Editorial
Editorial der Herausgeber*innen des Denknetz-Jahrbuches 2021 zum Thema „Postwachstum? Aktuelle Auseinandersetzungen um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel“. Von Luzian Franzini, Roland Herzog, Simon Rutz, Franziska Ryser, Kathrin Ziltener, Pascal Zwicky.
Postwachstum. Das mag nach Monaten der coronabedingten Einschränkungen, des weltweit erzwungenen Zurückfahrens des sozialen und wirtschaftlichen Lebens, zunächst als keine wirklich erstrebenswerte Perspektive erscheinen. «Die Wirtschaft», aber nicht nur sie, drängt auf eine möglichst rasche Rückkehr zur «Normalität». Es gibt das verständliche Bedürfnis, wieder zu reisen, Leute zu treffen, in Restaurants zu gehen, in Läden zu shoppen. Allerdings ist die «Normalität», die sich viele von uns zurücksehnen, zweifelsohne eine Normalität, die mit Postwachstum wenig zu tun hat. Ganz im Gegenteil: Sie ist eine althergebrachte Normalität, die auf der unendlichen Akkumulation von Kapital und materiell-stofflichem Wachstum beruht.
Und gleichzeitig ist da die umfassende Herausforderung einer ökologischen und sozialen Vielfachkrise, mit der sich die Menschheit konfrontiert sieht. Der Klimawandel stellt die existenzielle Zuspitzung dieser Krise dar. Die Unwetter, die 2021 in weiten Teilen Europas gewütet haben, oder extreme Hitzewellen, die selbst in Kanada zu Temperaturen von fast 50 Grad führten, sind Wetterereignisse, mit denen in einer sich erwärmenden Welt zunehmend gerechnet werden muss. Die Klimakrise lässt uns, wie die Corona-Pandemie auch, die Verwundbarkeit menschlichen Lebens ganz konkret erfahren. Ist Postwachstum vor diesem Hintergrund eine schiere Notwendigkeit, um das (menschliche) Leben auf dem Planeten Erde zu bewahren?
Sicher ist, dass mit der Postwachstumsdebatte grundlegende, schwierige und umstrittene Fragen verknüpft sind. Auf einige davon wollen wir in der Folge kurz eingehen. Ein Überblick über die in diesem Band versammelten Artikel schliesst das Editorial ab.

Wachstum und Kapitalismus

Der Homo sapiens, das einzige Lebewesen, das die Möglichkeit besitzt, die Welt auf derart umfassende Weise zu organisieren und umzugestalten, hat diese Fähigkeit in den letzten paar Hundert Jahren eindrücklich unter Beweis gestellt. In einem kapitalistisch-wachstumsgetriebenen Organisationsmodus (vgl. Moore 2020) wurden in dieser welthistorisch gesehen so kurzen Zeitspanne ganze Landschaften umgepflügt, entlegenste Gegenden erschlossen, Mega-Cities gebaut, ein internationales Handelsnetz und industrieller Massenkonsum etabliert und militärisch abgesichert, Rohstoffe und Menschen in bislang unbekanntem Ausmass skrupellos ausgebeutet sowie zeitgleich der Hunger in den kapitalistischen Zentren besiegt, die Lebenserwartung und Gesundheit unzähliger Menschen gesteigert, die Kultur zu einer nie gekannten Blüte gebracht. Mit diesen widersprüchlichen Entwicklungen und Potenzialen gilt es umzugehen.
In manchen ökologischen Debatten steht der Konsum im Fokus der Kritik. Postwachstum bedeutet dann primär: «weniger davon». Eine adäquate Analyse begreift die gegenwärtigen Wachstumsgesellschaften allerdings als kapitalistisch strukturierte Gesellschaften. Im Kapitalismus wird hergestellt, was mit Gewinn verkauft werden kann. Nur wenn eine Ware konsumiert wird, wirft sie auch Profit ab: Konsum- und Profitinteressen gehören also zusammen. Wenn Postwachstum «weniger von allem» bedeutet, stellt das, so Birgit Mahnkopf (2021), «sowohl für die Kapitaleigner*innen als auch für die Konsument*innen eine Bedrohung dar. Wir haben es also mit einer problematischen Liaison zwischen den Profiteur*innen dieser Gesellschaftsformation und denjenigen zu tun, die eigentlich ein Interesse an Veränderungen haben müssten.»
Diese Problematik haben Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) mit ihrem Konzept der «imperialen Lebensweise» in differenzierter Weise thematisiert. Dieser massgeblich auf Konsum, auf wachstumstreibenden Aktivitäten und dem Besitz sowie der Nutzung von Produkten und Dienstleistungen basierenden Lebensweise ist ein Klassencharakter eingeschrieben. Sie erlaubt es – zumindest im globalen Norden – aber selbst Menschen aus unteren Schichten, über Konsum am materiellen Wohlstand teilzuhaben und darüber auch einen gewissen sozialen Status – und als «Singularität» (Andreas Reckwitz) Geltung – zu erlangen. Städtereisen, Ferien auf den Malediven, eine Gucci-Tasche oder der geleaste Sportwagen sind nur einige Beispiele dafür.1 Wachstum schafft in den realexistierenden Demokratien des globalen Nordens auch die Handlungsspielräume für Umverteilung und soziale Sicherheit. Auch wenn dieser zwischen Kapital und Arbeit ausgehandelte Kompromiss aus der Nachkriegszeit seit einigen Jahrzehnten unter Druck steht, bleibt er nach wie vor wirkmächtig und erlaubt in Ländern wie der Schweiz einem Grossteil der Bevölkerung ein – im globalen Kontext gesehen – privilegiertes, in finanziell-materieller Hinsicht «gutes» Leben.
Waren, materielle Güter ebenso wie Dienstleistungen, die konsumiert werden sollen, müssen zuerst produziert werden. Mit der Produktion gerät die Arbeit in den Blick. Die kapitalistische Wachstumsgesellschaft ist auch eine (Lohn-)Arbeitsgesellschaft. Diese Lohnarbeit mag einen ausbeutenden Charakter haben – teils ausgeprägter, teils weniger –, sie ermöglicht einem grossen Teil der Bevölkerung faktisch aber auch vielfältige gesellschaftliche Teilhabe. Postwachstum muss konkrete Antworten darauf geben, wie dies auch zukünftig der Fall sein kann. Die sozial-ökologische Transformation der Arbeitsverhältnisse, wobei es zwingend auch die immense Bedeutung unbezahlter (Care-)Arbeit zu berücksichtigen gilt, gehört zu den wichtigsten Bestandteilen einer Postwachstumsstrategie.

Postwachstum als Alternative?

Das kapitalistische Entwicklungsmodell wird nicht nur (aber nach wie vor auch) durch Zwang und Gewalt, durch Ausbeutung und Enteignung, sondern vor allem auch ideologisch abgesichert. Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, meinte der Kulturkritiker Mark Fisher einmal. Das trifft wohl auch dann zu, wenn man Kapitalismus durch Wachstum ersetzt. Am Veränderungsdruck, daran, dass es – heute wohl mehr denn je – ein neues, alternatives Entwicklungs- und Gesellschaftsmodell braucht, ändert das allerdings nichts. Postwachstum (hier als Synonym zum englischen Begriff Degrowth verwendet) ist ein etwas vages, allerdings klar normatives Konzept, in dem sich die Kritik am gesellschaftlichen Status quo mit Visionen einer alternativen Gesellschaftsformation jenseits der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft verbindet (vgl. für eine fundierte Übersicht Schmelzer/Vetter 2019).
Eine Postwachstumsperspektive ist deshalb nötig, weil die oft bemühte und erhoffte absolute Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch bis heute ein Wunschtraum geblieben ist. Deshalb, weil es nicht realistisch und verantwortungsbewusst ist, auf die Entdeckung neuer Energieträger zu setzen oder auf unberechenbare Geoengineering-Projekte (vgl. Mann 2021) und die Besiedlung von Mond und Mars zu vertrauen. Und auch deshalb, weil simple Marktanreize (Stichwort Emissionshandel), auf die der bürgerliche Mainstream schwört, um den Verbrauch von ökologisch schädlichen Rohstoffen zu reduzieren, nicht ausreichen. Die ETH-Klimaforscherin Sonia Seneviratne, die am neuesten Bericht des Weltklimarates, der die Dringlichkeit eines System Change nochmals unterlegt, mitgearbeitet hat, bringt es im Interview mit dem Tages-Anzeiger auf den Punkt: «Wer nach wie vor die Idee hat, man könne weiterhin die CO2-Emissionen so langsam wie bisher reduzieren und dann auf technologische Hilfe hoffen, ist auf dem falschen Weg» (Seneviratne 2021).
Je mehr die Zeit für einen sozial-ökologischen Wandel drängt, desto drängender wird auch die Frage, wie ein solcher Wandel zustande kommt resp. durchgesetzt werden kann. In welchem Ausmass muss ökologieschädliches Verhalten etwa durch staatliche Verbote unterbunden werden? Wie passen Verbote zu Demokratie und Freiheit? Und wie lässt sich generell verhindern, dass die Grösse und Dringlichkeit der Herausforderung nicht zu einer autoritär-technokratischen Umformung der Demokratie(n) führt und Postwachstum zum Top-down-Verdikt wird?
Postwachstum spricht teilweise Leute und Bewegungen an, die lieber auf individuelle Verantwortung und konkrete Verhaltensänderungen (Stichworte Verzicht oder Suffizienz) abzielen, als die ihrer Ansicht nach abstrakten gesellschaftlichen Verhältnisse und die Politik in den Blick zu nehmen. Postwachstum kann aber im besten Fall auch eine Verbindung zwischen strukturellen und individuumszentrierten Ansätzen herstellen und damit eine gemeinsame Debatte und gemeinsames Handeln ermöglichen.
Der fossile Kapitalismus hat spezifische Herrschaftsverhältnisse ausgebildet, die heute die notwendigen Veränderungen bremsen oder gar zu verhindern drohen. Auch eine nachhaltige(re) Gesellschaft wird den Umgang mit Energieverbrauch und Machtansprüchen regeln müssen. Die politische Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass diese zukunftsfähige Gesellschaftsformation auf erneuerbaren Energien beruht und auf möglichst demokratische und stärker dezentrale Weise reguliert wird. Von besonderer Bedeutung scheint dabei die Solarenergie zu sein (vgl. Greffrath 2021). Solarenergie ist die verfügbare, saubere und erneuerbare Energie schlechthin. Postwachstum im Sinne einer sozial-ökologischen Gesellschaftstransformation müsste somit auf einen raschen und massiven Ausbau einer globalen solaren Infrastruktur abzielen. Die solare Gesellschaft wäre technologisch möglich – ist sie es auch politisch?
Der Blick auf die Klimaerhitzung, den Verlust der Biodiversität oder die Vermüllung der Weltmeere zwingt uns die globale Sichtweise als einzig angemessene Perspektive auf. CO2- und andere Emissionen aus fossilen Energieträgern foutieren sich um nationale Grenzen und tragen ortsunabhängig zur Klimaerwärmung bei. Die hoch entwickelten Länder (historisch im globalen Norden, zunehmend auch in Asien) sind die primären Treiber der Klimaerwärmung, während Länder bzw. Menschen im globalen Süden bereits heute überdurchschnittlich stark unter den Folgen dieser klimatischen Veränderungen zu leiden haben.2 Und im globalen Massstab zeigt sich auch die vielfältige und wechselseitige Verbundenheit des menschlichen und nicht-menschlichen Lebens deutlich. Wir haben es mit eng verknüpften Netzwerken des Lebens zu tun, denen wir im gegenwärtigen, kapitalistisch geprägten Entwicklungsmodus nicht gerecht werden (vgl. Scheidler 2021). Aus all diesen Gründen bedarf es einer grundlegenden Transformation des gesellschaftlichen Status quo – der Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie der Art und Weise, wie wir arbeiten, zusammenleben und unsere Mobilität organisieren.
Die Debatte um Postwachstum lässt sich als ein Suchprozess verstehen, wie ein ökologisch nachhaltiges, gutes und solidarisches Leben jenseits der Konkurrenz, jenseits der imperialen, konsumistischen Lebensweise aussehen könnte. Auch dieser Suchprozess hat einen globalen Charakter, er findet im weltweiten aktivistischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Austausch statt und umfasst auch die reichhaltigen Erfahrungen naturverbundener Kulturen, in denen bis heute teils in ganz anderen sozio-ökologischen Beziehungsweisen gelebt wird.
Zusammengefasst erachten wir die Postwachstumsdebatte dann als hilfreich, wenn Wachstum als kapitalistisches Wachstum erkannt und der Klassencharakter der Wachstumsgesellschaft mitgedacht werden; wenn sie nach nicht nur ökologisch, sondern auch sozial gerechten und nachhaltigen Transformationsstrategien sucht; wenn sie konsequent globale Zusammenhänge in den Blick nimmt; wenn sie Arbeit neu denkt und dabei der Care-Arbeit ihren verdienten Stellenwert einräumt; wenn sie die individuelle Ebene des Verhaltens mit den gesellschaftlichen Strukturen zusammenbringt; wenn sie sich mit der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe beschäftigt; und schliesslich, wenn sie zu neuen Beziehungsweisen zwischen uns Menschen und der nicht-menschlichen Natur beiträgt.
«Ein gutes und nachhaltiges Leben für alle» – das ist das Ziel der links-progressiven Bewegung(en). Es liegt an uns allen, dafür zu sorgen, dass die nötige sozial-ökologische Transformation gelingt. Eine offen und seriös geführte Postwachstumsdebatte kann einen Beitrag dazu leisten. Deshalb sind wir als Herausgeber*innen der Ansicht, dass das vorliegende Denknetz-Jahrbuch die Diskussionen bereichert und es angesichts der Notwendigkeit einer neuen, grundlegend anderen «Normalität» zu einem guten Zeitpunkt erscheint.

Übersicht zu den Beiträgen im Buch

Die in diesem Jahrbuch versammelten Beiträge zeigen die Reichhaltigkeit der Postwachstumsdebatte auf, beleuchten verschiedene Aspekte genauer und ermöglichen neue – theoretische wie praxisnahe – Perspektiven auf gesellschaftliche Alternativen.
Irmi Seidl und Angelika Zahrnt machen den Auftakt zum vorliegenden Sammelband. Sie zeichnen die Geschichte der Wachstumskritik nach und geben einen Überblick über die verschiedenen Ansätze der Postwachstumsdebatte.
Fabian Scheidler blickt weit zurück. Er sieht in der Entstehung einer modernen «Megamaschine» vor rund 500 Jahren in Europa die Wurzel der heutigen sozial-ökologischen Vielfachkrise. Scheidler beschreibt in seinem Beitrag die Expansion dieses wachstumsgetriebenen Systems, das heute an seine Grenzen gelangt. Ihm zufolge bewegt sich die Welt in eine chaotische Übergangszeit hinein. Die progressiven Kräfte seien gefordert, sich gezielt darauf vorzubereiten.
Grundlegende Fragen werden auch im Artikel von Frank Adloff behandelt. Er kritisiert den instrumentellen Blick auf die Natur und die strikte Trennung von (nicht-menschlicher) Natur und (menschlicher) Kultur, wie sie in der Moderne zum dominanten Paradigma wurde. Die Herausforderung besteht für Adloff darin, das Verhältnis von Kultur und Natur als Gabenbeziehung zu verstehen und sich damit zu beschäftigen, wie eine solche Beziehung unter modernen Bedingungen wiederhergestellt werden könnte.
Einen anderen Analysefokus haben Johanna Herrigel und Anja Peter. Sie betrachten feministische Überlegungen als Basis der Degrowth-Bewegung und -Debatte. Sie argumentieren zudem, dass die Sorge- und Versorgungsarbeit zwingend in zukunftsgerichtete wirtschaftstheoretische und politische Perspektiven integriert werden müssen. Nur so könnten Fragen nach Wohlstand, Nachhaltigkeit und nicht zuletzt Geschlechtergerechtigkeit beantwortet werden.
Klaus Dörre diagnostiziert eine im Anthropozän begründete ökonomisch-ökologische Zangenkrise. Diese erweise sich als eine epochale Zäsur, welche die vorherrschenden Gesellschafts-Natur-Beziehungen grundlegend infrage stelle. Als Kompass für eine klimagerechte Gesellschaft, die ökologische und soziale Nachhaltigkeit gleichermassen gewichtet, dient Dörre das Konzept eines vielfältigen und offenen, eines partizipativen Sozialismus.
Niko Paech nimmt in seinem Artikel die «besinnungslose Fortschrittsgläubigkeit» ins Visier. Als Folge einer unreflektierten Ausrichtung an Wachstum und Technisierung habe die menschliche Zivilisation innerhalb von wenigen Jahrzehnten ihre Überlebensfähigkeit eingebüsst. Doch Paech macht auch Hoffnung: Suffizient lebende Minderheiten könnten durch die Schaffung von «reduktiven Gegenkulturen» auf informellem Weg zum Wandel beitragen.
In ihrem zweiten Beitrag für das Denknetz-Jahrbuch 2021 skizzieren Irmi Seidel und Angelika Zahrnt die Kennzeichen einer Postwachstumgesellschaft. Sie fordern, dass keine Politik der Wachstumsabhängigkeit mehr stattfindet, wachstumsabhängige Bereiche umgebaut werden, sodass sie ohne ständiges Wachstum ihre Funktionen erfüllen, und dass der Ressourcenverbrauch innerhalb der planetaren Grenzen bleibt.
Ulrich Brand begreift Postwachstum als facettenreiche Kritik des kapitalistischen Wachstumsimperativs und als eine zunehmend wichtige analytische und politisch-strategische Perspektive. Er sieht Postwachstum als einen relevanten Bestandteil emanzipatorischer, sozial-ökologischer Transformationen. Brand erörtert in seinem Artikel, welche Implikationen die Postwachstumsperspektive auf die Interessen von Beschäftigten und Gewerkschaften hat. Entscheidend für radikale Transformationen seien breite und konfliktfähige Bündnisse.
Roland Herzog und Hans Schäppi fassen Wirtschaftswachstum als strukturellen Zwang im Kapitalismus auf. Kapitalismus umfasse aber weit mehr als die Ökonomie. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse würden durch dieses Weltsystem bestimmt und eine Weltökologie sei dadurch entstanden. Zur notwendigen Überwindung dieses Systems müssen sich, so Herzog und Schäppi, die globalen emanzipatorischen Kräfte bündeln. Den Schwerpunkt auf die Wachstumsfrage zu legen erachten sie konzeptuell und strategisch als allzu limitiert.
Kritische Standpunkte zu Wachstumskritik und den Entwürfen einer Postwachstumsgesellschafft entwickelt Michael Graff in seinem Beitrag. Ergänzend dazu fragt sich Basil Oberholzer, wie es möglich sein soll, die Wachstumsmotoren unter Kontrolle zu bringen. Seine Folgerung: Es gibt kein vorgegebenes Drehbuch für den Übergang in eine Postwachstumsökonomie. Oberholzer geht davon aus, dass jeder Schritt mit unvorhersehbaren Effekten verbunden ist.
Wie blicken Akteure aus der Gewerkschaftsbewegung und der Politik auf die Postwachstumsdebatte? Welchen strategischen Umgang mit diesem wissenschaftlich und aktivistisch geprägten Konzept wählen sie?
Hans-Jürgen Urban von der IG Metall plädiert gegen Degrowth-Bestrebungen und für eine sozial-ökologische Transformation: Die Wirtschaft solle wachsen dürfen, wo sie wachsen müsse, und dort auf Wachstum verzichten, wo es die Gesellschaft spalte und die Natur überfordere. Für diese Transformation seien Markteingriffe, demokratische Kontrolle sowie ein erweitertes Wohlfahrtsverständnis vonnöten.
Hans Hartmann setzt sich eingehend mit der Frage auseinander, auf welche Widersprüche Gewerkschaften in der Postwachstumsdebatte stossen. Die linken Akteur*innen müssten es schaffen, die Ausbeutungslogik des Kapitals – gegenüber der Natur und der Arbeitskraft – präziser zu kritisieren und die Antworten auf Nachhaltigkeits- und Umverteilungsfragen zu einem ökosozialen Klassenbewusstsein zu verbinden.
Die Parteipräsident*innen Mattea Meyer (SP Schweiz) und Balthasar Glättli (Grüne Schweiz) unterziehen das Postwachstumskonzept im Gespräch einem (real-)politischen Eignungstest. Sie sprechen unter anderem über Lehren aus dem Nein zum CO2-Gesetz, über individuelle Verantwortung und die internationale Dimension der Klimagerechtigkeit. Beide betrachten die Stärkung der öffentlichen Infrastrukturen und des Service public als zentralen Pfeiler einer nachhaltigen Entwicklung.
In den Beiträgen am Ende des Buches werden einzelne Themenbereiche einer sozial-ökologischen Transformation ausführlicher behandelt.
Andrea Vetter hinterfragt die allseits beliebte Lösung der «technischen Innovation» in Bezug auf die Klimakrise. Die Herausforderung besteht ihr zufolge darin, von einer imperialen zu einer konvivialen Technik zu kommen – einer Technik also, die im umfassenden Sinne für alle Wesen lebensfreundlich ist.
Anton Borokow-Loga beschäftigt sich mit der Postwachstumsstadt. Aus einer Postwachstumsperspektive erscheint es ihm sinnvoll, durch die Politisierung der Städte als Mittelpunkte des individuellen wie kollektiven (Er-)Lebens umfassende Transformationsprozesse in Gang zu setzen, die nichts weniger als das gute Leben für alle zum Ziel haben.
Silas Hobi beschäftigt sich in seinem Text mit den Problemen des vorherrschenden Mobilitätsregimes und als Alternativen zum motorisierten Individualverkehr. Er plädiert für eine konsequente Verlagerung auf den Fuss- und Veloverkehr sowie auf die öffentlichen Verkehrsmittel, um die Klima- und Energieproblematik zu lösen.
Ursina Eichenberger und Tex Tschurtschenthaler zeigen in ihrem Beitrag auf, wie eine zukunftsfähige Landwirtschaft jenseits des Wachstumszwangs funktionieren kann. Ein Modell für eine solche Alternative sehen sie in der solidarischen Landwirtschaft (Solawi), die auf den Prinzipien Partizipation, Kontinuität und Verbindlichkeit sowie dem Betriebsbeitrag basiert. Die Gemüsekooperative «ortoloco» wird von den Autor*innen als Praxisbeispiel beschrieben.
Der abschliessende Beitrag behandelt das Thema Demokratie. Ihre «Krisentauglichkeit» wird gerade vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Klimakatastrophe zusehends infrage gestellt. Pascal Zwicky weist in seinem Artikel auf Konstruktionsfehler der liberalen Demokratie hin und ordnet die wichtigsten Positionen der gegenwärtigen Debatte ein. Er kommt zum Schluss, dass sich ein gesellschaftlicher Wandel hin zu nachhaltigen, gerechten und solidarischen Lebensweisen nur demokratisch gestalten lässt.
Wir wünschen Ihnen, liebe Leser*innen, eine interessante Lektüre und die eine oder andere neue Erkenntnis. Über Ihre Reaktionen (an: info@denknetz.ch) freuen wir uns!

Anmerkungen

1. In diesem Kontext lassen sich auch sozialpsychologische Fragen nach den Beweggründen, die hinter individuellem Konsum stehen, aufwerfen. Wie verbinden sich gesellschaftliche Strukturen (der kapitalistische Alltag) mit individuellem Konsumverhalten? Was sind «wirkliche Bedürfnisse», was zumindest «legitime» – und wer entscheidet das? Wann hat Konsum primär kompensatorischen Charakter und was soll damit kompensiert werden?
2. Allerdings wird auch zunehmend deutlich, dass bereits heute keine Region der Erde mehr vor den Folgen der Klimaerwärmung sicher ist. Die Klimakrise gefährdet die Sicherheit von uns allen; vgl. Klein 2021.

Literatur

Brand, U./Wissen, M. (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München.
Greffrath, M. (2021): Follow the Science, Follow the Law! Die Klimakrise und die Zukunft des Staates, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2021, S. 61–68.
Klein, N. (2021): Unser Sommer des Feuers und der Fluten. Die Klimakatastrophe und das Ende unserer Sicherheitsillusion, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2021, S. 79–84.
Mahnkopf, B. (2021): «Wir brauchen eine gesteuerte Sparsamkeit», in: WOZ, Nr. 28–30, S. 25.
Mann, M. E. (2021): Propheten der Untätigkeit. Die Propaganda von der technischen Beherrschbarkeit der Klimakrise, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2021, S. 47–60.
Moore, J. W. (2020): Kapitalismus im Lebensnetz. Ökologie und die Akkumulation des Kapitals, Berlin.
Scheidler, F. (2021): Der Stoff aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen, München.
Schmelzer, M./Vetter, A. (2019): Degrowth/Postwachstum zur Einführung, Hamburg.
Seneviratne, S. (2021): «Wer auf technologische Hilfe hofft, ist auf dem falschen Weg», in: Tages-Anzeiger, 9.8.2021