Hat die Linke ein Kunstprogramm?
Die Frage der Kunst, Kultur und Ästhetik ist im linken Diskurs seltsam abwesend, taucht selten in aktuellen Thesen und Forderungen auf. Dieses Versäumnis wiegt schwer. Doch ist ein linkes Kunstprogramm noch möglich?
Ja – allerdings nur ein die Menschen und ihre Kunst radikal ermächtigendes. ‹Kunst› meint hier und im Folgenden alles ästhetische Schaffen, Reflektieren und Geniessen (also auch Popmusik, Mode, Kinderzeichnung oder beschwipstes Tanzen). Die Argumentation ist folgende:
1. Kunst bildet den Kern, gleichsam das ‹Reifekriterium› eines Guten Lebens, wie es die Linke für alle Menschen anstrebt.
2. Kunst wird durch den Kapitalismus privatisiert und instrumentalisiert – u.a., um solch Gutes Leben zu inszenieren. Diese Instrumentalisierung ist für die heutige kapitalistische Herrschaft zentral.
3. Kunst muss dem Kapital entzogen und Allgemeingut werden. Dies beinhaltet a) die Aufhebung des Privateigentums, b) emanzipatorische Praxis und Aneignung, c) Analyse und Organisation ästhetischer Arbeit.

Kunst als Kern guten Lebens

Kunst gehört seit 100’000 Jahren zum Menschsein, ein Leben ohne hielte wohl niemand für lebenswert. Marx‘ «Reich der Freiheit«, seine Idealvorstellung menschlicher Praxis ist eine ästhetische. Kunst darf als Kriterium, gleichsam als Gradmesser Guten Lebens für alle gelten – dies v.a. hinsichtlich der Bedingungen, unter denen sie frei und von allen geübt und genossen werden kann (wie es Art. 27 der Menschenrechte fordert). Wenn eine Rentnerin das Museum scheut, weil Kunst nicht ‹für sie› ist, dann ist dieses Kriterium nicht erfüllt; ebensowenig, wenn ein Financier Gemälde als Wertanlage sammelt, wenn eine Designerin atemlos Originelles schafft, oder wenn christliches Liedgut grauenvollen Arbeitszwang lindert.
Kunst gilt als Raum der Lust, der Fantasie, der höheren Wahrheit, der Zuflucht und Utopie: auch in der kitschigsten Melodie wird mit Recht eine bessere Welt geträumt. Die Verstrickung mit den Herrschaftsverhältnissen tut dem keinen Abbruch, Kunst ging immer aus der Spannung zu den hegemonialen Zwängen hervor. Mit der Industrialisierung wird sie herrschaftlich bedeutungslos und gleichsam in die Autonomie gedrängt. Die Freiheit der Kunst ist weder heute noch historisch eine Realität, seit ihrer Verkündung aber unhintergehbare Maxime: Wenn die Mehrheit glaubt, Kunst sei frei, wahrheitssuchend und nur sich selbst verpflichtet, muss sie danach streben – gerade weil sie sich aus diesem Ethos nährt. Daran ist nichts ‹idealistisch›.

Instrumentalisierungund Inszenierung

Kunst wird durch den Kapitalismus privatisiert und instrumentalisiert. Sie wird 1. von den Vielen, die sie schaffen, geniessen und ihrer bedürfen, enteignet und isoliert, um die Wenigsten zu bereichern. Und sie wird 2. als Mittel für kunstfremde Zwecke eingesetzt.
Gerade was an Kunst heiliger Selbstzweck ist, wird als Selbstzweck zum Mittel. Frei sein, die Wahrheit suchen, das Leben sinnlich und kreativ geniessen können: diese bescheidenen menschlichen Ziele werden nicht nur offen behindert – sie werden selbst dazu benutzt, sie uns zu verunmöglichen, uns auszubeuten und sich damit zu bereichern.
Dies geschieht vielfältig: Werbung, Design, Sponsoring, Prestige, Wertanlage. Kunst ist selbst Ware, exemplarisch als Popkultur. Der ästhetische Genuss ist vielleicht die ideale Ware, weil nie gesättigte, und flüchtig-digital endlos verkaufbare (Streaming). Viele Kunst scheint nur noch als ‹Content› möglich, führt ein Gratis-Dasein als Werbe-Köder. Das Kapital münzt Kunst fortwährend in Herrschaftswissen um, eignet sich ihre Kritik und Innovation an und kränzt seine Liberalität damit. Lustige Swissmilk-Kühe, Starbucks-Kreidetafeln und UBS-Naturholztische beschönigen die katastrophalen Bedingungen, unter denen global produziert wird. Selbst das Geld funktioniert über Bilder.
Der Ästhetische Kapitalismus inszeniert das Gute Leben, um es in Profit umzumünzen statt zu realisieren. Die Rechtfertigung, weshalb man uns nicht selbstbestimmt ein Gutes Leben leben lässt, ist, dieses als Inszenierung zu erhalten: als Netflixfilm, Ikeastuhl, Thailandurlaub – als temporäre Einblicke, wie sich das Gute Leben anfühlen könnte, wenn Erschöpfung, Elend, Fremdbestimmung, Klimakrise und Zukunftsangst nicht wären.
Dies setzt dreierlei voraus:
1. die massenhafte Mobilisierung billiger ästhetischer Arbeit;
2. den Zugriff auf die marktfern getätigte Kunst;
3. die Verfügbarkeit des kulturellen Erbes als Ressource.
Der Arbeitsbedarf erklärt das ästhetische Trainingsprogramm, das die Gesell­schaft erfasst: Instagram, Home­studio, Kunsthochschule, Praktika – Selbst­ausbeutung als Selbst­verwirklichung. Ist die ästhe­tische Reservearmee gross und verzweifelt genug, braucht es statt Förderung lediglich Rosinenpicken.
Nun darf man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sprich: Kunst nicht mit ihrer Instrumentalisierung verwechseln. Die Schwierigkeit ist gerade, dass auch instrumentalisierte Kunst genussvolle, authentische, wahrheitssuchende, sogar emanzipatorische sein kann. Wenn uns die DSDS-Kandidatin ein Tränchen entlockt, so weil der Song grandios, die Stimme bewegend, und die Hoffnung darin echt ist, dem Lidlschicksal zu entrinnen – auch wenn dies dem Profit dient. Künstlerin und Kunst werden ausgebeutet, sie beuten nicht selbst aus. Wenn wir dem Kapital zugestehen, Kunst gleichzeitig zu kontaminieren, verlieren wir gleich dreifach: nicht nur ihren Ertrag und Genuss, sondern auch, dass der Kapitalismus fortwährend Hoffnungen besingt, die sich gegen ihn selbst richten. (Das heisst nicht, dass Profit Kunst nicht entstellen kann, dazu haben wir genug Hirn- und Herzloses ertragen.)
Der Linken stellen sich zwei Aufgaben: 1. Kunst ungeachtet ihrer Instrumentalisierung zu beurteilen und zu geniessen; 2. Kunst ungeachtet dieses Genusses zu kritisieren, d.h. die Frage ihrer Befreiung zu stellen.

Kunst als Allgemeingut

Langfristig: Aufhebung des Privateigentums
Privateigentum ist die eigentliche Macht der heutigen globalen Gesellschaft, nämlich die gesetzliche Erlaubnis, über Dinge entscheiden zu können, an denen man gänzlich unbeteiligt ist (eben nicht die eigene Zahnbürste, Wohnung oder Arbeitsumgebung). Geld ist gleichsam die Einheit dieser Verfügungsmacht, konträr zur Demokratie. Irgendeine langfristige Veränderung zu bewirken, ohne das Privateigentum anzutasten, ist daher illusorisch. Die notwendige Bedingung eines Guten Lebens für alle und einer freien, zwecklosen und lustvollen Kunst ist: die Vergemeinschaftung des Privateigentums.
Eigentum ist der Grund, weshalb sich Kunst überhaupt privatisieren und instrumentalisieren lässt, und weshalb sämtliche Kunstprogramme gescheitert oder zu Farcen verkommen sind: vom Bauhaus zur Ikea. Kunst als Allgemeingut zu fordern ist konsequent, bedeutet aber zuerst, das Privateigentum aufzuheben und dem handfesten Widerstand derer zu begegnen, die dadurch enteignet werden: von ihren Majorlabels, Gemäldevermögen, Facebook-Aktien – wesentlich von ihrer Herrschaft.
Dies mag als kunstfremde Forderung erscheinen. Ihr Verhältnis zur Gesellschaft ist jedoch (tatsächlich) dialektisch: Kunst ist Teil davon. Wir empfinden, denken und handeln (u.a.) in und durch Kunst. Sie ist umgekehrt ein Grund, weshalb sich das Eigentum bisher nicht aufheben liess, und daher Teil jeder Transformation. Wie aber Kunst hierzu beiträgt, muss ihr überlassen werden.
Mittelfristig: Emanzipatorische Praxis und Aneignung
Dies entbindet keineswegs von der Aufgabe, Kunst auf ihr emanzipatorisches Potential zu befragen. Nur muss dies einerseits in Anerkennung ihrer Eigenlogik und Freiheit geschehen (also mittels ästhetischer Kategorien), andererseits gerade in radikalem Opportunismus zugunsten der Selbstermächtigung aller. Was meine ich damit?
Hinsichtlich der Aneignung und Interpretation meint das die Frage, wie Kunst für alle zugänglich und fruchtbar würde. Also nicht: die Ilias sparen wir uns, weil elitär und kriegsgeil, sondern: wie lesen wir die Ilias aus unserer Perspektive, was ist daran wertvoll für uns, und wie finden auch Migrantenkinder aus Bümpliz Zugang zur Ilias?
Hinsichtlich der Praxis meint das die Frage, inwiefern Kunst eine Stimme verleiht, Realitäten sichtbar macht, Teilhabe ermöglicht, breitenwirksam ist. Rap wäre dann nicht geldgeiler sexistischer Lärm, sondern eine Kunst von unten – deren selbstermächtigende Aspekte es zu fokussieren, deren problematische es zu reflektieren gilt.
Hinsichtlich der Kunst- und Kulturtheorie bedürfte es einer linken Neusichtung und Re-Evaluation. Welche Thesen gingen vergessen? Was gäbe der Linken wie der Kunst Diskussionsstoff? Wie machen wir gerade unliebsame Thesen und Autor*innen produktiv?
Darüber hinaus sind Neuformen gefragt, z.B. eine ‹Ergänzungspraxis› zum Kanon: Man erzählt Krieg und Frieden aus der Perspektive einer Bediensteten; man interpretiert Popballaden zu Bewegungsliedern um (wie die Kirche das Hohelied); man malt Putzpersonal in absolutistischem Barock. Derart liesse sich das Gefühl schärfen für die ästhetische Verfasstheit von Herrschaft.
Kurzfristig: Analyse und Organisation der ästhetischen Arbeit
Kunst dem kapitalistischen Zugriff zu entziehen, bedeutet wesentlich, ihm die ästhetische Arbeit zu verweigern – und sie bereits als Allgemeingut zu verwirklichen (nicht zu verwechseln mit der selbstausbeuterischen Gratiskultur), andererseits als Propaganda für die Aufhebung des Privateigentums einzusetzen. Dies setzt dreierlei voraus:
1. die ästhetische Analyse – nicht nur, wo und wofür wird ästhetische Arbeit eingesetzt oder eingeübt, sondern: Wie funktioniert sie überhaupt, mit welchen ästhetischen Mitteln zielt sie auf welche Affekte? Fruchtbar Modell steht hierfür die klassische Rhetorik, die Ästhetik als Herrschaftswissen lehrt (und so auch dagegen wappnet).
2. die Organisation der ästhetischen ArbeiterInnen – wie liesse sich diese Arbeit denn konkret befreien? Die Gewerkschaften verfügen über entsprechende Expertise, zudem gilt es das kreative Selbstbild zu hinterfragen. Genügend organisiert liesse sich bspw. ein Fonds denken, der sich aus verdoppelten Preisen für privat­wirtschaftliche Aufträge speisen würde, und aus dem man sich befreiter Kunst widmen könnte.
3. der ästhetische Widerstand – wie trägt die ästhetische Arbeit selbst zu ihrer Befreiung bei? Auch hier liessen sich nebst bestehenden subversiven Praktiken neue denken: GrafikerInnen könnten sich zusammenschliessen und abwechselnd politische Fragen bebildern. Kunstgebildete könnten klassenlose Schulen gründen, und Jugendlichen und Arbeitslosen Kunst näher bringen. Lokale Musikszenen könnten sich monatlich treffen und gemeinsam ihr Schaffen reflektieren. Und so weiter.
Zum Autor: Tommy Vercetti (Simon Küffer) ist Berner Rapper, forscht an der Hochschule der Künste Bern HKB zur visuellen Rhetorik von Geld.