Pascal Zwicky

Kommentar

Gemeinsam Verantwortung wahrnehmen
26.08.2022   |   Manchmal treibt die Realität seltsame Blüten: Am Sommerfest der «Weltwoche» spielt, auf Einladung des Verlegers und SVP-Nationalrats Roger Köppel, eine Reggae-Band aus dem alternativen Milieu, die einige Wochen zuvor ihr Konzert in einem linken Restaurant in Bern abbrechen musste, weil sich einige anonym gebliebenen Besucher:innen aufgrund der Rastas und der afrikanischen Kleider der weissen Bandmitglieder (Stichwort: Kulturelle Aneignung) unwohl gefühlt haben… Ist das Ganze mehr als nur eine tragisch-komische Anekdote? Ich befürchte schon.
Die gesellschaftskritische Debatte im deutschsprachigen Raum hat – mit einiger Verspätung gegenüber der angelsächsischen Diskussion – in den letzten Jahren einen Sprung nach vorne gemacht. Heute wird der Blick nicht mehr nur auf die «Vorderbühne» kapitalistischer Ausbeutung, die Sphäre der Lohnarbeit, geworfen. Auch die «Hinterbühne», also die Care-Arbeit, die koloniale Geschichte, der Rassismus und die gesellschaftlichen Naturverhältnisse, werden in die Analyse einbezogen.1 Damit steht uns eine komplettierte und damit angemessene Sicht auf soziale Realität und die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zur Verfügung. Gerade um die Themen der sogenannten «Identitätspolitik» hat sich auch ein selbstbewusster, «woker» Aktivismus entwickelt, der ab und zu halt auch übers Ziel hinausschiesst. So weit, so gut.
Nun besteht aber zunehmend die Gefahr, dass die «identitätspolitischen Debatten» zu einer wirklichen Falle für die progressiven Kräfte werden. Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Es sei nochmals betont: Die Kritik am strukturellen Rassismus, am «weissen Denken»2 und am Heteropatriarchat ist wichtig und sie trägt wesentlich zur universell-emanzipatorischen Perspektive einer modernen Linken bei. Das Problem beginnt da, wo das Universelle aus dem Blick gerät; wo die Bewegung in ihrer social-media-genährten Bubble verharrt und nur die «eigene», individuelle Diskriminierungserfahrung zählt; wo neue rigide Gruppenidentitäten geschaffen werden; wo alles vorschnell moralisch aufgeladen, und ein gemeinsamer Diskussions- und Lernprozess verunmöglicht wird. Damit wird nicht nur den wichtigen feministischen und antirassistischen Forderungen ein Bärendienst erwiesen.
Wir sehen uns heute mit einer tiefgreifenden Vielfachkrise konfrontiert, die ohne historisches Vorbild ist: Klimaerhitzung, Krieg, soziale Ungleichheit, Energie- und Wirtschaftskrise – die Grundlagen der spätkapitalistischen Gesellschaft werden in Frage gestellt und die Antworten der Vergangenheit greifen nicht mehr. Auch wenn sich noch nicht alle dessen bewusst zu sein scheinen: Wir befinden uns aktuell mitten in Auseinandersetzungen um eine grundlegende Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. In dieser Situation kann ein Konzertabbruch einer bislang eher unbekannten Band für den bürgerlichen Mainstream und insbesondere die politische Rechte zu einem Elfmeter ohne Torhüter:in werden. Und Leute wie Roger Köppel lassen sich solche Chancen nicht entgehen. Sie bauschen diese Nebenschauplätze mit freundlicher Unterstützung der Medien auf, instrumentalisieren sie für ihre Zwecke (wie schlau der Entscheid der Band war, am «Weltwoche»-Sommerfest aufzutreten, soll hier nicht das Thema sein) und lenken von den strukturellen Problemen ab. Wenn sich der «Klimaskeptiker» Roger Köppel plötzlich als Reggae-Fan inszeniert, ist das nicht bloss eine Spielerei. Es geht dabei um knallharte Macht- und Interessenpolitik, um den Schutz des zerstörerischen politökonomischen Status quo.
Die Strategie der Rechten, insbesondere der SVP: Die karikaturistischen Verirrungen des woken Aktivismus pauschal der Linken zuschreiben und linke Politik damit in der Öffentlichkeit generell disqualifizieren. Bei Gesprächen mit Menschen ausserhalb der linken Blase merkt man, dass diese Strategie durchaus verfängt.
Wenn die progressiven Kräfte nicht aus dieser Falle herausfinden, dann laufen wir Gefahr, dass Gendersternchen und Diskussionen über «Cancel Culture» die politische Linke zu einem mehr als ungünstigen Zeitpunkt empfindlich schwächen. Heute steht, so viel Pathos muss sein, die Zukunft auf dem Spiel. Die immense Herausforderung eines sozial-ökologischen Wandels verlangt nach einer durchsetzungsfähigen Linken. Sie verlangt u.a. nach einer Stärkung der rot-grünen Kräfte bei den Eidgenössischen Wahlen im Herbst 2023.
Diese Zeilen habe ich aus einem schon länger vorhandenen Unbehagen heraus geschrieben. Sie sind ein Herantasten, keine Wahrheitsverkündung. Sie sollen weder eine einseitige Schuldzuweisung, noch Werbebotschaft für ein Revival eines simplifizierenden «Hauptwiderspruch-Denkens» sein. Es geht mir um Verantwortung. Verantwortung, die wir angesichts der existenziellen Krise, in der sich die Welt befindet, alle wahrnehmen sollten. Und Verantwortung wahrnehmen heisst gerade heute eben auch, Prioritäten zu setzen und eigene Befindlichkeiten und Geltungsbedürfnisse einmal hintanzustellen. Gemeinsam Verantwortung wahrnehmen für die dringend notwendige Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen – das wäre mein Plädoyer in Kurzform.
Zur Person: Pascal Zwicky ist Geschäftsführer des Denknetz.
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Fussnoten

1. Siehe bspw.: Fraser, Nancy/Jaeggi, Rahel (2020): Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie. Berlin.
2. Thuram, Lilian (2021): Das weisse Denken. Hamburg.