fünf Milliarden COVID19-Impfdosen verabreicht worden. Meldungen über Nebenwirkungen werden breit erfasst und in unzähligen Studien untersucht. Kurzfristige Wirkungen sind bekannt und überwiegend harmlos. Für Nebenwirkungen, die sich erst lange Zeit nach der Impfung bemerkbar machen2 gibt es bislang keine Anhaltspunkte – ganz im Gegensatz zur Covid-Erkrankung selbst, die häufig zu Langzeiterkrankungen führt (Long Covid).
Zu den epidemiologischen Bedenken: Von manchen Seiten wird argumentiert, es sei problematisch, während einer Pandemie Impfkampagnen zu lancieren. Denn während einer solchen Krankheitswelle seien sehr viele Krankheitserreger in Umlauf, und es bestehe die Gefahr, dass eine Impfkampagne zu einer ungewollten Förderung gefährlicher Mutationen führe. Mutierte Viren, die der Immunantwort teilweise ausweichen können, verbreiten sich und werden dominant, während herkömmliche Viren durch eben diese Immunantwort zurückgedrängt werden. Allerdings wirken genesene Personen in Bezug auf die Auswahl von Mutationen in gleicher Weise wie geimpfte Personen: Sie erhöhen den Selektionsdruck. Das Argument ist also nicht stichhaltig. Mit raschem Impfen verbessern sich vielmehr die Chancen, das Wettrennen gegen die Mutationen zu gewinnen. Klar: Es wäre viel besser gewesen, man hätte die Menschen vor Ausbruch der Corona-Pandemie impfen können. Doch das war aus offensichtlichen Gründen nicht möglich. So erweisen sich Corona-Impfungen als Errungenschaft, dank der Millionen von Menschenleben gerettet werden und schwere Krankheitsverläufe verhindert werden können.

Fussnoten

1. Das COVID19-Gesetz, über das im Juni 21 abgestimmt worden ist, enthielt vorwiegend Regelungen zur wirtschaftlichen Unterstützung von Personen und Unternehmen (u.a. die Kurzarbeitsentschädigung, die Entschädigung des Erwerbsausfalls von Selbstständigen, Härtefallhilfen für Unternehmen). Die nachträglichen Ergänzungen des Gesetzes, die der Volksabstimmung vom November 21 vorliegen werden (hier), umfassen zum einen die Verlängerung und Erweiterung der wirtschaftlichen Hilfen. Zum andern definieren sie die Kompetenzen des Bundesrates, z.B. in Bezug auf Quarantänemassnahmen und Zertifikate. Schliesslich enthalten sie die Basis für staatliche Aktivitäten zur Entwicklung und Bereitstellung von wichtigen medizinischen Gütern (siehe auch Haupttext). Impfungen hingegen sind nicht Gegenstand des Covid-19-Gesetzes. Sie sind im Epidemiengesetz geregelt, das 2016 in Kraft getreten ist. Demnach können Impfungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen (etwa für das Spitalpersonal) obligatorisch erklärt werden. Wer sich nicht impfen lässt, muss gewisse Konsequenzen in Kauf nehmen, z.B. die Versetzung in eine andere Abteilung des Spitals. Es darf aber niemand gegen den eigenen Willen zu einer Impfung gezwungen werden.
2. Auch längerfristige Nebenwirkungen treten bereits in den ersten Wochen und Monaten nach einer Impfung auf und bestehen danach langfristig. Ein bekanntes Beispiel sind Fälle von Narkolepsie (plötzlich auftretende Schlafattacken) als Nebenwirkung der Pandemrix-Impfung gegen die Schweinegrippe (siehe z.B. hier). Pandemrix ist ein herkömmliches Vaxim und basiert nicht auf der mRNA-Technologie. So wie sich die Lage bislang präsentiert ist es genau diese neue Technologie, die einen wichtigen Fortschritt in der Herstellung von Impfstoffen ermöglicht und ihre Wirksamkeit verbessert.

Literatur, Hinweise

1. Melinda Nadj Abonji (2021). Die Verantwortung ist ein ethisches Prinzip; sie kann nie nur das Eigene bedeuten. In: Wochenzeitung WOZ vom 25.2.2021
2. Manuel Battegay (2021). Antworten zu den Mythen um die schnell entwickelte Covid-Impfung. In: Tages-Anzeiger online. (gelesen am 26.8.2021).
3. Denknetz-Fachgruppe Big Pharma (2016). Toxic Pharma. Warum toxisch hohe Preise für Medikamente dringend eliminiert werden müssen, und warum es im Pharmabereich und der medizinischen Forschung einen starken, global vernetzten Service public braucht. Online unter hier.
4. Ernst & Young (2021). Die grössten Pharmafirmen weltweit. Analyse der wichtigsten Finanzkennzahlen der Geschäftsjahre 2018, 2019 und 2020. Online hier. (gelesen am 9.9.2021)
5. Martin Suter (2021). Geheimverträge für Impfstofflieferung – Pfizer wälzt Risiken auf Käufer ab, grosse Unterschiede bei Preisen. In: Der Bund vom 2.8.2021. Online hier. (gelesen am 14.9.21)
6. Michael Hermann (2021). Freiheit misst sich an der Freiheit der Andersdenkenden. Kolumne im Tages-Anzeiger vom 27.7.2021 (S.2).
7. Perspektive Care-Gesellschaft. Plädoyer für eine Erneuerung des Gesellschaftsvertrags – lokal und global (2020). 2251 Unterzeichnende unter https://www.denknetz.ch/care-gesellschaft
8. Frédédric Pierru, Frédéderick Stammbach, Julien Vernaudon (2021). Das Impfprivileg. In: Le Monde diplomatique (Ausgabe Schweiz) vom März 2021
9. Roy Porter (2006). Geschröpft und zur Ader gelassen. Eine kleine Kulturgeschichte der Medizin. Frankfurt am Main.
10. Public Eye (2021). Big Pharma takes it all. How pharmaceutical corporations profiteer from their privileges – even in a global health crisis like COVID-19. Online hier. (gelesen am 29.8.2021)
11. Satyajit Rath (2021).: «Sprechen Sie bitte nicht immer von Wellen». Interview im Tages-Anzeiger vom 28.8.2021. Online hier. (gelesen am 31.8.2021)
12. Helga Rietz (2021). Wir müssen wachsam bleiben. In: NZZ vom 16.7.2021, S.17
13. Nicolai Thelitz, Hansruedi Schöchli (2021). 90 Prozent weniger Spitaleinweisungen. In: NZZ vom 9.9.2021, S.7
Zum Autor: Beat Ringger ist Publizist und Mitglied der Denknetz-Kerngruppe.