Die einzig denkbare Zukunft
50 Jahre Frauenstimmrecht. Ein Moment des Innehaltens, des Anerkennens und des Verortens. 50 Jahre, die Zeit und Raum liessen die feministischen Visionen weiterzuentwickeln, sie zu diversifizieren und sie konsequent zu Ende zu denken. Ein Abriss des zeitgenössischen linken Feminismus.
Nun hat auch das Schweizer Frauenstimmrecht endlich einen runden Geburtstag erreicht – und wir Frauen, Feminist*innen, Kämpfer*innen, Töchter und Mütter schauen zurück. Nicht selten lohnt sich dabei der kritische Blick über die Landesgrenzen hinaus. Zum Vergleich: Österreich feierte 2018 hundert Jahre Frauenstimmrecht. In Neuseeland war dies bereits 1993 der Fall.
Hier in der Schweiz feiern wir 2021 fünfzig Jahre Frauenstimmrecht; dank Frauen wie Emilie Gourd, Antoinette Quinche, Iris von Roten oder der ehemaligen SP-Ständerätin Emilie Lieberherr, die trotz der langjährigen Widerstände nicht locker liessen. Sie wollten die Frauen rechtlich den Männern gleichgestellt sehen – das war ihre Vision.
Nach und nach führten sie das Frauenstimmrecht auf kommunaler Ebenen ein und sie warfen den Bettel auch nicht hin, als die Schweizer Männer im Februar 1959 das Frauenstimmrecht ablehnten. Viel zu wichtig, viel zu grundsätzlich war dieses demokratische Anliegen der sogenannten ersten feministischen Welle, der Suffragetten und der Egalitätsfeminist*innen.
Eben jene Egalitätsfeminist*innen waren es auch, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgreich für die Ausweitung der Bildung auf Frauen und ein Recht auf Arbeit einsetzten. Frauen und Männer sollten in jeglichen Belangen Gleichstellung erfahren. Uns sollte jederzeit bewusst bleiben: Auf den Schultern dieser stolzen Gigant*innen baut unser heutiger Kampf.
Ebenso klar muss darauf bestanden werden, dass wir Feminist*innen heute weiter sind. Denn nicht selten wird im Zuge dieses Jubiläums von dem Feminismus gesprochen, um fälschlicherweise damit bloss die Gleichstellung zwischen zwei Geschlechtern zu beschreiben. In den Abhandlungen der Thematik wird damit oft ein essentieller Teil der heutigen feministischen Kämpfe sowie ihrer Geschichte ausgeklammert. Zeit, dass wir ein Augenmerk darauf legen und erkennen: Es gibt nicht den Feminismus, sondern verschiedene feministische Strömungen, genannt Feminismen. Gerade unser linker Feminismus hat sich enorm weiterentwickelt. Er ist inklusiver und differenzierter geworden. Anders als bei den Egalitätsfeminist*innen vor fünfzig Jahren und den liberalen Feminist*innen sind unsere Ziele radikaler, unsere Kämpfe viel­fältiger.
Wenn der Frauen*streik 2019 fordert «Lohn, Zeit, Respekt», dann wollen wir linken FINTs 1 keine Gleichstellung mit den ebenfalls durch den Kapitalismus und das Patriarchat ausgebeuteten cis-Männern. Wir möchten uns keinesfalls einfach an die Spitze hochkämpfen und Teil des kapitalistischen Systems werden. Wir wollen keine Chancengleichheit in diesem maroden System, das endliche Ressourcen und die Natur behandelt, als wäre es Mary Poppins magische Reisetasche. Wir wollen nicht möglichst viele FINTs in die Teppichetagen der Konzerne pushen. Das wäre eine weitere Form der Meritokratie und damit geben wir uns nicht (mehr) zufrieden. Wir wollen keinen inklusiven Anstrich für den patriarchalen Kapitalismus – wir wollen die feministische Revolution.
Das ist der Knackpunkt unserer Radikalität, wir denken feministisch bis am Schluss. Unser Feminismus bedeutet deshalb auch mehr als Gleichstellung. Nicht selten geht das im alltäglichen feministischen Diskurs unter und auch die hiesige Linke vergisst dies allzu oft. Feminismus zu Ende gedacht, bedeutet für die Freiheit jedes einzelnen Menschen dieser Erde zu kämpfen, Unterschiede wahrzunehmen und zu respektieren. Es bedeutet «jede*r nach seinen*ihren Bedürfnisse und Möglichkeiten» statt «jedem Chancengleichheit auf gleiche Ausbeutung in der kapitalistischen Lotterie des Lebens».
Der linke Feminismus zählt nicht bloss die (gut) bezahlte Arbeit als richtige Arbeit. Im Gegenteil: Wir definieren den Begriff der Arbeit neu und integrieren die unbezahlte Care-Arbeit wie Kinderbetreuung, Haushaltsunterhalt oder die Pflege der Grosseltern in unsere Überlegungen. Die Missachtung dieser unbezahlten aber geleisteten Arbeit führt auch dazu, dass die in der Schweiz wohnenden Frauen jährlich 100 Milliarden Franken weniger verdienen als Männer, wie die feministische Ökonomin Mascha Madörin berechnete. Und das obwohl sie gleich viele Arbeitsstunden leisten. Noch krasser ersichtlich wird dieser sogenannte Makroskandal, wenn man die unbezahlte Arbeit nach angemessenem Entgelt aufschlüsselt: Frauen leisten jährlich unbezahlte Arbeit im Wert von 248 Milliarden Franken. Das ist mehr Geld als der Bund, die Kantone und Gemeinden in einem regulären Jahr insgesamt ausgeben.2
Damit stellen wir die Basis der Wirtschaft dar, die aber im politischen sowie alltäglichen Leben unsichtbar bleibt. Dazu kommt, dass gerade typische Frauenberufe schlecht bezahlt werden und gleichzeitig die Arbeiter*innen hohem Druck ausgesetzt werden. Kinderbetreuer*innen und Grundschullehrer*innen sind beispielsweise jeweils für zu viele Kinder zuständig, als dass sie sich befriedigend um sie kümmern könnten. Pfleger*innen arbeiten im Akkord ohne Zeit für Zwischenmenschliches. Eine Situation, die sich während der Pandemie intensiviert hat. FINTs arbeiten am Limit.
Als Feminist*innen anerkennen wir, wer den Löw*innenanteil dieser Care-Arbeit in der Schweiz und global leistet. Eben nicht die Teppichetagen. Es sind die Mütter, die Pfleger*innen, die Kinderbetreuer*innen, die Putzkräfte, die Detailhandelsangestellten. Denkt man über die Landesgrenzen hinaus (und das muss man, wenn man einen konsequenten Feminismus vertreten möchte), dann sind es auch die Näher*innen, Fabrikarbeiter*innen und Feldarbeiter*innen im globalen Süden. Würden sie, würden wir alle nur eine Stunde streiken, die Welt würde im Chaos versinken. Umso krasser erscheint es doch nun, dass diese Arbeit grossmehrheitlich gratis oder mit miserabler Entlohnung sowie unter enormen Zeitdruck geleistet wird. Diese Arbeit muss (an)erkannt und respektiert werden. Sie braucht Zeit und sie muss mit öffentlichen Geldern gestützt
werden.
Unser Feminismus fordert ein gutes Leben für alle. Ein freies Leben. Wir FINTs müssen die Selbstbestimmung über unsere Körper, unsere Beziehungen, unsere Identitäten haben und das in jedem Lebensstadium und zu jeder Uhrzeit.
Wir sind keine Geburtsmaschinen für neue Arbeitskräfte des Kapitalismus, Abtreibungen müssen allen zugänglich sein und bleiben. Wenn wir aber Kinder wollen, dann muss sich die Wirtschafts an uns orientieren – und nicht wir uns an der Wirtschaft. Wir müssen nicht herkömmlichen Mustern wie Heteropartnerschaften, Ehen, Geschlechtern wie Mann und Frau folgen – wir können es, wenn wir wünschen. Wir müssen nicht Selbstverteidigungskurse besucht haben und Live­standorte an unsere Freund*innen schicken, damit sie wissen, dass wir nachts sicher nach Hause gekommen sind.
Wir sind divers; wir haben verschiedene Körperformen, Kulturen, Erfahrungen und Hautfarben. Wir haben verschiedene Bedürfnisse – ein Fakt der respektiert, ja gefeiert werden muss und sicher nicht unter den Teppich gekehrt werden soll.
Unser Feminismus bekämpft strukturelle Gewalt – auch in den eigenen Reihen. Das heisst, wir fordern Platz und Repräsentation für alle. Unsere Forderungen müssen gehört und als gleichwertig angesehen werden. Unser Kampf braucht Ressourcen und muss von allen solidarisch mitgetragen werden.
Unser linker Feminismus ist mehr als Gleichstellung. Er ist ein Analyseinstrument, eine politische Praxis und die Utopie einer demokratischen Wirtschaft, die sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen aller orientiert. Die Utopie einer Welt ohne Ausbeutung, Gewalt und Diskriminierung, die Freiheit für alle garantiert.
Kurz: Es ist die einzig denkbare Zukunft.

Fussnoten

1. Frauen, Intersexuelle, Non-Binäre, trans Menschen
2. Mascha Madörin 2019
Zu den Autor*innen: Tamara Funiciello ist Sozialistin und Feministin, Berner SP-Nationalrätin, Vorständin der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) und Co-Präsidentin der SP Frauen Schweiz. Mia Jenni ist Sozialistin und Feministin, Teil der Geschäftsleitung der JUSO Schweiz und SP-Einwohnerrätin in Obersiggenthal (AG).