Ein gemeinsames, linkes Projekt
Angesichts der riesigen Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist es eigentlich klar: Es braucht eine breite und starke Linke. Allerdings wird seit geraumer Zeit viel zu viel Energie darin investiert, über Unterschiede, Differenzen innerhalb der Linken zu diskutieren. Was wären also Konturen eines gemeinsamen linken Projekts?
Im Grunde ist es so absurd, dass man gar nicht weiter darüber sprechen möchte: Politiker*innen, die die neoliberale Wende der vergangenen Jahrzehnte aktiv mit vorangetrieben haben, beklagen sich über die mangelnde Verankerung der Linken in der Arbeiterklasse und machen die «Identitätspolitik» von Schwulen, Feminist*innen und Schwarzen für diesen Zustand verantwortlich. Als Foren dieser Kritik wählen sie ausgerechnet die Zentralorgane des Kapitals: in der Schweiz die NZZ, in Deutschland die Welt. Doch damit nicht genug: Vor einem Millionenpublikum breiten sich diese Personen, oft sind es ältere Herren, darüber aus, dass ihnen die berüchtigte «Cancel-Culture» den Zugang zur Öffentlichkeit verstelle.
Der Verleger Heinrich Geiselberger hat dieses Theater bei Twitter mit der Bemerkung kommentiert: «Dieses Hase-und-Igel-Spiel, das Wirtschaftsliberale und Konservative mit der Linken spielen (Ah, ihr macht nur Identitätspolitik, macht doch Klassenpolitik! Ah, Klassenpolitik, das ist doch Venezuela!) ist schon arg durchschaubar.» Recht hat er: Was die Feuilletons beherrscht, ist keine Debatte, sondern ein politisches Manöver.

Emanzipation als universalistisches Projekt

Um der Begriffsverwirrung entgegen zu wirken, sollte man sich vor Augen führen, was linke Politik in der Vergangenheit eigentlich ausgezeichnet hat, inwiefern sich diese Inhalte von liberalen Emanzipationsvorstellungen unterscheiden und was sich möglicherweise auch verändert hat.
Die Unterscheidung zwischen den politischen Lagern war immer vage und doch eindeutig. Rechts sassen in den Parlamenten die Abgeordneten, die die herrschende Ordnung bewahren oder vertiefen wollen, links versammelten sich jene, die die gesellschaftlichen Machtverhältnisse infrage stellten. Dabei war das, was man als Machtverhältnis erkennt, immer schon in Bewegung. Ging es bei der Französischen Revolution noch um die Gleichstellung des bürgerlichen «dritten Stands», rückten schon bald auch die Interessen der arbeitenden Klassen, der Sklaven, Frauen und Kolonisierten in den Blick. Die Erweiterung von Emanzipationsperspektiven, die heute so scharf kritisiert wird, war also immer schon ein Merkmal der Linken und entspricht übrigens auch ihrem universalistischen Anspruch: Es geht um die Befreiung aller Menschen aus Herrschaftsbeziehungen.
Auch wenn Marxist*innen es nicht besonders gern hören, weil sie ihre Position als wissenschaftliche Abkehr vom Idealismus begreifen, war diese Haltung immer moralisch grundiert. Oder wie es die queerfeministische Theoretikerin Bini Adamczak formuliert hat: « ›Freiheit, Gleichheit, Solidarität‹ sind eine normative Orientierung (… der) Revolutionen des 20. Jahrhunderts. (…) Die Revolution von 1917 fokussierte auf Gleichheit, die Revolution von 1968 auf Freiheit, erstere auf Einheit, letztere auf Differenz. Die Solidarität wird in beiden Revolutionen angerufen, aber wieder vergessen.»
Auch wenn diese Begriffe heute oft kaum mehr als Worthülsen sind, bilden sie doch weiterhin den programmatischen Kern jedes linken Projekts. Für die bürgerliche Mitte und die politische Rechte haben diese Forderungen nämlich exklusiven Charakter: Solidarität gibt es nur mit dem eigenen Volk. Freiheit ist die Unantastbarkeit der eigenen Machtposition (sprich des Eigentums). Und bei Gleichheit scharren Rechte sowieso unruhig mit den Füssen, weil sie die Machtbeziehungen zwischen Führern und Untergebenen, Männern und Frauen, Weissen und Nicht-Europäer*innen als naturgegeben erachten.
Dass links ist, was das Leben gleicher, freier, solidarischer und glücklicher macht, hat Karl Marx schon vor fast 200 Jahren in einem immer noch erstaunlich aktuellen Satz behauptet. Für ihn bestand der «kategorische Imperativ» darin, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist». Die Formulierung wirkt auch deshalb so erstaunlich modern, weil die sozialpsychische Seite des Unterdrücktseins ausdrücklich aufgeführt ist.

Was ist links?

Was aber bedeutet es konkret, wenn der Emanzipationsbegriff durch feministische, antirassistische und ökologische Perspektiven erweitert wird? Ich würde 6 normative Ziele als Merkmale linker Politik nennen:

1.) Ein «Gutes Leben für alle»

Dass die Linke sich im 19. Jahrhundert vom bürgerlichen Liberalismus schied, hatte u.a. mit der Erkenntnis zu tun, dass formale Freiheitsrechte wenig wert sind, wenn sie keine materielle Entsprechung besitzen. Die Vorstellung, dass sich Lohnarbeiter*innen und Unternehmer*innen als Gleiche begegnen, wurde von der Linken als Illusion kritisiert, mit der die realen Machtverhältnisse zwischen Besitzenden und Besitzlosen verschleiert werden sollen. Vor diesem Hintergrund geht es linker Politik an erster Stelle immer um die materiellen Voraussetzungen für ein gutes, menschenwürdiges Leben. Aus Sicht der bürgerlichen Aufklärung war die Abwesenheit von Bürgerkrieg und willkürlicher Gewalt schon Voraussetzung genug; für die Linke gehören Nahrungsmittel und Kleidung, eine intakte Natur oder die Bereitstellung kollektiver Infrastrukturen dazu. Sie sind grundlegende Bedingungen der Freiheit.

2.) Solidarität

Im gesellschaftlichen Mainstream wird der Faschismus als ein Angriff auf die liberalen Werte beschrieben. Aus linker Perspektive hingegen ist er eher deren Folge. Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi hat in seinem Buch The Great Transformation nachgezeichnet, wie der Liberalismus mit der Freisetzung der Märkte ab dem späten 19. Jahrhundert ungeheure gesellschaftliche Verwüstungen in Gang setzte, die schliesslich zwei Weltkriege nach sich zogen. Dieser Prozess wiederholt sich heute. Auf die wachsende Ungleichheit und sich verschärfende Verteilungskämpfe in der Marktgesellschaft reagieren die Menschen im Modus der Konkurrenz: Der Bezug auf «Volk und Rasse» soll Schutz vor dem drohenden sozialen Abstieg gewähren und Geborgenheit in einer durchökonomisierten Umwelt vermitteln. Die entscheidende Waffe gegen diesen Prozess ist die Solidarität – also jene gesellschaftliche Praxis, die sich der Zerstörung des Sozialen widersetzt. Links ist, was sich der Inwertsetzung und entfesselten Konkurrenz entgegen stellt und eine «sorgende» Beziehungsweise mit anderen stärkt.

3.) Demokratisierung – auch der Ökonomie!

Auch wenn der Stalinismus dieses Erbe verschüttet hat, war die Linke doch immer auch eine Demokratisierungsbewegung. Der Kampf um politische Rechte richtete sich gegen die Privilegien der oberen Klassen, die Demokratie war Ausdruck des egalitären Prinzips.
Linke Kritik darf deshalb nicht darauf hinaus, dass Demokratie eine Form bürgerlicher Herrschaft sei, wie es in Anlehnung an Marx verkürzt oft heißt, sondern dass die «bürgerliche Demokratie» eine Farce bleiben muss, solange sich an den Eigentumsverhältnissen nichts ändert. Wenn nämlich die entscheidende gesellschaftliche Frage – wie und wozu gearbeitet / verteilt wird – durch die Gewinninteressen Einzelner entschieden wird, muss die Demokratie ein Zombie bleiben. Es wird zwar gewählt, aber die grundlegenden Fragen bleiben davon unberührt.
Für Linke muss es bei der Demokratisierungsforderung deshalb nicht in erster Linie darum gehen, dass möglichst viel in Vollversammlungen besprochen wird. Das eigentliche Defizit der liberalen Gesellschaft ist, dass das ökonomische Feld ausgeklammert bleibt. Der zentrale Ansatzpunkt für Demokratisierung von links ist die Stärkung des Gemeineigentums, durch das wirtschaftliche Prozesse überhaupt erst demokratisch gestaltet werden können.

4.) Jenseits der Geschlechter

Kaum ein*e Linke*r wird leugnen, dass die Geschlechterverhältnisse trotz aller feministischen Kämpfe nach wie vor von Macht und Gewalt geprägt sind. Der Gender Pay Gap beträgt in der Schweiz fast 20 Prozent, rund alle zwei Wochen wird eine Frau Opfer eines Femizids. Links ist aber nicht nur, für ein Ende dieser Macht- und Gewaltverhältnisse einzutreten, sondern die binäre Geschlechterordnung selbst infrage zu stellen – und zwar ausgehend von der queerfeministischen These, dass nicht nur die Zuschreibung von Rollen, sondern auch das Körpergeschlecht »konstruiert« wird. Das scheint mir das Interessante am neue Feminismus: Indem er Lebensweisen und Identitäten jenseits feststehender Zweigeschlechtlichkeit sichtbar macht, eröffnet er Emanzipationsmöglichkeiten für alle.

5.) Globale, universelle Rechte: Antirassismus

Die Globalisierungstheorien der Jahrtausendwende, die den Bedeutungsverlust der Nationalstaaten prophezeiten, haben sich gründlich blamiert: Der Nationalstaat bleibt auch im transnationalen Kapitalismus unverzichtbar. Trotzdem ist umgekehrt auch richtig, dass der Kapitalismus nur noch als Weltsystem verstanden werden kann. Die Wertschöpfungsketten sind ebenso globalisiert wie die Vermüllung der Meere oder der Klimawandel.
Als links können deshalb nur Positionen gelten, die Solidarität nicht national einzugrenzen versuchen und sich dem Rassismus als ein Versuch von oben widersetzen, die globalen Klassenverhältnisse zu verschleiern oder zu rechtfertigen.

6.) Eine radikale ökologische Wende

Die meisten linken Debatten sind nach wie vor von der Vorstellung geprägt, Ökologie und Soziales müssten miteinander versöhnt werden. Doch in Wirklichkeit sind Natur- und Gesellschaftsverhältnisse sowieso untrennbar miteinander verknüpft: Bestimmte gesellschaftliche Strukturen schaffen konkrete Naturen, in konkreten Naturen sind nur spezifische Gesellschaften möglich. Der Kapitalismus verändert die Naturverhältnisse seit zwei Jahrhunderten so radikal, dass die materiellen Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz zerstört werden.
Das zeigt sich längst nicht nur im Klimawandel. Auch zahlreiche andere biophysikalische Grenzen des Planeten sind überschritten: Artensterben, die Veränderungen des Phosphor- und Stickstoffkreislaufes, die Landnutzung, die Vermüllung von Meeren usw. Es gilt daher, den Stoffwechsel mit der Natur – den Verbrauch von Ressourcen und die Emission von Stoffen – drastisch zu reduzieren.

Ein grüner Sozialismus

Doch was unterscheidet das nun von der Agenda von Liberalen, die sich ja durchaus auch soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Feminismus, Antirassismus und Umweltschutz auf die Fahnen schreiben? Der entscheidende Unterschied besteht in der Vorstellung, wie diese Ziele durchgesetzt werden können. Auch Linksliberale sind von den Segnungen des Privateigentums (an Produktionsmitteln) überzeugt. Linke hingegen halten dieses Eigentum für ein zentrales Problem. In einer Gesellschaft, die in Kapitaleigentümer*innen und (relativ) Besitzlose gespalten ist, gibt es nämlich keine Gleichheit, die Freiheit bleibt weitgehend auf den vermögenden Teil der Bevölkerung beschränkt, und die Solidarität wird durch das alles beherrschende Konkurrenzprinzip unterminiert. Und auch die ökologische Krise kann nicht bearbeitet werden, denn das Interesse der Einzelnen setzt sich konsequent über die Bedürfnisse der Natur hinweg.
Das ist der Grund, warum Linke Gemeineigentum (das «Kommune») durchsetzen wollen. Es ist, wie das 20. Jahrhundert bewiesen hat, zwar noch nicht die Lösung, aber eine wichtige Voraussetzung für egalitäre, demokratische und solidarische Veränderungen. Beat Ringger hat in einem Interview unlängst völlig zurecht darauf hingewiesen, dass diese Eigentumsfrage heute allerdings anders beantwortet werden muss als im 20. Jahrhundert. Die wirkliche Auseinandersetzung, so Ringger, finde nicht zwischen Staat und Markt, sondern zwischen Demokratie und Kapitalinteressen statt. Das ist ein entscheidender Einwand: Staatseigentum ist kein Garant für eine egalitäre Gesellschaft, und auch das Kapital ruft bisweilen nach einem starken Staat.
Die Stärkung des Gemeineigentums muss aus linker Perspektive also unbedingt mit einer Demokratisierung verknüpft werden. Entscheidend ist, dass die Interessen der Vielen verfolgt und die (Gewinn-) Interessen einer überschaubaren Gruppe von Eigentümer*innen zurückgedrängt werden. Hier erlangt auch der Begriff der Planung neue Aktualität: Es ist klar, dass wir unsere Produktions- und Lebensweise aus ökologischen Gründen systematisch umbauen müssen. Dieser Prozess muss durchdacht sein, sprich: geplant werden. Die zentrale Prämisse dabei muss lauten, dass die Wirtschaft den Bedürfnissen von Mensch und Natur entspricht (und nicht, wie bisher, Mensch und Natur für Wirtschaftswachstum zu sorgen haben).
Ein solches ökosozialistisches Projekt ist weniger ein Modell, das der Gesellschaft übergestülpt wird, als eine Bewegung zur «Dekommodifizierung». Der Kapitalismus macht alles zur Ware (commodity), die ökosozialistische Bewegung stärkt die Solidaritäts- und Sorgebeziehungen. Auch hier argumentieren Beat Ringger und Cédric Wermuth in ihrem Buch Die Service-public- Revolution richtig: Das Prinzip des Service public (der öffentlichen Güterversorgung) muss auf immer mehr Bereiche des Lebens ausgeweitet werden – das ist der linke Kampf der Gegenwart. Dabei müssen wir allerdings auch deutlich machen, dass vieles überhaupt kein Eigentum mehr sein sollte, auch kein kollektives. So wie die Feministin Eva von Redecker in ihrem Buch Revolution für das Leben skizziert: Das Konzept des Eigentums beruht auf absoluter Sachherrschaft und beinhaltet das Recht auf Zerstörung. Ökologisch jedoch kann nur ein Projekt sein, das mit dem Prinzip der Sachherrschaft bricht und natürliche Kreisläufe achtet.
Zum Autor: Raul Zelik ist Schriftsteller, Sozialwissenschaftler und Mitglied im Bundesvorstand der Partei Die Linke.