Mit Ulrich Brand spricht Pascal Zwicky

Interview

Ulrich Brand: «Der Rechtsrutsch hat viele Ursachen»
25.11.2024   |   Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, ist seit vielen Jahren eine wichtige Stimme in der deutschsprachigen Debatte um die Möglichkeiten einer sozialen und ökologischen Gesellschaftstransformation. Dieses Jahr hat er zusammen mit Markus Wissen das Buch «Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven» publiziert. Im Denknetz-Interview stellt er die zentralen Gedanken des Buches vor. Das Gespräch führt Pascal Zwicky, wissenschaftlicher Sekretär von Denknetz.
Pascal Zwicky: 2017 ist das Buch «Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus» von dir und Markus Wissen erschienen. Ihr wurdet damit sogar zu «Spiegel Bestseller-Autoren». Was war ausschlaggebend dafür, dass ihr nun mit einem neuen Werk nachlegt?
Ulrich Brand: Im Buch von 2017 wollten wir, nach jahrelangen Vorarbeiten, den Begriff der «imperialen Lebensweise» – genauer: der «imperialen Produktions- und Lebensweise» – ausbuchstabieren. Dazu sind wir neben einer Skizze der historischen Entwicklungen seit Beginn des Kolonialismus auch auf aktuelle Debatten und Dynamiken eingegangen. Das Buch haben wir kurz nach der Pariser Klimakonferenz und der Verabschiedung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) im Jahr 2015 begonnen. Wir hatten den Eindruck, dass es zwar erhebliche Limitierungen einer «grünen Ökonomie» oder eines «grünen Wachstums» gibt, auf die wir auch hingewiesen haben. Dennoch, ein – in kritischer Terminologie – «Grüner Kapitalismus» schien durchaus denkbar. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen. Ein Grüner Kapitalismus ist mit vielen Ausschlüssen verbunden, er ist klassenbasiert im Norden, patriarchal und rassistisch; neokolonial im Nord-Süd-Verhältnis und er wird die ökologische und insbesondere die Klimakrise nicht effektiv bearbeiten. Aber wir dachten damals, dass die sozialen Kräfte der «grünen» Modernisierung mehr Rückenwind hätten und mehr erreichen könnten. Das wurde an steigenden Investitionen in erneuerbare Energien deutlich, an einem gewissen Legitimationsdruck auf das fossile Kapital. Unser Argument wurde durch die Bewegung für Klimagerechtigkeit ab 2018 und am Europäischen Grünen Deal der EU-Kommission ab Ende 2019 eher noch bestärkt. Damit hätten sich Einstiege in eine grundlegendere sozial-ökologische Transformation öffnen können.
Doch fünf Jahre später ist das anders. Die fossilen Kräfte sind im Aufwind, die Klimabewegung schwach, das Thema selbst ist trotz der zunehmenden desaströsen Auswirkungen des Klimawandels nicht ganz oben auf der politischen Agenda. In vielen Ländern gewinnen Parteien Wahlen mit einer explizit anti-ökologischen Agenda, wie jüngst in Österreich und trotz der verheerenden Überschwemmungen ein paar Wochen vor der Wahl. Auf der Ebene der Lebensweise gibt es wenig Bewusstsein, vor allem bei den Wohlhabenden – 2023 waren beispielsweise laut Internationaler Energieagentur 48 Prozent der globalen Auto-Neuzulassungen SUVs oder grösser. Weil dem so ist, haben wir das Buch «Kapitalismus am Limit» geschrieben. Wir wollten eine Zeitdiagnose angesichts der unübersichtlichen Gemengelage vornehmen.
Du hast den für eure Arbeit in den letzten Jahren wichtigen Begriff der «imperialen Lebensweise» kurz erwähnt. Was genau steckt dahinter, was meint ihr damit?
Mein Co-Autor Markus Wissen und ich wollen auf einer allgemeinen Ebene mit der «imperialen Lebensweise» genauer verstehen, warum der sozial-ökologische Umbau so schwierig ist. Warum ist unsere industrielle, fossilistische, kapitalistische Produktions- und Lebensweise gesellschaftlich so tief verankert? Wir haben nicht umsonst in der Krise von 2008 angefangen, den Begriff auszuarbeiten, weil wir uns damals als Wissenschaftler und politisch engagierte Menschen gefragt haben: Warum wird die Chance nicht ergriffen, das Ganze in die Hand genommene öffentliche Geld in der Krise, um die Wirtschaft zu stabilisieren, nicht für den notwendigen, weitreichenden sozial-ökologischen und international einigermassen gerechten Umbau zu nutzen, wenn doch die Probleme klar sind? Dass es etwas mit Profiten zu tun hat, mit Kapitalinteressen, mit staatlichen Politiken und den entsprechenden Machtverhältnissen ist vielen noch klar. Aber es hat eben auch etwas mit dem Arbeitsalltag und dem Lebensalltag von Menschen zu tun.
Das Imperiale, nicht das Imperialistische, ist das Ausgreifende auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Umwelt «andernorts». Dass Menschen in ihrem Konsumalltag, aber auch im Arbeitsalltag auf Güter zurückgreifen, die im Kapitalismus als Waren für Profite hergestellt werden – wenn sie essen, wenn sie sich bewegen, wenn sie kommunizieren über das Handy, wenn sie sich kleiden, wenn sie im Büro oder in der Fabrik arbeiten und Vorprodukte verwenden. Diese Waren sind in der Regel unter ökologisch und sozial schlechten Bedingungen produziert worden. Denken wir an Südchina und die dortige Handyproduktion, an die Sojaproduktion in Brasilien; wir sollten aber auch an Tönnies und die unter katastrophalen Bedingungen stattfindende Fleischproduktion in Deutschland und andernorts denken. Die Akzeptanz des Kapitalismus in der Gesellschaft hat auch etwas damit zu tun, dass es sich im Alltag der Menschen irgendwie leben lässt, und oftmals gar nicht nur schlecht. Die imperiale Lebensweise ist in gewisser Weise eine Erweiterung von Handlungsspielraum. Wenn ich das entsprechende Einkommen habe, kann ich mehr auf die Produkte des kapitalistischen (Welt-)Markts zurückgreifen. Wir betonen aber auch: Die imperiale Lebensweise, die auch eine Produktionsweise ist, hat viel mit Zwang zu tun, mit einem Mitmachen-Müssen, doch der wird oft nicht als solcher empfunden.
Bereits im Buchtitel wird ein wichtiger Teil eurer Analyse auf den Punkt gebracht: Ihr sagt, dass der Kapitalismus ans Limit, an seine Grenzen gekommen ist. Wenn ich mich etwas umschaue und etwa durch Zürich schlendere, kann ich ja aber auch zum Schluss kommen, dass der Kapitalismus trotz Krisen, die ja seit jeher zur kapitalistischen Entwicklung gehören, immer noch ein brummendes globales System ist. Inwiefern soll dieses System ans Limit gelangt sein?
Wir argumentieren nicht, dass der Kapitalismus in naher Zukunft zusammenbricht, sondern dass es durch die Vertiefung der Klimakrise zu drei neuen Entwicklungen kommt, die das System ans Limit bringen. Zum einen waren die dominanten wirtschaftlichen und politischen Kräfte historisch immer wieder in der Lage, dass sich der Kapitalismus erneuert, dass er wieder ein dynamisches Wachstums- und Akkumulationsmodell wird. Paradigmatisch steht hier die Krise des liberalen Finanzkapitalismus, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, ab 1929. Durch heftige Konflikte zwischen den Mächtigen und mit den Lohnabhänggen und ihren Gewerkschaften, durch den brutalen Faschismus und Weltkrieg hindurch, entwickelte sich ausgehend von den Zentren und insbesondere den USA eine neue kapitalistische Formation, die als «Fordismus» bezeichnet wird: eine dominante Rolle der Industrie, Massenproduktion, Massenkonsum, ein in die Wirtschaft intervenierender Wohlfahrtsstaat (wenn auch von Land zu Land sehr unterschiedlich). Das hat zu einer enormen Dynamisierung des Kapitalismus geführt. Der andere Umschlagpunkt war die Krise dieser Formation in den 1970er Jahren, die – ebenfalls durch heftige Konflikte hindurch – zu dem führte, was wir später als neoliberale Globalisierung bezeichneten und was wieder hohe Wachstums- und Profitraten ermöglichte. Unser Argument ist nun, dass es aufgrund der aktuellen sich vertiefenden Krise nicht mehr zu einer dynamischen und mehr oder weniger stabilen Konstellation kommt.
Das zweite Limit besteht darin, dass für den globalen Norden eine Selbstverständlichkeit verloren geht, die für die imperiale Lebensweise kennzeichnend war: Nämlich viele ihrer sozial und ökologisch negativen Voraussetzungen und Folgen zu externalisieren, dass sich die katastrophalen Bedingungen also «andernorts», im globalen Süden manifestieren. Auch hier kein Missverständnis: Die relativ gesehen besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen im globalen Norden wurden von den Lohnabhängigen hart erkämpft. Doch sie haben eben auch den genannten Effekt. Diese Externalisierung ist in vielen Bereichen immer weniger möglich. Der Klimawandel nimmt die Normalität, fossile Energieträger politisch folgenlos zu verbrennen. Obwohl es natürlich weiterhin geschieht, aber es wird zum Konfliktfeld. Und Länder des globalen Südens, allen voran China, wollen durch die dortige Ausbreitung der «imperialen Lebensweise» ebenfalls externalisieren, wollen an die billigen Rohstoffe in anderen Regionen.
Und drittens, das sehen wir gerade aufgrund der zunehmenden Dürren, Überschwemmungen und Stürme und ihrer enormen Folgekosten, nehmen die Reparaturkosten für die Auswirkungen der ökologischen und insbesondere der Klimakrise dramatisch zu. Es müssen also nur schon enorme Ressourcen aufgebracht werden, um den vorherigen Zustand wiederherzustellen: Infrastrukturen, Häuser etc. – das bringt keinen neuen Wohlstand, sondern im besten Fall wird es wie vorher. Das Versprechen des Kapitalismus von Fortschritt und steigendem Wohlstand – zumindest für viele – gerät damit an eine Grenze.
Diese drei Limits bringen uns in eine bislang unbekannte Situation.
Du hast den Neoliberalismus als letztes „Booster-Programm“ für den Kapitalismus erwähnt. Er war tatsächlich jahrzehntelang das hegemoniale Projekt, das die Welt, von den grossen politökonomischen Zusammenhängen bis hin zu unserem Denken und Fühlen, massgeblich geprägt hat. Nun scheint das neoliberale Zeitalter langsam aber sicher zu Ende zu gehen. Als Nachfolger steht der Grüne Kapitalismus in den Startlöchern, es gibt starke Kräfte, die darauf hinsteuern. Wie ordnet ihr diese Veränderungen ein?
Zunächst lautet unsere Diagnose, dass in der Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 einige neoliberale Dogmen aufgegeben wurden. Jene der immer weiter fortschreitenden Globalisierung etwa, wobei ja ein Indikator dieser Globalisierung war, dass der Welthandel rascher wuchs als die globale Produktion. Das hat sich umgekehrt. Beides wächst, doch der Handel eben relativ gesehen geringer, was auf eine Rückverlagerung einiger Produktionsschritte an die Endproduktions- und Konsumorte hindeutet. Ein anderer Indikator sind die wachsenden industriepolitischen Interventionen des Staates, etwa in der High-Tech-Branche. Das hat viel mit der neuen geopolitischen Konkurrenz durch China zu tun. Nicht der Markt richtet den technologischen Fortschritt, sondern Verflechtungen von Staat und Kapital.
Doch es gibt auch neoliberale Kontinuitäten. Die Kapitalseite bleibt gegenüber den Gewerkschaften stark, die Individualisierung und damit einhergehend geringe politische Organisierungsbereitschaft von Menschen ist weiterhin dominant. Im Rohstoffsektor bleiben die Globalisierungstendenzen und damit die rücksichtslose Ausbeutung vieler Länder des globalen Südens bestehen.
Den Grünen Kapitalismus bezeichnen wir als Projekt herrschender politischer und wirtschaftlicher Kräfte, die einerseits die ökologische und Klimakrise ernst nehmen und anderseits die kapitalistische Wachstumsdynamik wieder anfeuern wollen. Das soll natürlich unter ihrer Kontrolle laufen. Deshalb bezeichnen wir das mit Antonio Gramsci als «passive Revolution». Dieses Projekt setzt nun an der genannten ambivalenten «post-neoliberalen» Konstellation an, es ist Teil von Geo- und damit Industriepolitik, wird durch den aktuellen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eher zurückgeworfen. Stichwort Fracking-Gas aus den USA. Doch der Grüne Kapitalismus setzt auch an den neoliberalen Kontinuitäten an. Vermeintlich «grüne» Betriebe wie Tesla sind offen gewerkschaftsfeindlich.
Wir erleben gegenwärtig einen veritablen Rechtsrutsch in zahlreichen Ländern, jüngst in den USA, aber auch in Deutschland und Österreich. Die liberale Demokratie gerät massiv unter Druck, autoritäre und teils schon faschistische Kräfte und Politiken erhalten breit abgestützten Support, werden «normalisiert». Finden sich im Buch von Markus und dir auch Erklärungen dafür?
Der Rechtsrutsch hat viele Ursachen, die teilweise auch länderspezifisch zu sehen sind. In Italien, Österreich und Frankreich etwa gibt es seit vielen Jahren rechts-autoritäre Kräfte, die nun offen faschistischer werden. In Deutschland ist es ein jüngeres Phänomen. Der Aufstieg hat mit der Krise der repräsentativen Demokratie zu tun, dass viele Menschen sich nicht mehr vertreten fühlen und es «denen da oben» mal zeigen wollen. Zumindest am Wahltag, (noch) weniger als breite gesellschaftliche Mobilisierung. Doch es finden durchaus Tendenzen der Faschisierung statt, wenn wir darunter eine breite Mobilisierung verstehen. Die ist weniger auf der Strasse, sondern in den und durch die sozialen Medien. Der jüngste Wahlsieg von Donald Trump hat auch damit zu tun. Die autoritäre Rechte hat frühzeitig verstanden, die sozialen Medien als Echokammern zu nutzen und darin eine Form der politischen Kommunikation zu entwickeln, in denen offensichtlich für viele Menschen eigene Realitäten entstehen; in denen Lügen und Falschmeldungen nicht als solche erkannt werden bzw. auch nicht relevant sind. Das alles wird ja breit diskutiert.
In unserem Buch betonen wir zwei Aspekte. Das vorhin angesprochene Projekt eines Grünen Kapitalismus ist zum einen höchst ungleich, weil es auf dem Rücken vieler Beschäftigter und sozial Schwächerer realisiert werden soll. Der anstehende Umbau schafft Verunsicherung – und Unmut. Die Politiken der grünen Modernisierung etwa durch das Auslaufen des Verbrenner-Autos oder ein teurer Heizungstausch werden von vielen Menschen als sozial ungerecht empfunden – als eine Art ökologischer Austerität. Die Wohlhabenden können sich einen – oder zwei – Tesla leisten und die ganz Reichen müssen nicht auf Privatflüge und Yachten verzichten. In diese Konstellation geht die autoritäre Rechte mit ihrem zumeist anti-ökologischen politischen Angebot. Thematisiert werden der unsoziale ökologische Umbau, es werden aber auch die Klimakrise selbst geleugnet oder zumindest seine negativen Folgen heruntergespielt. Donald Trump feiert den Verbrennungsmotor und verweist darauf, dass früher alles besser war. Auch wenn er von Tesla-Chef Elon Musk wesentlich unterstützt wird.
Ein zweiter Aspekt kann als Verteidigung der «Petro-Maskulinität» bezeichnet werden. Der Begriff wurde von Cara Daggett geprägt und will anzeigen, dass Männlichkeit ganz wesentlich mit dem fossilen Kapitalismus verbunden ist: Grosse Autos sind hier emblematisch. Auch da gerät was im Projekt des Grünen Kapitalismus ins Wanken und auch her verspricht die autoritäre Rechte, die guten alten Zeiten und damit einhergehenden Geschlechterverhältnisse zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Die «klassische Familie» mit entsprechender geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung wird gefeiert. Auch das wird nun mit Trump gruselige Formen annehmen.
Eine weitere sehr besorgniserregende Entwicklung sind die kriegerischen Auseinandersetzungen, die vielerorts aufflammen. In der Ukraine, im Nahen Osten, im Sudan. Wie passen diese schrecklichen Konflikte in das von euch gezeichnete Bild?
Unsere Analyseperspektive ist zuvorderst eine polit-ökonomische und polit-ökologische, und wir betonen die damit einhergehenden strukturellen Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse. Das betrifft die klassenförmigen, patriarchalen und rassifizierenden Verhältnisse in unseren Gesellschaften und mehr noch auf globaler Ebene. Doch wir versuchen auch die manifeste Gewalt als Kriege zu begreifen. Dafür schlagen wir den Begriff der «öko-imperialen Spannungen» vor. Indem, wie gesagt, der Zugriff des Metropolen-Kapitalismus auf ein «Aussen» zunehmend unverfügbarer und umkämpfter wird, nehmen Spannungen zu: Bei Rohstoffen, bei Emissionsrechten, aufgrund der Infragestellung der westlichen Vorherrschaft und anderem. Damit nimmt auch die Gefahr von kriegerischen Auseinandersetzungen zu. Man könnte sagen, dass sich das russische Regime und seine fossile Basis nicht nur eine fossile Weltwirtschaft erhalten möchte, siehe BRICS-Staaten, die allesamt fossile Grossmächte sind. Sondern es möchte sich durch einen Krieg auch ein «Aussen» einverleiben.
Was können die progressiven Kräfte, die Linke, tun? Der Soziologe Simon Schaupp von der Uni Basel hat dieses Jahr das Buch «Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten» publiziert. Seine These: Weil die Arbeit quasi der Ort des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur ist, muss eine sozialökologische Transformation notwendigerweise und zentral eine Transformation der Arbeitswelt beinhalten. Den Schlüssel sieht er in der Überwindung der expansiven Nutzbarmachung – was einer kapitalistischen Logik natürlich diametral widerspricht. Rohstoffe müssten im Boden, Landschaften geschützt werden. Aber auch potenzielle Arbeitskraft, Arbeitsressourcen, sollten ungenutzt bleiben. Erwerbsarbeitszeitreduktion ist ein Stichwort dazu. Wie siehst du das?
Das Buch von Simon Schaupp ist vorzüglich, theoretisch, aber auch mit der eingängigen Darstellung vieler historischen Entwicklungen etwa zur Produktion und Verwendung von Beton, zum Automobilsektor, zu Fleischfabriken oder dem Stellenwert der Reproduktionsarbeit. Ein wichtiger Beitrag zur Debatte, auch politisch – und zudem sehr gut geschrieben. Er betont die Leiblichkeit von Arbeit, seinen Eigensinn bzw. Autonomie und die kleinen und grossen Widerstände, wie auch von Natur. Das ist eine interessante Perspektivverschiebung, denn das «arbeitsbezogene Umweltwissen», wie Schaupp das nennt, ist schon wichtig, wenn wir emanzipatorische Veränderungen voranbringen wollen. Er hinterfragt indirekt auch die vermeintliche Allzuständigkeit der Gewerkschaften, wenn es um sozial-ökologischen Umbau und die Rolle der Beschäftigten geht. Es sollte viel stärker auf die Erfahrungen, das Wissen und die Wünsche der arbeitenden Menschen selbst – in der formellen Ökonomie und ausserhalb – geachtet werden. Die Idee der Nutzlosigkeit mit den Beispielen, die du in deiner Frage nennst, als Beitrag zur Transformation finde ich überzeugend. Ich würde mehr nach den bestehenden Erfahrungen diesbezüglich sowie nach Politiken und kollektiven Akteur*innen fragen, die das vorantreiben können. Da kommen dann auch die Gewerkschaften als orientierende Instanzen für die Beschäftigten und als politische Player in den Blick. Aber das ist kein Widerspruch.
Eine kleine Irritation will ich erwähnen, weil sie mich nachdenklich macht. Interessant ist, dass ein jüngerer und kluger Wissenschaftler wie Simon Schaupp sich auf Marx, Horkheimer und Adorno bezieht, die Weiterentwicklung des Öko-Marxismus, im deutschsprachigen Raum etwa durch Elmar Altvater, oder der Kritischen Theorie im Bereich der Naturverhältnisse, vor allem durch Christoph Görg, nicht rezipiert. Aber das nur am Rande.
Ein weiterer Soziologe, Ingolfur Blühdorn, argumentiert in seinem neuen Buch «Unhaltbarkeit: Auf dem Weg in eine andere Moderne», dass die Rahmenbedingungen für eine sozialökologische Transformation gar nicht mehr gegeben seien. Sie seien quasi wegemanzipiert worden: Das moderne Individuum sei nicht mehr bereit, wirkliche Einbussen bei der eigenen Autonomie und Freiheit zugunsten eines sozialen und ökologischen Wandels in Kauf zu nehmen. Es fehle das progressive politische Subjekt für eine gesellschaftliche Transformation, einen System Change. Plädoyers dafür würden ins Leere laufen, ja sogar noch weiter zum Siegeszug der Rechten beitragen, die mit Slogans wie «Take back control» zu den neuen Fackelträgern der Freiheit geworden seien. Was antwortest du ihm?
Wir gehen in unserem Buch ausführlich auf den Ansatz der «nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit» von Ingolfur Blühdorn ein. Er macht schon einen Punkt, dass es viele Täuschungen und Aufgeregtheiten in der Nachhaltigkeitsdebatte gibt, die nicht an den Kern der Probleme ranwollen; in unserer Sprache: an die imperiale Produktions- und Lebensweise. Das Festhalten an Wachstum (eben «grün») und einer individualistisch verstandenen Freiheit ist ja wirklich ein Problem, in seinen Worten, das ist unhaltbar.
Doch er verbleibt in einer systemtheoretischen Perspektive und bezieht sich stark auf die Modernisierungstheorie von Ulrich Beck, mit dem er sich stark auseinandersetzt. Daher auch der Untertitel seines neuen Buches. Es sind nicht der Kapitalismus, die damit verbundenen Interessen, Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, sondern eben eine sich immer weiter entwickelnde Moderne, die bei ihm seit einigen Jahrzehnen angeblich «post-industriell» ist.
Dabei wird viel vereinheitlicht. Es ist etwa von «den Subjekten» die Rede, unterschieden werden allenfalls die «Mehrfachprivilegierten» und die weniger Privilegierten (bei Blühdorn der «entzivilisierte Pöbel»), wobei Letztere dann gleich den Rechtspopulisten auf den Leim gehen. Eine wahre Obsession hat Blühdorn mit dem, was er das «öko-emanzipatorische Projekt» nennt, also einer historischen Bewegung seit den 1970er Jahren, um Umweltschutz und sozial-ökologischen Umbau voranzutreiben. Vielleicht meint er die damalige breite Alternativbewegung und er spricht immerzu vom «Wir», auch wenn das ja nur Teile der Gesellschaft waren. Diese Menschen von damals hätten jeden Veränderungswillen aufgegeben, sondern würden sich heute eher von der Verantwortung emanzipieren, um weiter in Saus und Braus zu leben. Da ist sicherlich auch was dran, aber in der Verallgemeinerung ist es falsch. Vor allem aber wirkt es so, als wenn diese Milieus Schuld am Zustand der Welt seien und nicht die Macht und Profitinteressen des fossilen Kapitals oder die im Staat verdichteten Interessen. Emanzipation heisst aus linker Perspektive ja zuvorderst Herrschaftskritik. Doch Blühdorn fragt nicht nach Herrschaft, sondern die Moderne ist halt, was sie ist.
Die Analyse bleibt völlig desinteressiert an aktuellen sozialen Kämpfen, Widersprüchen, Kontingenzen. Die jüngsten Klimaproteste sind bei ihm ein Abziehbild. Und als Gegenfrage: Wer ist denn das «moderne Individuum», wenn wir an Geflüchtete, Menschen in prekarisierten Beschäftigungsverhältnissen denken? Oder an junge Menschen, die minimalistisch leben wollen? Das sind keine Mehrheiten, aber interessante kulturelle Entwicklungen, die stärker berücksichtigt werden sollten.
Aber solche Analysen, wie die von Blühdorn, werden vom bürgerlichen Feuilleton goutiert. Klar, man muss nicht über Reichtum und Ungleichheit, Macht und Ausbeutung sprechen.
Man könnte es zuspitzen: Während sich der Soziologe Schaupp sehr ausdrücklich für die Produktions- und Arbeitswelt interessiert und damit viel in den Blick bekommt, kommen diese Themen bei Blühdorn nicht vor, nicht umsonst spricht er von «westlichen Konsumgesellschaften». Damit bleibt sein Blick sehr begrenzt und auch etwas abgehoben.
In eurem Buch kommt ihr im letzten Kapitel auf «solidarische Perspektiven» zu sprechen. Kannst du uns am Schluss etwas zu den politischen Projekten sagen, die es deiner Ansicht nach zu verfolgen gilt? Und welche gesellschaftlichen Akteure siehst du als hoffnungsvolle Träger des benötigten sozialökologischen Wandels?
Aus der sich verschärfenden sozial-ökologischen Krisendynamik heraus gibt es keinen Masterplan. Sondern sehr viele Ansatzpunkte der Politisierung von Problemen, Krisen, Machtverhältnissen – also das Aufbrechen ihrer vermeintlichen Naturwüchsigkeit. Dazu wollen wir mit dem Buch beitragen. Wir wollen also nicht «erst mal die Analyse und dann am Ende auch noch ein paar Alternativen», sondern unsere und anderen Analysen von herrschaftlichen, konfliktiven und kontingenten Dynamiken sind Teil der Suche nach Alternativen. Doch diese entstehen natürlich vor allem ganz praktisch, sind meist nicht von sozialwissenschaftlichen Analysen informiert. Deshalb skizzieren wir die beiden Projekte der anti-ökologischen autoritären Politiken einerseits und des Grünen Kapitalismus andererseits als Terrain, auf dem sich grundlegende Alternativen bewegen. Und auch die oben erwähnten öko-imperialen Spannungen sind eine zunehmend wichtige Kontextbedingung.
Unser Ansatz der «solidarischen Perspektiven» ist gespeist von der Perspektive eines «radikalen Reformismus» oder – in den Worten von Rosa Luxemburg – «revolutionärer Realpolitik». Die Initiativen und Kämpfe heute für bessere Lebensbedingungen für die Vielen und gegen die Klimakrise müssen in einen Horizont grundlegender Veränderungen gestellt werden.
Wir plädieren gerade in diesen Zeiten autoritärer Tendenzen für eine Demokratisierung der politischen, aber auch der wirtschaftlichen Verhältnisse. Wer trifft die Investitionsentscheidungen mit Folgen für 40, 50 Jahre? Wer verfügt über Vermögen und Eigentum an Produktionsmitteln? Da setzen wir an Protesten gegen die Förderung der Braunkohle in Lützerath oder an der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen in Berlin an. Wir argumentieren, dass ein weitreichender ökologischer Umbau die innergesellschaftliche und globale Ungleichheitsproblematik angehen muss. Da sind wir bei Stichworten wie «solidarische Begrenzungen», «solidarische Resilienz» oder Reparationen für historisches Unrecht. Das führen wir im neuen Buch aus. Auch den Solidaritätsbegriff selbst schärfen wir. Und ganz am Ende entwickeln wir die Idee von «transformativen Zellen», dass es nämlich neben transformativen sozialen Bewegungen, Politiken und Unternehmensleitungen auch in den Organisationen selbst progressiver Gruppen bedarf, die wirklich was anderes wollen: in Parteien, Betrieben, Gewerkschaften, Schulen, Hochschulen, Kirchen, NGOs und vielen anderen.